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Die jungen Linken und der 68er-Mythos

Öffentliche Vorlesung von polit.ru. Dort finden sich ein Audio-Mittschnitt und eine Transkription der Diskussion auf russisch.

17. Oktober 2005
Von Dmitrij Jermolzew
Von Dmitrij Jermolzew

Die jüngste der Öffentlichen Vorlesungen bei POLIT.RU war nicht nur als Vorlesung interessant, sondern auch als Zeremonie, als Parade von Diskursen, ungeschminkt, in schierer und scharfer Form vorgetragen.

Wie sind die Öffentlichen Vorlesungen von POLIT.RU strukturiert? Zunächst erfolgt der Auftritt des Vortragenden, dann folgen Fragen, Diskussion, ein nützlicher Austausch. Diesmal gab es wenig Kommunikation, dafür jedoch Schlagabtausch. Das passiert halt, wenn Mythen aufeinander treffen. Man geht auf eine solche Veranstaltung weniger, um etwas Bestimmtes zu erfahren oder zu verstehen, sondern für ein öffentliches Bekenntnis seines Glaubens und/oder für ein Happening.

Bei diesem Gast war das Happening unausweichlich. Legenden verschönern das Leben, und der Rote Mai ist eine Legende, wie auch Daniel le Rouge eine ist. Und es sei erwähnt, dass das „öffentliche Leben“ im derzeitigen Russland langweilig ist, kalt, dass einem das Blut gerinnt, und da tut es wohl, sich am Feuer von 1968 etwas zu wärmen. Die Linken kamen ins Uliza-OGI, um einmal Cohn-Bendit zu sehen, um das Denkmal Cohn-Bendit vom Sockel zu holen, oder weil sie etwas gegen ihn haben. Schließlich ist er gewissermaßen kein Mensch mehr, sondern ein wandelnder Mythos. Man versuchte, auf die Karikatur des jetzigen Cohn-Bendit mit der Ikone des „früheren“ Cohn-Bendit einzudreschen, der Mythos des Revolutionärs wurde mit dem Mythos des Europapolitikers konfrontiert. Dabei, so schien es, war der Sechzigjährige mit den rötlichen Haaren für viele im Publikum nicht besonders von Interesse, es sei denn als eine Art Dart-Scheibe. Wird er, als konkreter Mensch, von den Linken überhaupt noch gebraucht?

Der legandäre Dany le Rouge hätte im virtuellen Pantheon der Linken bleiben können, doch hat er ihn verlassen, weil er diesen Platz nicht verdient. He lived fast, but didn’t die young. Die Reaktionäre haben ihn nicht gekreuzigt, keine Ranger haben ihn erschossen, er war nicht 20 Jahre im Gefängnis und starb nicht an einer Überdosis. Er hat die Macht nicht gestürmt, sondern ist ihr beigetreten, wurde also zum „Renegaten“ und „Opportunisten“, um den bekannten Jargon zu bemühen. Es werden keine stolzen oder sentimentalen Lieder über ihn gesungen und kommenden Generationen von Kämpfern wird er nicht als Vorbild vorgehalten werden.

Es gibt einen nicht unwesentlichen Grund, warum der ehemals rote und nun grüne Daniel die Linken nicht kalt lässt, und sie ihn „dingfest“ machen wollen, wie es Wlad Tupikin ausdrückte. Es drängt die Frage des Erbes. Die Gemeinde der Linken muss sich mit ihrem historischen Gedächtnis auseinandersetzen, die Linien der Nachfolge festlegen, den Heiligenkalender bereinigen usw. Das Jahr 1968 nimmt in ihrem kollektiven Background einen riesigen Platz ein, und Cohn-Bendit wiederum für 1968 einen noch viel größeren. Und mit dieser Ikone, die in den Augen der Linken zu einem „Bildnis des Dorian Gray“ geworden ist, muss man sich ebenfalls auseinandersetzen.

