Der russische Liberalismus ist in einer Krise, daran besteht heute kein Zweifel. Wenn mir jemand noch vor einem Jahr gesagt hätte, SPS und Jabloko würden die Fünfprozent-Hürde nicht schaffen, hätte ich ernsthaft an den analytischen und prognostischen Fähigkeiten des Sprechers gezweifelt. Jetzt ist das Scheitern von SPS und Jabloko Realität.
Zur Präsidentenwahl hatten die Liberalen offiziell zwei Kandidaten nominiert. Der eine, der ehemalige Agrarkommunist Iwan Rybkin, hat uns neben einem eingängigen politischen Wahlkampf eine derart billige Farce dargeboten, dass sich selbst Oleg Malyschkin, Vertreter der LDPR und Fachmann für die persönliche Sicherheit Schirinowskis, geschämt hätte. Die andere Kandidatin, Irina Chakamada, distanzierte sich wo sie nur konnte von ihrer liberalen Vergangenheit, kritisierte Boris Jelzin und forderte einen sozial ausgerichteten Staat. Und sie bezeichnete anschließend, ohne rot zu werden – und wohl auch ohne Grund – ihre 3,84% der Wählerstimmen als großen Erfolg.
Diejenigen Politiker und Experten, die noch im vergangenen Sommer, kurz nach der Verhaftung meines Freundes und Geschäftspartners Platon Lebedew eine autoritäre Bedrohung und die Missachtung des Gesetzes und der bürgerlichen Freiheiten ausgemacht hatten, überholen sich jetzt gegenseitig mit honigsüßen Komplimenten an die Adresse der Kreml-Beamten. Von dem liberalen Aufruhr ist nicht das Geringste mehr zu sehen. Es gibt natürlich Ausnahmen, doch die bestätigen lediglich die Regel.
Wir beobachten heute praktisch die Kapitulation der Liberalen. Und diese Kapitulation ist nicht nur die Schuld der Liberalen, sondern auch ihr Unglück. Die Angst vor einer Tausendjährigen Geschichte, schmackhaft gemacht durch den im Anfang der neunziger verwurzelten machtvollen Hang zu einem opulenten Lebensstil. Die genetisch verankerte Servilität. Die Bereitschaft, die Verfassung für eine zusätzliche Portion Kaviar auch mal zu vergessen. Das waren die russischen Liberalen und so sind sie auch geblieben.
„Meinungsfreiheit“, „Gedankenfreiheit“, „Gewissensfreiheit“ sind Begriffe, die sich zielstrebig zu parasitären Kunstworten verwandeln. Nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Mehrheit derer, die gewöhnlich als Elite betrachtet werden, winken ermattet ab: Alles klar, es geht nur um den nächsten Konflikt der Oligarchen mit dem Präsidenten.
Niemand weiß so recht, wie es nach dem Fiasko bei den Wahlen im Dezember mit der Union der Rechten Kräfte (SPS) weiter gehen soll, und im Grunde interessiert es auch niemanden. Das „Komitee 2008“, das beschlossen hat, das Gewissen des russischen Liberalismus zu spielen, demonstriert bereitwillig seine eigene Hilflosigkeit und verkündet, sich fast schon entschuldigend: „Es sieht so aus, als seien wir nicht ganz so viele, als kämen wir immer zu spät. Verlassen sollte man sich auf nichts, aber trotzdem...“ Die Idee einer neuen Partei „Freies Russland“, die Chakamada angeblich aus dem Scherbenhaufen von Jabloko und SPS gründen wollte, ist in der Gesellschaft auf keinerlei wesentliches Interesse gestoßen. Sie ist einzig eine Spekulation einiger Dutzend professioneller Parteigründer, die wieder einmal leicht zu erringende persönliche Gewinne wittern.
