29.-30. März 2004
Diejenigen, die keinen Zweifel haben, dass Chodorkowskij der Autor des Briefes ist, haben ganz unterschiedliche Meinungen zu dessen Inhalt geäußert. Der stellvertretende Vorsitzende von Jabloko, Sergej Iwanenko, meinte, dass „jemand, der im Gefängnis sitzt und einen programmatischen Artikel unterschreibt, ob er dies nun will oder nicht, durch die herrschenden Umstände gebunden ist." Das Präsidiumsmitglied des Zentralen Politischen Rates von SPS, Leonid Gosman, pflichtet ihm bei und erklärt im Namen seiner Partei: „Solange Chodorkowskij nicht in Freiheit ist, wäre es nicht richtig, mit ihm zu debattieren oder zu suchen, womit er Recht hat und womit nicht." Der Chef von Jabloko, Grigorij Jawlinskij, ließ durch seinen Pressesprecher mitteilen, dass er die Aussagen Chodorkowskijs nicht kommentieren wolle. Irina Chakamada, deren politisches Vorgehen in dem Artikel Chodorkowskijs kritisch betrachtet worden war, beschränkte sich auf die Bemerkung, „dass diejenigen, die frei sind, nicht die Äußerungen derer kommentieren können, die sich im Gefängnis befinden."
Der fraktionslose Dumaabgeordnete Wladimir Ryshkow bezeichnete den Artikel Chodorkowskijs als „Brief der Reue". Er meint: „Die Schlussforderungen sind absolut zutreffend. Es ist klar, dass das Erbe der neunziger Jahre überwunden werden muss." Jewgenij Jasin, wissenschaftlicher Leiter der Hochschule für Wirtschaft und ehemaliges Mitglied der Reformregierungen, stimmt vielen der kritischen Äußerungen Chodorkowskijs zu, hält es jedoch für ungerecht, „die ganze Schuld für die neunziger Jahre allein bei den liberalen Reformern auszumachen." Das ehemalige Mitglied der Dumafraktion von SPS, Konstantin Remtschukow, geht davon aus, dass „die öffentliche Reue [Chodorkowskijs] eines der Glieder einer Ereigniskette ist, die zur Begnadigung des Oligarchen führen sollen. [...] Der nächsten Schritte wären der Verkauf des Vermögens, ein Gerichtsverfahren, eine Verurteilung und die Begnadigung.", meint Remtschukow.
„Ich kenne Michail Borisowitsch [Chodorkowskij] viel Jahre", erzählt der Präsident des Industriellen- und Unternehmerverbandes RSPP, Arkadij Wolskij. „Er hat nie die These vertreten, dass ‚geteilt‘ werden müsse. Jetzt vertritt er sie, und das ist etwas wirklich Neues." Der Vorsitzende des Direktorenrates der Investitionsbank „Renaissance Kapital" Oleg Kiselew stimmt „der Forderung Chodorkowskijs, die Privatisierung zu legitimieren, hundertprozentig zu", hält aber die Konzeption „aufteilen" für „gefährlich".
Nach Ansicht des Mitgliedes des Zentralen Politischen Rates von Jabloko, Aleksej Melnikow, macht das Dokument einen aufrichtigen Eindruck...und das ist in Zeiten des Zynismus viel wert". Melnikow meint, dass bereits die Existenz dieses Briefs zeige, dass Chodorkowskij trotz seiner Inhaftierung ungebrochen sei. „Einen solchen Brief in der Gefängniszelle sowie unter dem Druck von Staatsanwaltschaft und der Ungerechtigkeiten der ‚Basman-Rechtssprechung‘ zu schreiben, ist keine einfache Sache. Das zeigt, dass er ein starker und freier Mensch ist."
Für Igor Jurgens, den Exekutivsekretär des RSPP, ist „dieser Artikel zweifellos die Ankündigung einer politischen Karriere... Es wird ein neuer, geeigneter Akteur gebraucht, der es schafft, die absolut verstreuten und einigungsunfähigen demokratischen Kräfte zusammenzuführen. Das sollte jemand sein, der vom Kreml akzeptiert wird. Ob Chodorkowskij dieser Akteur sein kann, wird sich später zeigen, wenn er für seine Schuld gebüßt haben wird. Doch die Ankündigung ist gemacht. Und er verfügt über sehr viel mehr von jenem Potential, das ein neuer Anführer der demokratischen Bewegung vorweisen muss, als es Oppositionelle vom Schlage eines Wladimir Gusinskij oder Boris Beresowskij, oder auch legitime Politiker liberaler Ausrichtung – von Irina Chakamada bis Garri Kasparow – haben."