Cohn-Bendit sagt sich nicht von seinen Idealen los

Die Verehrer Che Guevaras haben es gut und bequem – Che starb in der Blüte seiner Jahre, wie es sich gehört, mit ihm gibt es keine Schwierigkeiten. Cohn-Bendit ist ein Problem. Wenn er doch bloß sagen würde: Ich war ein Dummkopf, bin aber jetzt zu mir gekommen – Liberalismus ist toll, und die rote Idee ist Mist. Wenn er sich vom Roten Mai lossagen würde, dann hätten es die Linken sehr viel einfacher. Aber nein, der Europapolitiker von heute verabschiedet sich nicht von den Idealen von 1968. Vielmehr führt er seine jetzige Haltung auf jene Ideale zurück und präsentiert sie als ehrliches Ergebnis einer normalen Entwicklung. Offensichtlich will man von Cohn-Bendit, dass er mit seinen nun dreckigen Fingern seine eigene leuchtende Vergangenheit nicht anrührt sondern sie anderen überlässt, den Aufrechten und Reinen, die das Rote Banner weitertragen werden. Die Linken würden ihn nur zu gern in einen „roten“ und „weißen“ Daniel spalten, ihn als „Heuchler“, „Neoliberalen“ und „Diener der Ausbeuter“ entlarven, doch der Kerl ist in Diskussionen versiert und rhetorisch sattelfest – es will nicht gelingen. So lautet, im Wesentlichen, die Einschätzung Wlad Tupikins. Er könnte recht haben. Es könnte aber auch etwas anderes zutreffen, nämlich, dass Cohn-Bendit im Grunde entwurzelt ist (allerdings über taktische Schläue und einige demagogische Handgriffe verfügt – so verlangt es eben das Geschäft), und tatsächlich glaubt, was er sagt.

Was sagt er eigentlich? 1968 war der Drang nach Freiheit das Wichtigste, die Autonomie des Einzelnen gegenüber den verschiedenen Formen der Bevormundung, eine neue Lebensweise – dies ist allgemein bekannt. Die Unzufriedenheit mit dem Überkommenen in den sozialen Systemen des Westens war deutlicher als dieses oder jenes Zukunftsprojekt – auch dies ist allgemein bekannt. Dabei hält Cohn-Bendit den allgemeinen Freiheitspathos für wesentlicher als die treue Ausrichtung der Aktivisten nach dieser oder jener Doktrin (Trozkismus, Maoismus usw.). Er selbst hat sich 1968 nach eigener Aussage weniger als Marxist verstanden, denn als Befreier. Wenn es im Erbe von 1968 etwas gibt, von dem sich Daniel und seine „vergrünten“ Genossen gern distanzieren würden, so ist das eine Idee, die sie mit Fug und Recht als „rousseauistisch“ ausmachen, nämlich dass der Mensch von Natur aus gut sei, und dass man ihn nur von der äußeren Unterdrückung durch die sozialen Bedingungen befreien muss, damit auch das Leben gut werde. Doch bewegten sich auch die revolutionären Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bei ihren Versuchen die Menschheit glücklich zu machen, totalitäre Regime, den GULAG und Auschwitz geschaffen haben, in eben diesem „rousseauistischen“ Paradigma. Diese Regime waren die größten Gegner des Parlamentarismus, gegen den sich ja auch die Unzufriedenheit der studentischen Revolutionäre richtete. Hieraus ergibt sich ein natürlicher logischer Schritt: War es 1968 wirklich richtig, gegen diesen Parlamentarismus zu Felde zu ziehen und nicht dessen Potential zu nutzen, wie es heute die Grünen tun? Als äußerst wichtige Antithese führt Cohn-Bendit den Weg des Terrors an, den einige der 68er in den 70er Jahren einschlugen. Er sieht hierin einen Verrat an den Idealen von 1968, an der Absage an die Gewalt des Systems über den Menschen, deren höchster Ausdruck die Todesstrafe ist, ein als Verfahren gestalteter Mord.

Als Folge all dieser Widersprüche und Einsichten sieht Cohn-Bendit die Arbeit der Grünen, die er als konsequenten Einsatz für den Menschen darstellt: ökologisch als Schutz vor technogenen Katastrophen, im Sozialstaat gegen das Diktat des Marktes, durch institutionelle und im Extremfall (siehe Kosovo und Afghanistan) auch durch militärische Intervention als Schutz vor unmittelbarer Gewalt durch diktatorische oder totalitäre Regime.

Wo fängt der Mensch Cohn-Bendit an und hört der Politiker auf?

Es ist unschwer zu erkennen, dass das „Rüstzeug“ Cohn-Bendits sehr viel mit dem eines modernen Demagogen, eines Vertreters der herrschenden Klasse der G7 gemein hat: GULAG und Auschwitz seien die Skylla und Charybdis der Demokratie; letztendlich bot er antitotalitäre Rhetorik, oberflächliche Analogien zwischen Nationalsozialismus und islamischem Fundamentalismus, zwischen Zweitem Weltkrieg und dem „weltweiten Krieg gegen den Terrorismus“. Ich wage nicht zu entscheiden, wo der Mensch Cohn-Bendit mit seinen tiefen Überzeugungen aufhört und wo sein professionelles Instrumentarium anfängt. Ich möchte nur anmerken, dass durch ein „technisches“ Herangehen an die Sache Überzeugungen nicht notwendigerweise aufgehoben werden, und jeder Demagoge stützt sich wohl irgendwo auf seine ureigene Wahrheit, sonst würde ihm kaum jemand glauben. Wenn Demagogie als Verkündung einer subjektiven Wahrheit aufgefasst werden kann, als Ergebnis der geistigen Arbeit des Redners, warum nicht auch umgekehrt? Es kann nicht nur sein – es geschieht auch, rundum, auf Schritt und Tritt.

