Basta! Amen! Es reicht!“ Der Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit sucht mit einem russischen Auditorium eine gemeinsame Sprache
Von Anna Rudnizkaja und Dmitrij SabowÜbersetzung: Jens Siegert
Sieh an, wohin offenbar Träume führen – ins Europaparlament. 1968 kämpfte der französische Student deutsch-jüdischer Herkunft Daniel Cohn-Bendit auf den Barrikaden gegen die Schrecken der heraufdräuenden Konsumgesellschaft. Im Oktober 2005 wohnte der erstmals Moskau besuchende Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament im 5-Sterne-Hotel Baltschug-Kempinski und kam zur öffentlichen Diskussion über „Kulturrevolution, 68, Grüne" in den Klub „Uliza OGI" im Anzug. Es wurde keine Diskussion, sondern ein Duell: ein ehemaliger Revolutionär von Angesicht zu Angesicht mit den Revolutionären der Zukunft.
Vergangene Verdienste nutzten nichts: Für die jungen Aktivisten linker russischer Bewegungen – Nationalbolschewisten, Trotzkisten oder Anarchisten, unter dem Publikum die Mehrzahl – war er für alles verantwortlich. Für die Bombardierung Serbiens, für den Einmarsch in Afghanistan und in den Irak ebenso wie für Putin, mit dem die Europäische Union gut Freund ist. Seltsame Jugendliche mit strengen Gesichtern, die am Ausgang saßen, warfen einige Stinkbomben in Richtung Redner, trafen nicht und zogen sich schnell zurück. Eine junge Frau aus der sozialistischen Bewegung „Vorwärts" verteilte Flugblätter mit parallelem Text auf russisch und französisch, in denen stand, dass solche wie Cohn-Bendit schon lange die Ideale der Revolution verraten haben und deshalb in der Hölle schmoren sollten.
„Oh, nun fühle ich mich wie zu Hause,“ ließ sich der bekannte Gast auch durch diese Botschaft nicht aus der Ruhe bringen. „Aber, Freunde, lasst uns darüber doch später reden, wenn wir alle zusammen zur Hölle fahren und dort viel Zeit haben werden."
„Haben Sie überhaupt verstanden, in welches Land Sie gekommen sind?" fragte Karin Kleman, Aktivistin der Linken Front, Cohn-Bendit unter donnerndem Applaus des Auditoriums. „Sie sind in das postsowjetische Russland gekommen, in dem der Durchschnittslohn bei 100 und die Durchschnittsrente bei 50 Euro liegen. Und Sie sitzen hier und kritisieren Stalinimus und Kommunismus, verlieren aber kein Wort darüber, was heute in diesem ultraliberalen Land passiert, und darüber, wie das alles mit der Politik zusammenhängt, die Sie im Europaparlament propagandieren."
Der Vortragende schrie bei seiner Antwort ebenfalls – mindestens in drei verschiedenen Sprachen: „Basta, amen, es reicht!“ Das Gespräch, eher einer Kundgebung gleichend, dauerte eineinhalb Stunden länger als geplant.
„Mag sein, dass ich tatsächlich ein Konterrevolutionär geworden bin,“ erklärte der ehemalige Pariser Studentenführer spät am Abend, entweder, weil er müde war, sich weiter herumzuschlagen, oder weil er endgültig ein Gespür für das Publikum bekam. "Mag sein, dass es radikalere Menschen als mich gibt. Aber ich mache seit 30 Jahren und auch heute noch reale Politik. Und ich bleibe radikaler Antitotalitarist. Wir wissen, dass nicht nur Menschen, sondern auch ganze Gesellschaften verrückt werden können: Beispiele dafür sind der Faschismus und der Kommunismus. Und der einzige Schutz gegen diese selbstmörderischen Handlungen von Menschen sind demokratische politische Institute, wie wir sie in Europa aufbauen.