Der Co-Vorsitzende des Rates für nationale Strategie Iosif Diskin hält den Text für ein Zeugnis dafür, dass „Chodorkowskij eindeutig ins Lager der Großmächtler wechselt", wobei er eine bemerkenswerte Führungsfigur wäre, da er in Einklang mit der russischen Tradition „gesessen" und sich seine Position dadurch aufrichtig erlitten hätte.
Der Präsident der Stiftung für effektive Politik Gleb Pawlowskij, der den Brief dem Genre „Briefe aus dem Gefängnis" zuordnete, sprach davon, dass „in dem Brief keinerlei Anspruch auf Führerschaft gestellt wird. Aus der Zelle heraus ist es überhaupt schwierig, jemandem Lehren zu erteilen. Er hat alle bestehenden liberalen Vorhaben kritisiert und gewisse positive Punkte vorgeschlagen. Doch die wollen mir fast überzogen erscheinen."
Der Politologe und Vorsitzende des Nationalen Bürgerrates für internationale Beziehungen Sergej Markow nannte den Artikel Chodorkowskijs „völlig banal". Er sieht in ihm einen „Akt moralischer Reue", der eine notwendige Voraussetzung für eine „Läuterung des russischen Liberalismus" sei.
Der Erste Stellvertretende Generaldirektor der Stiftung „Zentrum für politische Technologien", Boris Makarenko, legt folgende Version der Entstehung des Artikels vor: „Chodorkowskij präsentiert sich in seiner jetzigen Situation in einer Rolle, in derer bislang nicht aufgetreten war - in der eines liberalen Vordenkers und Ideologen. Das ist nicht mit der Ankündigung einer Parteigründung gleichzusetzen, doch er bietet sich als Mitstreiter eines jeden neuen liberalen Projektes an.
1.-3. April 2004
Michail Chodorkowskij hat in einer der NTV-Sendung „Meinungsfreiheit" übermittelten Stellungnahme erklärt, dass der von ihm unterzeichnete Artikel „Die Krise des Liberalismus in Russland" ein gemeinschaftliches Werk sei, wobei allein er für jedes dort geschriebene Wort die Verantwortung übernehme. Der Text der Stellungnahme wurde am 2. April von dem Moderator der Sendung, Sawik Schuster, live verlesen:
Stellungnahme von Michail Chodorkowskij:
„Ich habe mehrere Briefe geschickt, aber wann die ankommen werden, und ob sie überhaupt ankommen werden ... Es gibt jedoch einige Punkte, die ich klarstellen möchte.
Erstens. Wer ist der Autor des Beitrages in den „Vedomosti"? Ich bin kein Journalist und kein Schriftsteller und jedem, der ein bisschen Verstand hat, wird klar sein, dass es sich um ein Gemeinschaftswerk handelt. Ich bin den Betreffenden für ihre Hilfe sehr dankbar. Unterschrieben wird ein solcher Beitrag jedoch von dem, der für jedes einzelne Wort die Verantwortung übernimmt.
Zweitens. Warum gerade jetzt? Ich hielt es nach den Wahlen, die die Haltung der Gesellschaft, unter anderem zu meiner Person, gezeigt haben, für angebracht, mich zu äußern. Ich denke jedoch, dass die Führer der Liberalen mit größerem Recht eine solche Analyse anstellen können. Nach den Präsidentenwahlen wurde mir klar, dass ich nicht mehr warten brauchte und gab das Signal zur Veröffentlichung.
Drittens. Warum? Ich habe es bereits in dem Brief erklärt: Ohne eine ehrliche und öffentliche Fehleranalyse bleibt der Weg nach vorn versperrt.
Viertens. Wann habe ich meine Position geändert? Meine Haltung zur Frage des Eigentums habe ich nach den Wahlen geändert, als sich gezeigt hatte, dass 90 Prozent der Leute unser Eigentum als nicht legitim betrachten. Ich möchte nicht, dass ich wegen des Geldes für ein Stück Dreck gehalten werde. Ich habe ohnehin nie am Geld geklebt. Zu allen anderen Fragen - und jeder, der mich seit langem kennt, wird das bestätigen – hat sich meine Haltung nicht geändert, mag es einem gefallen oder auch nicht. Wie das von der Öffentlichkeit aufgenommen wird, werde ich heute nach der „Meinungsfreiheit" erfahren.