Letztendlich gleicht die Evolution Cohn-Bendits der vieler anderer europäischer, insbesondere französischer Intellektueller. Sie begannen als Linke im traditionellen Sinne, orientierten sich an Marx, manchmal direkt an Moskau, und kamen dann zu den Werten der parlamentarischen Demokratie, zum Primat der Menschenrechte. Wendepunkte könnten dabei die Entdeckung des GULAG gewesen sein, die Niederschlagung des Prager Frühlings, die Begegnung mit sowjetischen Dissidenten usw. Ein frühes und drastisches Beispiel einer solchen „Wende nach rechts“ ist Orwell, der als Roter nach Spanien fuhr und als Antikommunist zurückkehrte. Die dreißiger Jahre sind eh ein Thema für sich.

Was sagt uns dann die Geschichte Cohn-Bendits? Lediglich, dass man auch mit anderem Ausgangspunkt, eben dem Roten Mai, zum Rhythmus des „Liberalismus“ – ich setze Anführungszeichen, weil mir das Wort in diesem Kontext nicht besonders gefällt, aber es wird nun mal üblicherweise verwendet – mittänzeln kann. Tanzen kann man auch zum revolutionären Terror – jeder ist ein freier Mensch. Und wenn es jemandem so scheint, als sei eine politische Biographie wie die Cohn-Bendits mit einem Debüt auf den Barrikaden nicht vereinbar und nur durch bewussten „Verrat an den Idealen“, durch Ausverkauf seiner selbst möglich, so ist das vielleicht eher auf die eigene, verschobene Sichtweise zurückzuführen, und es wäre sinnvoll, sich mehr mit der eigenen Optik auseinanderzusetzen, als mit dem Objekt der Betrachtung. Umso mehr, als das Objekt in unserem Falle reichlich ausgewachsen und durch sein bloßes Profil allein nicht zu erfassen ist.

Der "Herr Opportunist" ist recht überzeugend

Mir persönlich schien der Herr Opportunist recht überzeugend: er hört die Leute, er sieht sie, antwortet oft zur Sache. Ihn beschäftigt der Terror in Bosnien tatsächlich, Böll kennt er nicht nur aus der Zeitung, seine Augen zeigen Leben. Vielleicht bin ich naiv und habe eine schlechte Menschenkenntnis. Aber darum geht es hier nicht – interessant ist vielmehr, warum die linken Kritiker Cohn-Bendits kategorisch die Möglichkeit ausschließen, dass er aufrichtig sein könnte (das „Problem der Optik“). Aufrichtigkeit wird bei ihnen ausschließlich mit Protest assoziiert, mit Spontaneität, mit „direkter Aktion“. Jemand, der aus diesem Paradigma hervorgegangen ist und sich gar dem Establishment anschloss, der verliert dadurch gleichsam seine Seele, der kann grundsätzlich nicht die Wahrheit sagen, sondern nur lügen, trügen und verführen, ganz wie der Vater der Lüge. Normale menschliche Kommunikation ist mit so jemandem nicht möglich, man kann ihn lediglich „dingfest“ machen. So ist sie, diese rohe Archaik, wie seinerzeit bei Batu Khan: „Dem Abtrünnigen treiben wir den Espenpflock in den Rücken, den Isegrimm schlagen wir mit Eichenprügeln.“

Mit eben diesem Ziel kamen die Linken zur Begegnung mit Cohn-Bendit, nicht um zuzuhören, sondern um selbst zu ertönen. Es wurde gleichsam jemand an den Pranger gestellt – so, wie man im alten Russland verurteilte Adlige öffentlich demütigte und sie ihrer Standeswürde entledigte. Oder eine Art Teufelsaustreibung versucht, wozu wohl auch die einschlägigen Gerüche und Laute dienen sollten, die die Linken bei dieser Zeremonie erzeugten. Jeder hat eben seine eigenen Bräuche.

Die Bräuche mögen verschieden sein, doch der Wortschatz ist ungefähr der gleiche. Der ist überkommen, und wird dabei dennoch verabsolutiert. Linke wie Rechte Opponenten huldigen den Konzepten KAPITALISMUS, KOMMUNISMUS oder NEOLIBERALISMUS bzw. schlagen sich damit gegenseitig die Köpfe ein. Das Leben und die Geschichte können dabei außen vor bleiben, denn die Ideologien sind sich selbst genug. Ein Phantom jagt das andere, um die Abstraktionen wird mit überschäumender Leidenschaft gestritten. Die gleichen Wallungen wie vor 10 und mehr Jahren. 10, was sage ich da? - Einen Besucher der OGI-Straße erinnerte das ganze an ein Marxistentreffen in den 1890ern:

„Welcher Bahnhof ist das hier?
Bologoje, Popowka? – sag es mir!
Doch vom Bahnsteig tönt der Rat:
Sie befinden sich in Leningrad!“.