Währenddessen gedeihen auf dem politischen Boden Russlands die Verfechter eines neuen Diskurses, der Ideologie der sogenannten „Partei der Nationalen Revanche“ (PNR). Die „PNR“ wird sowohl durch den gesichtslosen Luftbeutel Jedinaja Rossija, als auch durch die aus lauter Überlegenheit gegenüber ihren erfolglosen Konkurrenten abgewetzte Rodina, als auch durch die LDPR repräsentiert, deren Führer wieder einmal seine außergewöhnliche politische Vitalität bewiesen hat. Alle diese Leute sprechen, selten aufrichtig und eher verlogen sowie auf Bestellung, doch nicht weniger überzeugend vom Scheitern liberaler Ideen und davon, dass in Russland Freiheit einfach nicht gebraucht wird. Freiheit ist in ihren Augen das fünfte Rad am Wagen der nationalen Entwicklung. Und wer von Freiheit redet, ist entweder ein Oligarch oder ein Schwein (was im Großen und Ganzen auf dasselbe hinausläuft).
Vor diesem Hintergrund wirkt Putin schon wie ein Spitzenliberaler. Denn was er sagt ist er hundertmal besser als das was Rogosin oder Schirinowski von sich geben. Und so kommt man ins Grübeln: Stimmt. Putin ist wohl kein Liberaler und auch kein Demokrat, doch er ist immer noch liberaler und demokratischer als 70% der Bevölkerung. Und niemand anderes als Putin hat, indem er die gesamte antiliberale Energie dieser Mehrheit aufgefangen hat, unseren nationalistischen Dämonen Zügel angelegt und es verhindert, dass Rogosin oder Schirinowski bzw. nicht sie, die sie lediglich talentierte politische Akteure sind, sondern die vielzähligen Anhänger ihrer Auftritte, in Russland die Macht übernehmen. Tschubais und Jawlinskij waren per definitionem nicht dazu fähig, dieser „nationalen Revanche“ die Stirn zu bieten. Sie hätten nur abwarten können, bis die Apologeten solcher Werte wie „Russland den Russen“ sie aus dem Land geworfen hätten, wie das in unserer Geschichte ja einige Male vorgekommen ist.
So sieht es aus. Und trotzdem kann der Liberalismus in Russland nicht sterben - weil der Durst nach Freiheit einer der wichtigsten Instinkte des Menschen ist, sei er nun Russe, Chinese oder Lappe. Es stimmt, dieses süße Wort Freiheit ist mehrdeutig. Doch der Geist, der in ihm steckt ist unausrottbar. Es ist der Geist Prometheus‘, der den Menschen das Feuer gab. Der Geist Jesu Christi, der wie einer sprach, der das Recht dazu hat, und nicht in der Art der Gelehrten und Pharisäer.
Die Krise des russischen Liberalismus liegt also nicht in den Idealen der Freiheit begründet, wie auch immer er verstanden wird. Es liegt nämlich, wie der letzte Ministerpräsident der UdSSR, Valentin Pawlow, zu sagen pflegte, nicht am System, sondern an den Menschen. Diejenigen, die durch das Schicksal und die Geschichte zu Verteidigern der liberalen Werte in unserem Land geworden sind, haben versagt. Wir müssen das heute in aller Offenheit eingestehen. Weil die Zeit der der Schläue vorbei ist. Das ist von hier, aus der Zelle des Moskauer Untersuchungsgefängnisses Nr. 4, in dem ich mich gerade befinde, deutlich zu sehen, vielleicht sogar ein wenig deutlicher, als aus anderen, komfortableren Räumen.
SPS und Jabloko haben die Wahlen keineswegs deshalb verloren, weil sie vom Kreml diskriminiert wurden, sondern allein deshalb, weil die Präsidentenverwaltung ihnen zum ersten Mal nicht geholfen, sondern genauso wie die anderen Oppositionskräfte behandelt hat. Und auch Irina Chakamada hat ihre 3,84% nicht gegen die staatliche Verwaltungsmaschine erhalten, von der sie schlicht nicht bemerkt wurde, sondern vor allem, weil der Kreml inbrünstig daran interessiert war, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Die Großunternehmer, die in der Umgangssprache als Oligarchen bezeichnet werde (ein zweifelhafter Begriff, doch dazu komme ich später) sind nicht von der Bühne verschwunden, weil in Russland plötzlich die Korruption aufblühte, sondern allein, weil die üblichen Lobbymechanismen nicht mehr funktionierten. Denn diese waren auf einen schwachen Präsidenten und die ehemalige Kremladministration ausgerichtet. Punkt.