Der Präsident der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer, Arkadij Wolskij, hat seine Ansicht zu diesem Artikel geäußert, zu dem es „so viele unbegründete Mutmaßungen und Geschwätz gegeben [gibt]. Darüber, dass Chodorkowskij ihn gar nicht geschrieben habe oder dass dieser Artikel ein Signal der Unternehmer sei, gegenüber der Regierung kapitulieren zu wollen. Dies alles ist – milde ausgedrückt – nicht ganz zutreffend. Über Leute, die Chodorkowskij nahe stehen, habe ich bestätigt bekommen, dass der Artikel von ihm ist, und dass er einen ganzen Monat an ihm gearbeitet hat. Ich unterstütze den Artikel."
Der JuKOS-Teilhaber Leonid Newslin gab der Zeitung „Iswestija" am 2. April ein Interview, dass er als „letztes Interview" bezeichnete. Er verkündete, dass er sich aus dem politischen Leben Russlands zurückziehen werde und Irina Chakamadas, die die Gründung einer neuen Partei plant, die versprochene Unterstützung nicht gewähren könne. Zudem könne er sich nicht mehr um das Schicksal von JuKOS. Nach Newslins Aussagen hat ihn der Brief Chodorkowskijs „Die Krise des Liberalismus in Russland" zu diesen Schritten bewegt."
Irina Chakamada stellte fest, dass die Methoden, die Putin im Kampf gegen die Oligarchen einsetzt, „eine noch schrecklichere Oligarchie hervorbringen werden – eine der „Silowiki" [der Vertreter eines Machtstaates]". Dann würde eine Situation entstehen, in der „jederzeit jemand kommen und sagen kann: Verschwinde von hier, oder du landest im Gefängnis! Dort gibt’s Platzt nicht nur für Chodorkowskij, sondern auch für allen anderen".
Der Leiter des Institutes „Offene Gesellschaft", George Soros hat seinen „Rückzug" aus Russland so erklärt: „Putin ist an die Macht gekommen und hat versprochen, eine Diktatur des Gesetzes zu errichten. Die Form wird gewahrt – die Verfolgung Chodorkowskijs erfolgt auf gerichtlichem Wege. Doch braucht Russland meiner Meinung nach keine Diktatur des Gesetzes, unter der willkürlich entschieden wird, welcher Gesetzesbrecher bestraft und welcher begnadigt wird. Russland braucht einen Rechtsstaat. Dann wären „willkürliche" Entscheidungen nicht möglich. Daher hat Russland nach der Eröffnung des Verfahrens gegen Chodorkowskij, einen der progressivsten Oligarchen des Landes, einen guten Teil seiner Attraktivität für Investitionen verloren."
3.-6. April 2004
Der Artikel „Die Krise des Liberalismus in Russland" hat in den russischen Printmedien eine stürmische Diskussion ausgelöst, während das Thema im Fernsehen praktisch nicht behandelt wurde. In der vergangenen Woche wurde der Artikel im Fernsehen nur ein einziges Mal erörtert, am 2. April in der Talkshow „Meinungsfreiheit" des Senders NTV (Platz vier bei den Einschaltquoten). Gleichzeitig erscheinen weiterhin Artikel, in denen die Autorenschaft Chodorkowskijs in Zweifel gezogen wird.
Das Komitee „2008: Freie Wahl“ (Vorsitz: Garri Kasparow, Mitglieder: Boris Nemzow, Julija Latynina, Boris Nadeschdin, Sergej Iwanenko, Irina Jasina, Viktor Schendrowitsch, Jewgenij Kiselew u.a.) gab zu dem Artikel „Die Krise des Liberalismus in Russland" eine Erklärung heraus, in der es unter anderem heißt: „Michail Chodorkowskij ist zweifellos ein politischer Gefangener. Deswegen müssen jetzt alle Anstrengungen – öffentliche und politische – unternommen werden, damit er frei kommt. Das Komitee ‚2008: Freie Wahl‘ ist überzeugt: Die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit seitens der Gesellschaft, die Freilassung Chodorkowskijs aus der Untersuchungshaft zu erreichen und sein Verfahren nach europäischem und nicht nach ‚Basman‘-Recht durchzuführen, wird auch in Zukunft einer der Hauptaspekte einer Diskussion über die Zukunft sein - die Zukunft nicht nur des Liberalismus, sondern ganz Russlands."