Sowohl die linken als auch die rechten Diskutanten fragten „Was denkst Du?“, und meinten „Woran glaubst Du?“. Eine Hauptsorge der Diskutierenden war die Identifizierung bzw. Abgrenzung der Götter und Dämonen: „Ist Faschismus Kapitalismus?“, „Stalin und Trozki sind nicht Kommunisten, sondern Faschisten!“, „Kommunismus bedeutet Totalitarismus!“ Die Opponenten, die einander mit solcherlei Thesen traktierten, bewegen sich eindeutig außerhalb des Analytischen, ihr Diskurs ist quasi religiös, was ihn elendiglich peinlich macht, wenn man sich die ganze Absurdität der Verabsolutierung (bis hin zur Ontologisierung) der politologischen und gesellschaftswissenschaftlichen Konzepte vor Augen führt.

Bei einem solchen Ansatz geraten die Menschen selbst aus dem Blickfeld und werden dabei zu Diskurszeichen. Aus psychologischer Sicht ist folgendes verblüffend: Den linken Radikalen kommt es einfach nicht in den Sinn, dass beispielsweise Daniel Cohn-Bendit nicht „der ihre“ sein könnte, sondern er selbst, dass sein Leben ihm selbst gehört, und nicht ihnen, dass der Einzelne frei ist, seine Ansichten und sein Verhalten nach eigenen Gutdünken zu ändern. Wenn „verbieten verboten“ ist, kann man jemandem dann verbieten jene Richtung einzuschlagen, die er für richtig hält? Hat sich Daniel Cohn-Bendit etwa als untadeliger Abgott der linken Radikalen verpflichtet, um das Heilige seine revolutionäre Reinheit zu wahren, können sie etwa einen solchen Kontrakt vorlegen?

Und dann die Rechten. Die sind eigentlich mit dem gleichen Öl gesalbt. Hauptsache, man kann jemandem öffentlich den Handschlag verweigern. Zwei, drei dieser „Renegaten“ hätte ich selbst gern gewürgt. Was mich davon abhält: 1. Ich komme nicht an sie heran; 2. Ich neige zu Pazifismus; 3. Man kommt dafür in den Knast. Leute mit „demokratischer Orientierung“, die die revolutionären Wehen von 1991ff. durchlebt haben, schauen mit Abscheu auf die Führer, die allem zustimmen und dabei den Dreck von Intrigen und faulen Kompromissen am Stecken haben. Auf den Versammlungen der „demokratischen Opposition“ wird vor allem den markanten Nonkonformisten applaudiert, denjenigen, die sich (wie Nowodworskaja und Schenderowitsch) nicht sofort den launischen Umständen anpassen wollen. Jetzt zählen hierzu auch Ilja Jaschin und Mascha Gaidar (als Anfänger), so dass OBORONA [Verteidigung] und JA! berechtigte Aussichten auf die Zuneigung des Volkes haben.

Wer auf zwei (oder mehreren) Schlachtfeldern tanzt, ist in der Regel ein spöttelnder Zyniker und erinnert an die Zwerge aus den Lewis’schen „Chroniken von Narnia“, die ihre Pfeile sowohl den Rechten als auch den Nicht-Rechten entgegen senden, einfach so, des Gleichgewichts wegen. Der Typus des russischen, und wohl nicht nur des russischen Journalisten, der zu „Politik und Gesellschaft“ schreibt, ist wohlbekannt. Und das berüchtigte „Apolitische“ ist wohl nur eine verbreitete politische Haltung, wie Olga Sedakowa in ihrer Vorlesung bei POLIT.RU ganz richtig bemerkte.

In Ermangelung eines Bürgerkrieges ist „Diskussion mit Entlarvung“ unser Lieblingssport, unser Brot, Labsal für unser sehnendes Herz. Weshalb selbst akademische Debatten über gesellschaftliche Fragen so oft einen gewissen Hauch von Keilerei haben.

Viele, die gekommen waren, um Cohn-Bendit zu hören, waren sich darin einig, dass sie nicht allzu große Erkenntnisse gewonnen, jedoch gut Spaß gehabt haben. Der Abend ist prächtig gelungen. Und wie schon Puschkins Leporello sagte: "Wenn wir leben, werden andre kommen".

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