Sozial aktive Leute mit liberalen Anschauungen, zu denen ich mich Sünder auch zähle, trugen die Verantwortung dafür, dass Russland nicht den Weg der Freiheit verlässt. Und in Abwandlung der berühmten Worte Stalins von Ende Juni 1941 sage ich: Wir haben unsere Sache versch.... Jetzt werden wir unsere tragischen Fehler analysieren und unsere Schuld eingestehen müssen, die moralische wie auch die historische. Nur so können wir einen Ausweg aus der Situation finden.
Mit der Lüge über dem Abgrund
Der russische Liberalismus hat eine Niederlage erlitten, weil er versucht hat, sowohl wichtige nationale und historische Besonderheiten Russlands, als auch die lebenswichtigen Interessen der überwiegenden Mehrheit des russischen Volks zu ignorieren - und, weil er tödliche Angst hatte, die Wahrheit zu sagen.
Ich möchte nicht behaupten, dass es das Ziel von Tschubais, Gajdar und ihren Gesinnungsgenossen war, Russland zu täuschen. Viele Liberale der ersten Jelzinschen Generation waren aufrichtig von der historischen Richtigkeit des Liberalismus überzeugt, und davon, dass eine „liberale Revolution“ in diesem ausgelaugten Land, das die Schönheiten der Freiheit nicht kannte, notwendig sei. Doch bei eben dieser Revolution gingen die Liberalen, nachdem sie plötzlich an die Macht gekommen waren, überaus oberflächlich, ja geradezu leichtfertig vor. Sie dachten dabei nur an die Arbeits- und Lebensbedingungen jener 10% der Russen, die zu einschneidenden Veränderungen ihres Lebens bei einer Absage an staatlichen Paternalismus bereit waren. Die übrigen 90% wurden dabei vergessen. Und das tragische Scheitern ihrer Politik wurde bei vielen Anlässen mit Täuschungen bemäntelt.
Die Liberalen täuschten 90% der Bevölkerung, als sie großzügig versprachen, dass man sich für einen Privatisierungsgutschein zwei Autos werde kaufen können. Ein unternehmender Finanzjongleur mit Zugang zu entsprechenden Hintergrundinformationen und den Fähigkeiten, diese entsprechend zu analysieren, konnte sich für einen Privatisierungs-Scheck sogar zehn Autos kaufen. Doch versprochen worden war es allen!
Die Liberalen verschlossen die Augen vor der russischen Wirklichkeit, als sie mit einem Federstrich die Privatisierung durchführten, deren negative sozialen Folgen dabei ignorierten und die Reform affektiert als schmerzlos, ehrlich und gerecht bezeichneten. Was das Volk heute über diese „große“ Privatisierung denkt, ist allseits bekannt.
Die Liberalen verschwendeten keinen Gedanken an die katastrophalen Folgen für die Sparguthaben der Bevölkerung. Dabei wäre das Problem dieser Guthaben doch ganz einfach zu lösen gewesen, mit Hilfe von Staatsobligationen, die zum Beispiel durch eine Kapitalzuwachssteuer hätten gedeckt werden können. Oder mit Hilfe von Aktien von Aktienpaketen der nun privatisierten besten Unternehmen des Landes. Doch die Liberalen wollten hierfür nicht ihre kostbare Zeit opfern. Sie waren zu faul, hierfür ihre grauen Zellen in Gang zu setzen.
In den neunziger Jahren hat sich niemand mit einer Bildungsreform, einer Gesundheitsreform oder einer Reform des Wohnungswesens beschäftigt. Oder mit einer gezielten Unterstützung der sozial Schwachen und Armen. Also mit Fragen, von deren Lösung das Wohlergehen einer riesigen Mehrheit unserer Landsleute abhing und weiter abhängt.
Soziale Stabilität und sozialer Frieden, die Grundlage einer jeden langfristigen Reform sein müssen, die die Lebensgrundlagen unserer Nation berührt, wurden von den russischen Liberalen außer Acht gelassen. Sie haben zwischen sich und der Bevölkerung einen Abgrund geschaffen. Einen Abgrund, in den sie mit ihrem Informations- und Verwaltungsapparat ihre rosigen liberalen Vorstellungen von der Realität sowie die Energie ihrer manipulativen Öffentlichkeitsarbeit pumpten. Gerade in den neunziger Jahren kam die Vorstellung von der Allmacht gewisser Politstrategen auf, jener Leute, die es angeblich vermögen, das Fehlen realer Politik in bestimmten Bereichen durch ausgeklügelte virtuelle Einwegprodukte zu kompensieren.