Auch westliche Medien reagierten auf die Veröffentlichung des Artikels. Der stellvertretende Außenminister Großbritanniens, Bill Rummel äußerte seine Besorgnis in Bezug auf die Entschlossenheit Russlands, sich für Pluralismus und Medienfreiheit einzusetzen. Beides sind Grundbedingungen für eine Demokratie." Rummel erklärte, dass er vorhabe, während seines bevorstehenden Besuches in Moskau Wladimir Putin „ernste Fragen zu Michail Chodorkowskij zu stellen" Das „Wallstreet Journal“ schreibt, dass „es in der ganzen Affäre mit den Anschuldigungen aus der Zelle etwas von einem erzwungenen Schuldeingeständnis gibt." Die „Neue Zürcher Zeitung“ richtet die Aufmerksamkeit ihrer Leser darauf, dass die Veröffentlichung im Vorfeld des Gerichtsverfahrens gegen Lebedew und Chodorkowskij erfolgte. „The Times“ kommt bei der Analyse des Falles JuKOS zu folgendem Schluss: „Ölfirmen wie JuKOS oder „Sibneft" haben seit den neunziger Jahren eine Senkung ihrer Steuern von 24 auf 12-13 Prozent erreicht. Der Kreml möchte einen Teil des Geldes zurück haben, obwohl die Firmen diese Steuern absolut legal nicht gezahlt haben".
Der Artikel von Chodorkowskij wird weiterhin auch von Vertretern der russischen Elite erörtert. Der Vorsitzende des Rechnungshofes, Sergej Stepaschin, meint, dass die Zeit der Oligarchen in Russland vorbei sei: „Ich kann mir heute nicht vorstellen, dass irgendeiner der Reichen auf Putin oder Fradkow einen Einfluss ausüben könnte. Der Fall, so wie er sich für Chodorkowskij entwickelt hat, ist zu einem gewissen Signal geworden: Leute, das Land lässt euch verdienen, da muss man sich seinem Land gegenüber korrekt verhalten."
6.-8. April 2004
Die Erklärung des stellvertretenden Justizministers Jurij Kalinin vom 6. April, der zu Folge Chodorkowskij bestritten habe, der Verfasser des Artikels zu sein, hat sich sofort auf dem Wertpapiermarkt niedergeschlagen. Nach Aussage des Leiters der Analysesparte des Finanzdienstleisters Brokerkreditservice, Maxim Scheïn „haben die JuKOS-Aktien die Ölwerte, ja den ganzen Markt nach unten gezogen.“ Wie Genrich Padwa, ein Anwalt Chodorkowskijs erklärte, sei doch lediglich bekannt gegeben worden, dass der Text nicht in seiner endgültigen Form von Chodorkowskij aus dem Gefängnis übermittelt wurde, sondern auf „legalem Wege“, nämlich entweder fragmentarisch in Briefen oder als mündliche Botschaft an die Anwälte. Anton Drel, ein weiterer Anwalt Chodorkowskijs, entschuldigte sich bei der Verwaltung des Untersuchungsgefängnisses [in dem Chodorkowskij einsitzt] dafür, dass in der Zeitung Wedomosti der Artikel mit der Unterschrift seines Mandanten veröffentlicht wurde. Er bekräftigte, dass Michail Chodorkowskij „zu keiner Zeit irgend einen Text in materieller Form durch seine Anwälte aus dem Gefängnis herausgeschafft hat, ebenso, wie die Anwälte keinerlei Unterlagen aus dem Gefängnis mitgenommen haben, da dies gesetzlich verboten ist“. Drel sagte, dass Chodorkowskij gewisse Überlegungen „nicht nur mir mitgeteilt hat, sondern auch dem recht zahlreichen Kreis von Anwälten, die ihn in der Zelle aufsuchen“. Nach Angaben des Verteidigers hätten die Anwälte diese Gedanken dann vor den Toren des Untersuchungsgefängnisses zu Papier gebracht.
