Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Thesen zur Suche nach Wegen zur Beilegung des bewaffneten Konflikts in der Tschetschenischen Republik

Lesedauer: 6 Minuten

17. Juni 2004
Übersetzung: Jens Siegert

1. Der Tod von Achmat Kadyrow hat nicht nur für die russische Staatsführung sondern für die ganze russische Gesellschaft gezeigt, dass es dringend notwendig ist, einen Weg zur Lösung des Konflikts in der Tschetschenischen Republik zu finden.

2. Der wichtigste Aspekt dieses Problems ist die Frage nach der staatlichen Macht in der Tschetschenischen Republik. In Tschetschenien muss die staatliche Macht auf der Willenserklärung der Bevölkerung der tschetschenischen Republik basieren. Im Rahmen dieser Willenerklärung muss das Volk der Tschetschenischen Republik die Möglichkeit haben, seine Wahl in Bezug auf die Zukunft Tschetscheniens zu machen.

3. Das Verfassungsreferendum der Tschetschenischen Republik und die darauf folgenden Präsidentenwahlen [im Jahr 2003] waren nicht frei und wurden von so vielen Verletzungen der Wählerrechte begleitet, dass nicht ernsthaft die Rede davon sein kann, dass die geltende Verfassung der Republik und die auf ihrer Grundlage gebildete Regierung legitim sind.

4. Es ist notwendig, reale Auswege aus der in Tschetschenien entstandenen rechtlichen und politischen Sackgasse zu suchen. Der sich fortsetzende kriegerische Konflikt fordert immer neue Menschenleben, verstümmelt menschliche Schicksale und wirkt sich äußerst ungünstig auf das politische und gesellschaftliche Leben in ganz Russland aus.

5. Am wünschenswertesten und folgerichtigsten wäre es, einen langen, aus vielen Etappen bestehenden Verhandlungsprozess zwischen dem Präsidenten der Russischen Föderation (oder seinem Repräsentanten) und dem Präsidenten der Tschetschenischen Republik Itschkerija (oder seinem Repräsentanten) zu beginnen, in dem über einen Waffenstillstand, über die Ausarbeitung eines Alghoritmus zur Bestimmung des zukünftigen Status Tschetscheniens, über die Einrichtung einer Übergangsverwaltung und über ein darauffolgendes Referendum über den Status Tschetscheniens oder die Wahlen eines noch zu bestimmenden Gründungsorgans gesprochen wird.

6. Allerdings ist dieser wünschenswerteste Weg aus vielen Gründen gegenwärtig kaum realisierbar. Deshalb haben die von uns vorgeschlagenen Schritte notwendigerweise den Charakter von Halbheiten und Kompromissen. Aber bei auch nur minimalem guten Willen im Kreml könnten sie umgesetzt werden.

7. Die Notwendigkeit, eine neue Republiksspitze in Tschetschenien zu bilden, gibt der Staatsführung der Russischen Föderation eine gewisse Chance, in Tschetschenien damit zu beginnen, eine vielleicht nicht optimale, aber doch wirkliche politische Lösung zu finden. In Tschetschenien müssen Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden. Im Unterschied zu den vorhergehenden müssen sie fair sein. Diese Wahlen müssen ohne Druck staatlichen Stellen auf die Wähler stattfinden, ohne Stimmenkauf usw.

8. In der gegenwärtigen Situation ist es in der Tschetschenischen Republik unmöglich, dass die kommenden Wahlen, sollten sie in den durch die Verfassung vorgeschriebenen Fristen stattfinden, freier und gerechter sein werden als die vorherigen.

9. Die Staatsführung Russlands muss die Wahlen verschieben. Dazu gibt es nur eine Möglichkeit: auf dem Gebiet der Tschetschenischen Republik muss der Ausnahmezustand erklärt werden. In Übereinstimmung mit dem Gesetz „Über den Ausnahmezustand" gibt es allen Grund dazu.

10. Die Zeit des Ausnahmezustands muss durch die Exekutive der Russischen Föderation zur Vorbereitung echter Bedingungen in der Tschetschenischen Republik genutzt werden, um faire Wahlen durchzuführen. Dafür ist ein ganzer Komplex von Maßnahmen notwendig:

  1. Es muss eine neue weitgefasste Amnestie für alle Mitglieder von bewaffneten Formationen geben, die sich in Tschetschenien den föderalen Streitkräften entgegen stellen. Einziger Grund, eine Amnestierung zu versagen, dürfen schwere Verbrechen an Zivilisten, Gefangenen und zwangsweise festgehaltenen Personen sein. Unter anderem müssen auch Anschläge auf das Leben von Vertretern der Staatsgewalt unter die Amnestie fallen. Der Präsident der Russischen Föderation muss persönlich die Sicherheit der Personen garantieren, die ihre Waffen nieder legen und amnestiert werden, und er muss einen speziellen Repräsentanten ernennen, der die Amnestie beobachtet und die Sicherheit der Amnestierten gewährleistet.
  2. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, damit die politischen Kräfte Tschetscheniens (das schließt auch die Befürworter einer tschetschenischen Unabhängigkeit ein) im Rahmen der kommenden Wahlkampagnen ungestört und friedlich für ihre Programme werben können. Separatismus an sich, solange er nicht von Gewalt und der Propagierung von nationalem und religiösem Hass begleitet ist, darf keine Straftat sein.
  3. Es sollten so viele Beobachter wie möglich von internationalen Organisationen, darunter auch Menschenrechtsorganisationen (OSZE, UNO, Europarat, EU, NGOs) hinzugezogen werden.
  4. Es muss der Beginn eines Dialog am „Runden Tisch“ zwischen allen politischen Kräften in Tschetschenien organisiert werden.
  5. Die Staatsanwaltschaft in der Tschetschenischen Republik muss gestärkt werden. Gleichzeitig muss starker Druck auf die Staatsanwaltschaft und das Innenministerium ausgeübt werden, alle Verbrechen zu untersuchen, darunter auch diejenigen, die von Seiten der Sicherheitsorgane an Zivilisten begangen werden.
  6. Die Zusammensetzung und die Tätigkeit der verschiedenen Sicherheitsorgane der Tschetschenischen Republik müssen einer Revision unterzogen werden und ihre Tätigkeit muss streng in den Rahmen der russischen Gesetzgebung zurückgeführt werden.
  7. Es sind eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Massnahmen notwendig, unter anderem müssen großangelegte Aufräum- und Aufbauarbeiten in Grosny in Angriff genommen werden, die Kompensationsgelder müssen ausgezahlt werden und die Menschen müssen mit Baumaterial versorgt werden.
  8. Stück für Stück muss die Rückkehr derjenigen Bewohner nach Tschetschenien organisiert werden, die dazu bereit sind. Dabei ist jede Form von Druck auf die Zwangsumsiedler mit dem Ziel, sie zur Rückkehr nach Tschetschenien zu zwingen, grundsätzlich auszuschließen.

11. Der Ausnahmenzustand wird erst dann aufgehoben, wenn die internationalen Beobachter von UNO, OSZE, Europarat, EU und anderen großen internationalen Organisationen zum Schluss gekommen sind, dass auf dem Territorium der Tschetschenischen Republik die Bedingungen für faire Wahlen geschaffen wurden.

12. Alle politischen Kräfte, die an den Wahlen teilnehmen wollen, unterschreiben eine Vereinbarung darüber, dass sie auf Versuche politische Fragen gewaltsam zu lösen, unter der Bedingung verzichten, dass die föderale Staatsführung die selbst übernommene Verpflichtung erfüllt, die Wahl der Bevölkerung Tschetscheniens zu achten, wie immer sie auch ausfallen mag. Das schließt unter anderem ein, dass die Anhänger einer Unabhängigkeit Tschetscheniens sich verpflichten, im Falle eines Sieges ihre Ziele mit friedlichen Mitteln zu verfolgen.

13. Die Wahlkommissionen werden unter breiter Beteiligung von Vertretern aller politischen Kräfte neu gebildet. Die Wählerlisten werden neu erstellt.

14. Der Präsident der Russischen Föderation verpflichtet sich,

  • keiner der politischen Kräfte im Rahmen des Wahlkampfs und während der Wahlen irgendwelche Hilfe zu leisten,
  • die Wahl der Bevölkerung Tschetscheniens unabhängig vom Ergebnis zu achten,
  • im Fall des Siegs der Befürworter der Unabhängigkeit Tschetscheniens mit ihnen Verhandlungen zur Ausarbeitung von Mechanismen aufzunehmen, wie der zukünftige Status Tschetscheniens bestimmt werden kann.

15. In der Tschetschenischen Republik werden zuerst Parlaments- und danach Präsidentenwahlen abgehalten.

16. Die föderale Staatsführung und die neue politische Führung Tschetscheniens beginnen Verhandlungen über einen Vertrag zur gegenseitigen Abgrenzung ihrer Vollmachten oder über Mechanismen zur Bestimmung des zukünftigen Status‘ Tschetscheniens.

Dossier

Demokratie in Russland

Demokratie in Russland ist für ein friedliches und demokratisches Europa unabdingbar. Nur ein demokratisches Russland wird ein verlässlicher und berechenbarer Nachbar sein.