Bereits die Ackerei der Wahlkämpfe 1995 und 1996 hatte gezeigt, dass die Russen ihren liberalen Herrschern den Rücken gekehrt hatten. Als einer der wichtigen Sponsoren des Jelzinschen Wahlkampfes von 1996 erinnere mich sehr genau, welch wahrlich übermenschliche Anstrengungen von Nöten waren, das Volk dazu zu bringen, „mit dem Herzen“ abzustimmen.
Und was dachten die liberalen Top-Manager des Landes, als es hieß, der wirtschaftliche Zusammenbruch vom September 1998 sei unausweichlich? Es gab nämlich einen Ausweg: eine Abwertung des Rubels. Im Februar 1998 und sogar noch im Juni wäre man mit einer Abwertung von 5 auf 10-12 Rubel pro Dollar davongekommen. Viele meiner Kollegen und auch ich traten für diese Variante zur Verhinderung der drohenden Finanzkrise ein. Doch haben wir damals, obwohl wir die nötigen Einflussmöglichkeiten in der Hand hatten, unsere Position nicht durchgesetzt und teilen daher die moralischen Verantwortung für diese Krise mit der damaligen verantwortungslosen und unfähigen Regierung.
Die liberalen Führer bezeichneten sich selbst als Opfer und Märtyrer und ihre Regierungen als „Kamikaze-Kabinette“. Anfänglich mag das noch gestimmt haben. Doch gegen Mitte der neunziger Jahre umgab man sich zu sehr mit Mercedes-Autos, Datschen, Villen, Nachtklubs und goldenen Kreditkarten. Die stoischen Verfechter des Liberalismus, die für den Triumph ihrer Ideale zu sterben bereit waren, wurden von einer dekadenten Boheme abgelöst, die gar nicht erst versuchte, ihre Gleichgültigkeit gegenüber der russischen Bevölkerung, dem Volk ohne Stimme zu verbergen. Dieses Bild der Boheme, verfeinert durch deren demonstrativen Zynismus, hat überaus viel zur Diskreditierung des Liberalismus in Russland beigetragen.
Die Liberalen haben die Unwahrheit gesagt, als sie verkündeten dass es dem russischem Volk immer besser gehen werde. Weil sie selbst nicht wussten und verstanden und auch, muss ich hinzufügen, gar nicht verstehen wollten, wie die Mehrheit wirklich lebt. Jetzt kommt man – wie ich hoffe beschämt - nicht umhin, genau zuzuhören und es ernst zu nehmen.
Selbst in Bezug auf die verkündeten Werte des Liberalismus waren seine Verfechter in Russland oft genug unaufrichtig und inkonsequent. So redeten die Liberalen zwar von Meinungsfreiheit, taten jedoch alles Erdenkliche, um den Medienbereich finanziell und administrativ unter ihre Kontrolle zu bringen und diese magische Sphäre für eigene Zwecke zu nutzen. Dieses Vorgehen wurde oft mit der „kommunistischen Bedrohung“ begründet, zu deren Abwehr alles erlaubt sei. Davon jedoch, dass die „rot-braune Pest“ nur in dem Maße eine Bedrohung ist, wie die liberale Regierung ihr Volk und dessen wahre Probleme vernachlässigt, wurde mit keinem Wort gesprochen.
Die Nachrichtenkanäle wurden mit Reden über die „diversifizierte Ökonomie der Zukunft“ überflutet. In Wahrheit begann Russland jedoch, an der Rohstoff-Nadel zu hängen. Es ist unstrittig, dass die tiefgehende Krise der Industrie eine direkte Folge des Zusammenbruchs der UdSSR und des durch die Inflation bedingten drastischen Einbruchs der Investitionen war. Es war aber die Pflicht der Liberalen, auch dieses Problem in Angriff zu nehmen. Und zwar unter anderem durch die Einbeziehung starker, fähiger Vertreter des linken Flügels in die Regierung. Man zog es jedoch vor, das Problem zu übergehen. Muss man sich da noch wundern, dass die Millionen zählende wissenschaftlich-technische Intelligenz, die am Ende der achtziger Jahre noch treibende Kraft der sowjetischen Befreiungsbewegung war, jetzt die LDPR und Rodina wählt?