Der Direktor des Institutes für Transformationswirtschaft, Jegor Gajdar, erklärt auf einer Pressekonferenz am 7. April, dass er in dem Text „eine Menge Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten“ entdeckt habe. Ebenso widersprach er einer Schlüsselstelle des Artikels, nämlich der „scharfen Gegenüberstellung der ‚schlechten’ neunziger Jahre und der ‚guten’ Jahre nach 2000“. Vor seiner Analyse rechtfertigte sich Gajdar: „Ich hatte den Artikel nicht kommentieren wollen, da sein Autor sich im Gefängnis befindet.“. Nach der Erklärung Chodorkowskijs, dass der Artikel gemeinschaftlich verfasst worden sei, habe er schließlich die Möglichkeit zur Stellungnahme gesehen.
Auch der Stellvertretende Kultur- und Informationsminister Leonid Nadirow äußerte sich zu dem Artikel Chodorkowskijs. Er erklärte auf einer Pressekonferenz am 7. April: „Dort ist eine generelle Frage zu vernehmen, nämlich: ‚Wie werden wir morgen leben?’ Und ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit ans Herz legen, den Brief Michail Chodorkowskijs zu lesen. Ich vergleiche diesen Brief mit einem Text, den wir alle aus der Schule kennen, nämlich mit „Was tun?“ von Nikolaj Tschernyschewskij. Beide Artikel wurden in der Haft geschrieben“.
8.-9. April 2004
Der Stellvertretende Justizminister Jurij Kalinin verlas auf einer Pressekonferenz am 8. April eine Erklärung von Michail Chodorkowskij an den Leiter des Untersuchungsgefängnisses, in der es heißt: „In Bezug auf die Veröffentlichung des Artikels mit meinem Namen in der Zeitung Wedomosti erkläre ich, dass ich die in dem Artikel aufgeführten Gedanken während der Sichtung der Verfahrensunterlagen meinem Anwälten und Ermittlungsbeamten gegenüber geäußert habe, da sie meiner Ansicht im Zusammenhang mir den gegen mich vorgebrachten Beschuldigungen stehen. Ich habe der Zeitung keine handschriftlichen oder von mir unterzeichneten gedruckten Unterlagen übergeben. Nachdem ich mich mit dem Inhalt des Artikels vertraut gemacht habe, kann ich ihn sehr wohl unterschreiben“. Einige Medien haben das als ein Dementi Chodorkorkowskijs interpretiert. Doch hatten Chodorkowskijs Anwälte Anton Drel und Genrich Padwa darauf hingewiesen, dass Chodorkowskij ihnen den Text des Artikels nicht „in materieller Form“ übergeben habe, sondern dass Fragmente des Artikels in Briefen an verschiedene Personen enthalten waren, ebenso, wie in mündlichen Mitteilungen, die von den Anwälten nach Verlassen des Gefängnisses niedergeschrieben wurden.
Wie der Stellvertretende Justizminister Jurij Kalinin mitteilte, wird die Verwaltung des Untersuchungsgefängnisses Matrosenstille auf Grund vielfältiger Meldungen, dass die Anwälte Chodorkowskijs „verbotene Unterlagen“ aus dem Gefängnis bringen, diese Anwälte zukünftig stärker kontrollieren. Die Erlaubnis zu einem Schriftwechsel, zu Besuchen und zur Übergabe von Unterlagen kann laut Gesetz nur der Ermittlungsbeamte geben. Michail Chodorkowskij hat das Recht zum Briefwechsel mit Freunden und Verwandten, wobei diese Briefe einer unbedingten Überprüfung unterliegen. Die Verwaltung des Untersuchungsgefängnisses besteht darauf, dass jetzt alle Unterlagen, die die Anwälte aus der Zelle bringen, einer zusätzlichen Zensur unterworfen werden.
Andrej Illarionow, Berater des Präsidenten bemerkte zum Inhalt des Artikels, dass es „in Russland keine Krise des Liberalismus geben kann, da der Gegenstand dieser Krise fehlt“. Nach Ansicht Illarionows „gibt es in Russland keine einzige Partei, die liberale Werte konsequent vertreten würde“. Illarionow unterstrich auch, dass hinsichtlich der Frage, wer der Verfasser des Artikels ist, „eine gewisse Unsicherheit besteht“ und eine Einschätzung des Inhalts in vielerlei Hinsicht davon abhängt, wer ihn tatsächlich geschrieben habe.
