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"Chodorkowskij hat keine Gesetze verletzt"

Lesedauer: 6 Minuten
Jurij Schmidt bei der Preisverleihung des Petra-Kelly-Preises am 12. Mai 2006 in Berlin.

19. Mai 2004
Von Jurij Schmidt, Anwalt
Übersetzung von Jens Siegert

Viele Bobachter in Russland und im Ausland haben überzeugend und unzweifelhaft die politischen Motive im „Fall Chodorkowskij nachgewiesen. Die Anwälte des Angeklagten haben mehr als einmal öffentlich erklärt, dass die Umstände seiner Inhaftierung ungesetzmäßig waren, und sie haben auf eine ganze Reihe grober prozessualer Fehler hingewiesen, die die Entscheidung begleitet haben, ihn zu verhaften und während der Untersuchung in Haft zu behalten. Bisher ist aber einem breiteren Publikum die Meinung Chodorkowskijs selbst über die Anklagepunkte unbekannt und auch die Meinung seiner Verteidiger, für wie überzeugend sie die Argumente der Anklage halten.

Chodorkowskij bekennt sich in keinem der 11 Anklagepunkte, die sich auf sieben Strafrechtsparagraphen beziehen, für schuldig. Die vorgelegten Beweise unterstreichen in den meisten Fällen nur die Tatsache, dass bestimmte Ereignisse, die die Anklage als strafrechtlich relevante Handlungen wertet, tatsächlich stattgefunden haben (und das bestreitet auch der Beschuldigte selbst nicht). Allerdings sind diese Handlungen strafrechtlich irrelevant. Das ist die Überzeugung der Verteidigung, nachdem sie die Anschuldigungen tiefgehend und allumfassend geprüft hat. Natürlich können hier nicht alle Argumente angeführt werden, aber unsere Position soll kurz dargestellt werden.

Als Ausgangspunkt der „verbrecherischen Tätigkeit" wird das Jahr 1994 genannt. In eben diesem und dem darauffolgenden Jahr 1995 sollen der Vorsitzende des Direktionsrats der Kommerzbank „Menatep" Chodorkowskij, der Präsident dieser Bank Lebedew und andere Mitglieder einer „organisierten Gruppe" nach Meinung der Untersuchungsorgane die schwersten ihrer Verbrechen begangen haben: Sie hätten sich in betrügerischer Absicht Aktien der Firmen OAO „Apatit" und AO „NIUIF" (Wissenschaftliches Forschungsinstitut für Dünger und Insekto-Fungizide) angeeignet.

Schon die Tatsache, dass die Strafsache so lange nach den „verbrecherischen Handlungen" eröffnet worden ist, unterstreicht den ausgedachten und künstlichen Charakter der Anklage in diesen Punkten. Der Kauf eines großen Aktienpakets wurde im übrigen schon auf seine Gesetzmäßigkeit hin überprüft. Die Erfüllung der beim Kauf eingegangen Verpflichtungen wurde von staatlichen Kontrollorganen und auch der Staatsanwaltschaft aufmerksam verfolgt. Der Kaufpreis für die Aktien wurde vollständig und rechtzeitig gezahlt, Beanstandungen gab es hierzu keine. Probleme sind im Zusammenhang mit zusätzlichen Vertragsbestimmungen aufgetaucht. Diese sahen vor, dass die Käufer eine bestimmte Summe Geldes in die Prouktionsentwicklung investieren sollten. Dass das nicht geschehen ist, wird von der Anklage unbegründeterweise als Schwindel, soll heißen, als „Aneignung" fremden Eigentums auf dem Weg des Betrugs, gewertet.

Ob nun die Käufer ganz oder teilweise und aus welchen Gründen ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt haben, ist nicht so wichtig. Ebenso ist es unwichtig, ob die die Aktien kaufende Firma eine „Scheinfirma" war oder nicht. Wichtig ist, dass die Bank „Menatep", die den Kauf mit ihren Garantien abgesichert hat, eine reale Struktur ist, der gegenüber alle Beanstandungen hätten vorgebracht werden können, also auch die Nichteinhaltung der übernommenen Verpflichtungen. Das Gesetz sieht eine ganze Reihe von Maßnahmen vor, die in solchen Fällen ergriffen werden können, bis hin zur Vetragsauflösung. Alle diese Fragen konnten und wurden im Rahmen von zivilrechtlichen Verfahren erfolgreich entschieden, solange nicht das Kommando kam, radikal mit Chodorkowskij „aufzuräumen". Mit ihrem Strafverfahren versucht die Generalstaatsanwaltschaft die Zahl der Anklagepunkte möglichst groß zu machen, unter anderem, indem sie diese Vermögensstreitigkeiten aus der zivilrechtlichen in die strafrechtliche Sphäre überträgt.