Ohne auf Einwände zu hören haben die Liberalen immer gesagt, dass man mit dem russischen Volk umspringen kann, wie es einem beliebt. Und, dass „in diesem Land“ alles von den Eliten entschieden wird und das Volk nicht nachzudenken braucht. Das Volk werde der Regierung jeden Schwachsinn, jede Unverschämtheit, jede Lüge wie ein Geschenk des Himmels abkaufen. Daher wurden die Überlegungen „wir brauchen eine Sozialpolitik“ „es muss gerechter geteilt werden“ usw. verworfen, abgelehnt oder mit einem Lächeln abgetan.
Jetzt ist die Stunde der Buße gekommen. Bei den Wahlen 2003 hat die Bevölkerung mit Bestimmtheit und ohne Sentimentalität „Lebe wohl!“ gesagt. Selbst die Jugend, von der wir dachten, ja überzeugt waren, dass sie die Ideen von SPS zutiefst angenommen hat und ganz hinter Tschubais steht, wählte Rodina und LDPR.
Das war eine schallende Ohrfeige über jenen Abgrund hinweg, der die mächtigen Liberalen vom Rest des Landes trennt.
Und wo sind in jener Zeit die Großunternehmer gewesen? In unmittelbarer Nähe der liberalen Herrscher. Wir halfen ihnen bei ihren Fehlern und Lügen.
Wir waren von der Regierung natürlich nie begeistert. Doch widersprachen wir ihr auch nicht - um nicht unseren Brotverdienst zu riskieren. Es ist einfach lächerlich, wenn hurtige Propagandisten uns als „Oligarchen“ bezeichnen. Eine Oligarchie ist die Gesamtheit derjeniger, die eigentlich an der Macht sind. Wir waren jedoch stets unabhängig von den Bürokraten in ihren ultraliberalen Tausend-Dollar-Jacketts. Unsere gemeinsamen Ausflüge zu Jelzin waren lediglich eine Schauveranstaltung – man präsentierte uns der Öffentlichkeit als die Hauptschuldigen an den Übeln im Land und wir begriffen nicht sofort, was da vor sich geht. Man hat uns auflaufen lassen...
Wir hatten genug Reserven, um ein Spiel mit diesen Regeln, das ja eher ein Spiel ohne Regeln war, ausfechten zu können. Doch durch unsere Willfährigkeit und Ergebenheit und unsere kriecherische Fähigkeit zu geben, wenn wir um etwas gebeten wurden – und sogar, wenn wir nicht darum gebeten werden – haben wir die Willkür der Beamten und der Gerichte mit erzeugt.
Wir haben tatsächlich die durch die letzten Jahre der Sowjetunion am Boden liegenden Produktionsstätten im Großen und Ganzen wieder zum Leben erweckt und mehr als 2 Millionen hoch bezahlte Arbeitsplätze geschaffen. Doch wir haben dies dem Land nicht vermitteln können. Warum? Weil unser Land den Unternehmern ihre Solidarität mit der „Partei der Verantwortungslosigkeit“, der „Partei der Täuschung“ nicht verziehen hat.
Die Unternehmer in Freiheit
Es ist ein traditionsreicher Irrtum, „die Liberalen“ mit „den Unternehmern“ gleichzusetzen.
Die Philosophie des Unternehmers besteht darin, Geld zu machen. Und für Geld ist eine liberale Umgebung keineswegs eine unabdingbare Voraussetzung. Die amerikanischen Konzerne, die in der UdSSR Milliarden investiert hatten, mochten die sowjetischen Behörden sehr, weil diese völlige Stabilität und Schutz vor gesellschaftlicher Kontrolle garantierten. Unlängst erst, Ende der neunziger Jahre, beendeten multinationale Konzerne ihre Zusammenarbeit mit den anrüchigsten afrikanischen Diktaturen, jedoch längst nicht alle und auch nicht überall.