Der Vizepräsident des Industriellen und Unternehmerverbandes RSPP Igor Jurgens kam in einem Interview der Rossijskaja Gazeta zum Verhältnis von Regierung und Wirtschaftskreisen auch auf den Fall JuKOS zu sprechen. Er sagte, dass eine der Voraussetzungen für ein günstiges Investitionsklima im Vertrauen der Wirtschaft gegenüber der Staatsmacht bestehe, und fügte hinzu: „Und da gibt es bei uns Probleme. Besonders nach den Ereignissen um JuKOS und der Rede des Präsidenten vor der Industrie- und Handelskammer, in der er erklärte, dass gegen weitere fünf bis sieben Großunternehmer schwerwiegende Anschuldigungen im Raume stehen würden“. Durch die „Unsicherheit in der Frage, ob die Eigentumsrechte in Russland ein für allemal geklärt sind“, würde die Wirtschaft - so Jurgens - derzeit gehemmt. „Zumindest ist es unanständig, jemanden, der sich 1993 von den damaligen Gesetzen leiten ließ, jetzt nach den Gesetzen von 2004 zu verurteilen“, meinte Jurgens.
11.-13. April 2004
Michail Chodorkowskij hat bekräftigt, dass er der Verfasser des Artikels „Die Krise des Liberalismus in Russland“ sei. In einer Erklärung, die er über seine Anwälte Anton Drel und Karinna Moskalenkoabgab, heißt es: „1. Ich habe die Tatsache, dass ich der Verfasser des Artikels „Die Krise des Liberalismus in Russland“ in einem Brief an den Redakteur der Zeitung Wedomosti bestätigt. Diesen Brief habe ich vor einer Woche abgeschickt, er befindet sich derzeit in Händen der Gefängnisleitung; 2. Der Text ist im Gefängnis diktiert worden und wurde außerhalb des Gefängnisses editorisch bearbeitet. Das Ergebnis wurde von mir autorisiert. 3. Die Gesetzlichkeit dieser Art der Erstellung von Unterlagen ist durch die Leitung der Hauptverwaltung für Strafvollzug des Justizministeriums bestätigt worden. 4. Ich halte es für sinnlos und unfair, in Zweifel zu stellen, dass ich der Verfasser des Artikels bin und dabei jene Beschränkungen auszunutzen, denen ich unterworfen bin“.
Jurij Schmidt, ein Anwalt Chodorkowskijs, meinte: „Ich habe in diesem Artikel weder Reue, noch ein Entgegenkommen ausmachen können, also nichts von dem, was die Ultraliberalen dort gesehen haben wollen.“ Nach Angaben des Anwalts habe Chodorkowskij mehrfach erklärt: „Ich bin kein Beresowskij und keine Chakamada, ich habe der Regierung nicht den Kampf angesagt. Nur in ganz bestimmten Fragen, die im Interesse der russischen Gesellschaft liegen, befinde ich mich in Opposition zur Staatsführung“. „Wenn der Artikel ein Reuebekenntnis wäre, würde Chodorkowskij von der Regierung gewisse Vergünstigungen oder Erleichterungen bekommen. Und dies ist derzeit nicht geschehen“ betont Schmidt und stellte fest, die Ansicht der Journalistin Tatjana Latynina, die davon ausgeht, dass Chodorkowskij in dem Artikel einen „Anspruch auf eine politische Führungsrolle verkündet“, käme der seinigen am nahesten.
Der Präsident der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer (RSPP), Arkadij Wolskij erklärte, dass er dem Brief Chodorkowskijs zustimme. Er teile dessen Ansichten zur Rolle der Wirtschaft bei der Bewältigung jener Aufgaben, denen sich der Staat gegenübersieht. Wolskij unterstützte auch den Vorschlag Oleg Derepaskas für eine Klärung der Beziehungen zwischen Staat und Unternehmern. Dieser Initiative zu Folge hätten die Unternehmer eine Steuer von 75% auf jenen Gewinn zu zahlen, den sie während der Privatisierung durch nicht gezahlte Steuern gemacht haben. Nach Angaben von Wolskij würden viele Unternehmer eine solche Form der Rückführung dieser Mittel an den Staat begrüßen. „Man kann ja nicht alle ins Gefängnis stecken. Wir werden Lösungen finden können“ sagte der Präsident der RSPP.