Die zweite schwere Anschuldigung besteht darin, dass der Gewinn der OAO „Apatit" dadurch geschmälert worden sein soll, dass die Produktion des Kombinats zu erniedrigten Preisen an Zwischenhändler verkauft wurde. Doch erstens wurde diese kaufmännische Entscheidung von der Aktiengesellschaft bewusst getroffen und hat sich als vollständig gerechtfertigt erwiesen: Die den Zwischenhändlern angebotenen Preise ermöglichten es, alle Schulden zurück zu zahlen und die Firma erfolgreich weiterzuentwickeln, etwas, dass bis 1994 nicht gelungen war, als die Produktion sank und die Verschuldung katastrophal anstieg. Und zweitens ist der Absatz der Produktion durch Zwischenhändler eine übliche Praxis, die für alle Beteiligten gewinnbringend ist. Der Zwischenhändler verdient am Weiterverkauf zu einem höheren Preis, gleichzeitig entbindet er aber den Produzenten von allen Risiken und Ausgaben, die mit dem Weiterverkauf verbunden sind. Wiederholte Wirtschaftsprüfungen haben die Berechtigung dieser Vorgehensweise bestätigt.

Die dritte Anklage hängt damit zusammen, dass die „Geschlossene Administrative Einheit" Stadt Lesnoje einer Reihe von Unternehmen, die von Chodorkowskij kontrolliert wurden, Steuererleichterungen gewährte und dass zur Begleichung der Steuerschuld Wechsel benutzt wurden.

Die eigene Steuerschuld innerhalb der geltenden Gesetzgebung zu minimieren ist eine normale wirtschaftliche Praxis. Es ist nicht schwierig nachzuweisen, dass die Steuererleichterungen den Firmen in voller Übereinstimmung mit den damals bestehenden Gesetzen gewährt wurden. Die Form der Begleichung der Steuerschuld geschah mit Einwilligung der zuständigen Steuerbehörden und unter völliger staatlicher Kontrolle. In Übereinstimmung mit Paragraph 199 der Strafgesetzbuches der Russischen Föderation kann man strafrechtlich für Steuerhinterziehung zur Verantwortung gezogen werden, wenn man keine Steuererklärung abgibt oder wenn die Steuererklärung bewusst falsche Angaben enthält. Doch selbst laut der Chodorkowskij präsentierten Anklage war weder das eine noch das andere der Fall. Und auch im Fall, dass die bereitgestellten Steuererleichterungen gesetzwidrig waren, müssten Beanstandungen nicht an den Steuerzahler sondern an die staatlichen Behörden gerichtet werden. Und die Frage, ob nicht gezahlte Steuern nachgefordert werden können, wäre eine ausschließlich zivilrechtliche.

Was die Bezahlung der Steuern in Form von Wechseln anbelangt, so entspricht sie vollständig der geltenden Gesetzgebung. Ihre Rechtmäßigkeit wird auch durch die aktuelle Rechtsprechung bestätigt. Wechsel sind normale Finanzinstrumente, die für Staatsetatzwecke in gleicher Weise wie Geld benutzt werden können. Niemand hat den Steuerbehörden die Wechsel anstelle von Geld gewaltsam aufgezwungen. Die Stadt Lesnoje hätte diese Form der Bezahlung ablehnen können, aber sie waren ihr recht, weil sie bei Vorlage zuzüglich Zinsen unverzüglich ausbezahlt wurden. Es ist völlig unverständlich, warum die Staatsanwaltschaft sich auch in diesem Fall an den Steuerzahler wendet und nicht an die staatliche Behörde, die sich mit dieser Form der Zahlung einverstanden erklärt hat.

Vielleicht der spektakulärste Teil der Anklage ist der Vorwurf gegen Chodorkowskij, Einkommenssteuern hinterzogen zu haben, indem er sich bei der Steuerbehörde als Privatunternehmer registrieren ließ, der Firmen konsultiert. Diese Form der Registrierung sieht eine vereinfachte Steuerveranlagung vor. Die Staatsanwaltschaft behauptet nun, Chodorkowskij sei in Wirklichkeit nicht unternehmerisch tätig gewesen, habe keine Dienstleistungen erbracht und seine Registrierung als Unternehmer sei ungesetzmäßig. Sie versucht die Chodorkowskij von den Firmen „JuKOS" und „Rosprom" gezahlten Summen als Gehalt darzustellen, Beweise für diese Behauptung finden sich in der Anklageschrift aber nicht. Hinzu kommt, dass dieses Schema lange Zeit angewandt wurde und die Steuerbehörden offensichtlich diese Form der vereinfachten Steuerzahlungen überprüft und anerkannt haben, was wiederum eine Schuld des Steuerzahlers ausschließt.

Andere, weniger bedeutende Anklagepunkte auch nur schnell zu streifen ist in einem so kurzen Aufsatz nicht möglich. Auch sehe ich wenig Sinn darin, all die bekannten Argumente zu wiederholen, warum der Fall Chodorkowskij offensichtlich politisch motiviert ist. Ich möchte nur hinzufügen, dass sich der politische Charakter des Falls auch aus den ausgedachten Anklagepunkten und der ganz offenbar ungesetzlichen Untersuchungshaft ergibt.

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