Die Zivilgesellschaft stört die Privatwirtschaft eher, als dass sie sie unterstützen würde. Sie verteidigt die Rechte der Arbeitnehmer, behindert ungenierte Eingriffe in die Umwelt, setzt sich für die Offenlegung von Wirtschaftsvorhaben ein und kämpft gegen Korruption. Und all dies schmälert die Gewinne. Als Unternehmer – und das sage ich als ehemaliger Leiter eines der größten Ölunternehmen Russlands – ist es sehr viel einfacher, sich mit einer Hand voll nicht allzu gieriger Beamter zu einigen, als sein Vorgehen mit einem verzweigten und handlungsfähigen Netzwerk gesellschaftlicher Institutionen abzustimmen.
Die Unternehmer brauchen keine liberalen politischen Reformen, sie sind nicht von einer Manie der Freiheit besessen. Sie ko-existieren nämlich immer mit der Staatsform, wie sie aktuell besteht. Vor allem erwarten die Unternehmer, dass der Staat sie schützt – vor der Zivilgesellschaft und vor den Arbeitnehmern. Daher sind die Unternehmen, besonders die großen, dazu verdammt, gegen eine echte - nicht gegen eine vorgetäuschte – Zivilgesellschaft zu kämpfen.
Darüber hinaus sind Unternehmer immer kosmopolitisch, da Geld keine Heimat hat. Unternehmer richten sich dort ein, wo es günstig für sie ist, sie stellen diejenigen ein, die wenig kosten und investieren nur dort, wo maximaler Gewinn zu erwarten ist. Für viele, wenn auch unbestritten nicht für alle russischen Unternehmer, die in den neunziger Jahren ihr Vermögen gemacht haben, ist Russland nicht eine Heimat, sondern ein unbeschränkter Jagdgrund. Ihre Hauptinteressen und Lebensstrategien sind dabei mit dem Westen verknüpft.
Für mich ist Russland meine Heimat. Hier möchte ich leben, arbeiten und sterben, und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit, in Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber zu spät als nie.
Deshalb habe ich die Wirtschaft verlassen und spreche hier nicht im Namen der „Wirtschaftskreise“, sondern in meinem eigenen. Und im Namen des liberalen Teils der Gesellschaft, jener Schicht von Leuten, mit denen wir uns immer als Mitstreiter und Gleichgesinnte fühlen können. Selbstverständlich gibt es unter uns auch Großunternehmer, denn niemandem kann der Zugang zu wahrer Freiheit und wirklicher Demokratie verwehrt sein.
Die Wahl unseres Weges
Was können und müssen wir heute tun?
Ich möchte sieben Punkte nennen, die mir vorrangig erscheinen.
Wir müssen eine neue Strategie der Zusammenarbeit mit dem Staat entwickeln. Staat und Bürokratie sind keine Synonyme. Es ist an der Zeit, sich selbst zu fragen: „Was hast du für Russland getan?“ Was Russland nach 1991 für uns getan hat, ist bekannt.
Wir müssen die Wahrheit in Russland, und nicht im Westen suchen. Ein gutes Image in den USA und Europa ist schön und gut, doch wird das nie die Achtung der eigenen Landsleute ersetzen können. Wir müssen beweisen, und zwar in erster Linie uns selbst, dass wir keine Vagabunden sind, sondern beständig auf unserem russischen Boden stehen. Wir müssen aufhören, die Interessen des Landes und seiner Bevölkerung zu vernachlässigen – besonders in dieser demonstrativen Art und Weise. Diese Interessen sind auch die unsrigen!
Wir müssen mit den sinnlosen Versuchen aufhören, die Legitimität des Präsidenten in Frage zu stellen. Ganz unabhängig davon, ob Putin uns gefällt oder nicht, ist es Zeit zu begreifen, dass er das Staatsoberhaupt ist, und nicht nur eine natürliche Person. Der Präsident ist eine Institution, die den Bestand und die Stabilität des Landes garantiert. Und bewahre uns Gott, dass diese Institution nicht zerbricht, einem neuen Februar 1917 nicht stand hält. Die Geschichte unseres Landes lehrt uns, das eine schlechte Regierung besser ist als gar keine. Mehr noch, es ist höchste Zeit zu begreifen, dass zur Entwicklung der Zivilgesellschaft ein Impuls von Seiten der Regierung nicht nur von Nöten, sondern unabdingbar ist. Die Infrastrukturen einer Zivilgesellschaft entstehen über Jahrhunderte hinweg und nicht mit einem einzigen Wink mit dem Zauberstab.