Was der Europaabgeordnete danach in seiner ersten Nacht in Moskau träumte, ist nicht bekannt, aber am nächsten Morgen beim vorab versprochenen Interview zum Frühstück in Hotel stellten nicht die Korrespondenten des „Ogonjok" die erste Frage, sondern Herr Cohn-Bendit: „Was sagen Sie über den gestrigen Abend?" Er selbst äußerte sich zurückhaltend:
„Es war lustig. Diese jungen Leute konzentrieren sich auf den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und als Europäer verstehe ich das. Aber ich habe mit Erstaunen festgestellt, das die dem Putinschen Autoritarismus einen anderen entgegenstellen, einen kommunistischen Autoritarismus, eine Restauration des Sowjetsystems. Ich weiß nicht, ob solch eine Position heute mehr eine Mythologie oder eine Ideologie ist. Aber diese jungen Leute zieht es zu einem starken Staat hin. Und ich denke, das Problem der russischen Opposition ist es, eine Alternative zu autoritären Ideologien zu finden.
Ogonjok: „Jugendbewegungen in Russland sind nach der ukrainischen Revolution, die viele in Moskau bis heute ein Produkt politischer Manipulationen halten, aktiver geworden. Dabei waren junge Menschen sowohl in Kiew als auch vor 37 Jahren in Paris die treibenden Kräfte. Aus der Sicht eines Profis: War das in Kiew eine Revolution oder das Ergebnis polittechnologischer Manipulationen?“
Cohn-Bendit (lachend): „Ich hab keine Dissertation dazu geschrieben, wie man Revolutionen macht. Ich bin da kein Spezialist und über Technologien weiß ich nichts."
Ogonjok: „Trotzdem: Warum sind die Jugendorganisationen, die wie die serbische ‚Otpor‘ und die georgische ‚Chmara‘ sehr wichtige und aktive Rollen bei den ‚bunten‘ Revolutionen gespielt haben, nach den Siegen aus dem politischen Leben verschwunden?“
Cohn-Bendit: „Junge Menschen sind völlig unersetzbar, wenn es um augenblickliche und massenhafte Mobilisierung geht. Aber was kommt nach dem Sieg einer Revolution? Das prosaische Leben, die Notwendigkeit, die Früchte der allgemeinen Aufregung im realen politischen Leben zu nutzen. Aber das, so stellt sich heraus, ist nicht so einfach. Leider zeigt das, was wir im Moment in der Ukraine sehen, als wie dünn sich dort die demokratische Schicht herausgestellt hat, wie wenig nachhaltig das Streben zur Demokratie ist.
Um die Errungenschaften der Revolution zu festigen, muss eine neue politische Klasse entstehen. Juschtschenko, das ist die alte politische Klasse. Er steht Kutschma viel zu nah und wäre, soweit ich verstehe, schon längst nicht mehr dagegen, sich mit ihm zu verständigen. Jelzin und Putin, das ist ebenfalls die alte politische Klasse. Sowohl für Russland als auch für die Ukraine besteht die Hauptfrage darin, wie viel Zeit nötig ist, damit eine neue politische Klasse entsteht, die weder mit den bisherigen Machthabern noch mit mafiösen Strukturen verbandelt ist."
Ogonjok: „Hätten Sie die revolutionären Massen auf dem Maidan in Kiew anführen können?"
Cohn-Bendit: „Ich?! Nein, nein, nein! Jeder Mensch ist das Produkt der Gesellschaft, in der er aufwächst. Irgendein Profi, der in ein fremdes Land eingeflogen wird, um eine Revolution anzuführen, so etwas kann nur eine Hollywood-Phantasie sein. Ich war im vorigen Jahr nicht einmal in Kiew."
Ogonjok: „Und hätten Sie nicht wollen?"
Cohn-Bendit: „Ich bin nicht der James Bond der Revolution. Ich bin Abgeordneter des Europaparlaments. Ich bin kein Revolutionskommissar mehr.“
Ogonjok: „Kränkt es Sie nicht, wenn die jungen Leute Sie so angreifen?"
Cohn-Bendit: „Ich habe mich daran gewöhnt. Junge Menschen zerren mich die ganze Zeit auf die Barrikaden und sind fürchterlich beleidigt, wenn ich nicht sofort aufspringe und raufklettere. Ihre Reaktion ist völlig normal, weil sie eben jung sind. Meine aber auch, weil ich sehr gut weiß, wie junge Leute in eine Sackgasse geführt werden können."