Wir müssen aufhören, uns und der Gesellschaft etwas vorzulügen und beweisen, dass wir bereits stark und erwachsen genug sind, die Wahrheit zu sagen. Ich achte und schätze Irina Chakamada sehr, doch habe ich, im Gegensatz zu Leonid Newslin, darauf verzichtet, ihren Präsidentschaftswahlkampf finanziell zu unterstützen, da ich dort besorgniserregende Zeichen von Unwahrheit feststellen musste. Wie auch immer man zum Präsidenten stehen mag, ist es zum Beispiel schlichtweg falsch und ungerecht, ihn der Mitverantwortung an dem Geiseldrama im Musicaltheater „Nord-Ost“ zu bezichtigen.
Wir müssen unsere kosmopolitische Weltanschauung Vergangenheit werden lassen und manifestieren, dass wir mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und keine windigen Gestalten sind. Wir müssen anerkennen, dass das liberale Projekt in Russland nur im Kontext der nationalen Interessen Erfolg haben kann und dass der Liberalismus erst dann in Russland Wurzeln schlagen wird, wenn er festen, stabilen Boden unter den Füßen spürt.
Wir müssen die Privatisierung legitimieren und unbedingt akzeptieren, dass 90% der Bevölkerung die Privatisierung als ungerecht empfinden und deren Nutznießer nicht als rechtmäßige Eigentümer betrachten. Solange das der Fall ist, wird es immer politische, bürokratische und wohl auch terroristische Kräfte geben, die das Privateigentum attackieren werden. Um die Privatisierung einem Land zu vermitteln, in dem Vorstellungen vom Recht auf Eigentum nach Vorbild des römischen Rechts nie besonders stark und ausgeprägt waren, müssen die Großunternehmen gezwungen werden, mit dem Volk zu teilen. Dies könnte durch eine Zustimmung der Großunternehmer zu einer Reform der Besteuerung von Rohstoffen und durch andere Schritte erfolgen, die den Großeigentümern unangenehm wären. Es ist besser, derlei Schritte selbst zu unternehmen und sie dadurch beeinflussen und steuern zu können, als zum Opfer seines blinden Widerstandes gegen das Unausweichliche zu werden. Wenn es nun mal so ist, dann muss man da auch durch. Nicht die Regierung, die ständig auf der Suche nach Angriffspunkten ist, um Druck auf uns ausüben zu können, braucht eine Legitimierung der Privatisierung, sondern wir und unsere Kinder brauchen sie - damit sie Russland leben und sich auf den Straßen der russischen Städte ohne eine Wagenkolonne voller Leibwächter bewegen können.
Wir müssen Geld und Verstand in den Aufbau völlig neuer, von den Lügen der Vergangenheit nicht besudelter gesellschaftlicher Institutionen investieren. Wir müssen echte zivilgesellschaftliche Strukturen schaffen, solche, die wir nicht wie eine Sauna als Ort zum angenehmen Zeitvertreib betrachten werden. Wir müssen jungen Menschen die Türen öffnen und talentierte und gewissenhafte Leute engagieren, die die Basis einer neuen Elite Russlands sein werden. Für das heutige Russland ist der „brain drain“ eine Tragödie. Denn unsere klugen Köpfe sind die Grundlage unserer Konkurrenzfähigkeit im 21. Jahrhundert und sie sind etwas anderes, als jene knapper werdenden Rohstoffvorkommen. Sie werden sich immer dort konzentrieren, wo sie einen guten Lebensraum finden – in jener Zivilgesellschaft eben.
Um das Land verändern zu können, müssen wir uns selbst verändern. Um Russland davon zu überzeugen, einen liberalen Entwicklungsweg einzuschlagen, müssen wir die Komplexe und Phobien des vergangenen Jahrzehnts überwinden – zusammen mit der gesamten leidigen Geschichte des russischen Liberalismus.
Um dem Land die Freiheit zurückzugeben, müssen wir erst einmal selbst an diese glauben.
Michail Chodorkowskij, Privatperson, Bürger der Russischen Föderation
29. März 2004
Der Autor ist ehemaliger Vorstandsvorsitzender und größter Aktionär der Ölgesellschaft JUKOS und befindet sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 4 in Untersuchungshaft.