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„Die Türkei braucht eine politische Mitte“ - Cem Özdemir im Gespräch

Lesedauer: 5 Minuten

29. Juli 2008

Marc Berthold: Herr Özdemir, die Türkei befindet sich in einer innenpolitischen Krise. Das Verfassungsgericht verhandelt diese Woche über das Verbot der Regierungspartei AKP. Jetzt explodierten in Istanbul Bomben. Sehen Sie einen Zusammenhang?

Cem Özdemir: Es ist offensichtlich, dass diese Anschläge das Ziel verfolgen, die Polarisierung der Türkei zu verschärfen und die Lage weiter zu destabilisieren. Daran haben einige Kräfte Interesse, die PKK, aber auch Gruppen innerhalb des Staates. Was den Anschlag und die Täter angeht, warne ich jedoch vor voreiligen Schlüssen. Es ist zu hoffen, dass die besonnenen Stimmen in der Türkei die Überhand gewinnen und die momentane Krise mit rechtsstaatlichen Mitteln überwunden wird.

Wo genau verlaufen die Konfliktlinien in dieser Krise?

Das Land ist gespalten. Es gibt, wenn auch grob vereinfacht, zwei Gruppen, die sich gegenüber stehen: Auf der einen Seite steht die Regierung Erdogan und ihre Anhänger. Darunter sind viele Menschen aus dem anatolischen Teil des Landes, die gläubig beziehungsweise konservativ sind und nun in die Mittelschicht drängen. Sie sind wirtschaftlich zunehmend erfolgreich, und einige Kommentatoren meinen, bei diesen Menschen gar Zeichen einer protestantischen Arbeitsethik zu erkennen. Auch der aktuelle Staatspräsident Abdullah Gül entstammt einem solchen Hintergrund. Auf der anderen Seite gibt es Gruppen, die befürchten, die AKP könne die Islamisierung der Türkei betreiben. Hier wird etwa die Aufhebung des Kopftuchverbots für Studentinnen herangezogen.

Gibt es Anzeichen für eine solche Agenda?

Die AKP hat sicher den Fehler gemacht, mit der Aufhebung des Kopftuchverbots nicht zugleich auch die Meinungsfreiheit, die Frauenrechte und auch die Rechte der Gewerkschaften gestärkt zu haben. Aber auch wenn man diese Befürchtungen der Menschen ernst nehmen muss, so hat bislang niemand einen stichhaltigen Beweis dafür vorgelegt, die AKP - vor allem an ihrer Spitze - den säkularen Charakter der Türkei abschaffen wollte. Die AKP ist islamisch-konservativ, sie ist aber nicht antidemokratisch - ganz sicher nicht mehr als die anderen im Parlament vertretenen Parteien wie die CHP oder MHP.

Rechnen Sie damit, dass das Verfassungsgericht die AKP verbieten wird?

Es spricht einiges dafür, dass die Richter genau das tun werden. Es könnte aber auch so kommen, dass die AKP harte Auflagen bekommt, indem man ihr etwa die staatliche Unterstützung streicht, sie aber letztlich doch nicht verboten wird. Aber auch wenn es zu einem Verbot kommen sollte, wird die AKP unter einem anderen Namen weitermachen und bei Neuwahlen wieder an die Regierung kommen. Das Problem im Land ist übrigens nicht so sehr die AKP, sondern der Mangel an Opposition. Vor allem fehlt es an einer wirkungsmächtigen Mitte-Links-Partei, die nicht nationalistisch denkt.

Ist die kürzliche Gründung einer Grünen Partei ein Hoffnungsschimmer?

Ganz sicher. Denn was die Türkei dringend bräuchte ist eine echte, vor allem auch ökologische Opposition, die mehr Demokratie und Offenheit möchte. Ich habe gesagt, dass die Rede von zwei Gruppen grob vereinfachend ist. Es gibt in der Türkei nämlich eine Menge Menschen, die keine Präferenz für eine der beiden Seiten haben, weder für die regierende AKP noch für die Opposition. Das sind Menschen, die eine Alternative suchen, nämlich eine ökologische, liberale, sozialdemokratische Kraft, die ihrem Selbstverständnis nach pro-westlich ist. Da ist die Gründung einer Grünen Partei ein wichtiger Schritt und ich gehe davon aus, dass es in den nächsten Jahren weitere Partei-Neugründungen geben wird. Bis dahin ist aus meiner Sicht die AKP sicherlich noch die Partei, die am ehesten in der Lage ist, die dringend anstehenden Reformen in Angriff zu nehmen. Man kann es auch optimistisch formulieren: Vielleicht erleben wir auch die Geburtsstunde einer neuen Republik, die sich von den Fesseln des autoritären Staates und auch des autoritären Denkens befreit. Dann wäre die momentane Krise Teil einer Emanzipation, an deren Ende ein Land steht, das die Herausforderungen annehmen und bewältigen kann: Die Lösung der kurdischen Frage, die Rechte der ethnischen und religiösen Minderheiten, ein kritischer Umgang mit der eigenen Geschichte bis hin zur Entstehung einer Erinnerungskultur.

Was könnte die Rolle Europas dabei sein? Immerhin ist die Türkei ein EU-Beitrittskandidat?

Die EU muss klug agieren und auch im Fall eines Verbots der AKP nicht mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen. Sie sollte eher die Beitrittsbedingungen verschärfen. Die EU könnte ganz konkret verlangen, dass die Türkei ihr Parteiengesetz ändert. Denn mit innerer Demokratie haben die türkischen Parteien nicht viel am Hut. Und zweitens sollte die EU verlangen, dass die Türkei die Verfassung ändert, die es zu leicht ermöglicht, dass Parteien verboten werden.
Ich würde mir aber auch ein Wort der führenden EU-Mitgliedsstaaten wünschen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass eher der neue amerikanische Präsident die pro-westlichen Kräfte im Land stärken wird als Bundeskanzlerin Merkel oder der französische Staatspräsident Sarkozy. Wir brauchen überzeugende Europäer an der Spitze, die die europäische Idee mit Leidenschaft verkörpern und beim Wort „Vision“ nicht an eine Krankheit denken. Zu dieser Vision gehört auch eine nach Westen gerichtete Türkei, die Islam, Demokratie und Minderheitenrechte vereint. Schließlich ist die Türkei für uns direkte Nachbarschaft und eine Brücke in einer zutiefst instabilen Region, da kann jeder Partner, zumal einer, mit dem man gleiche Werte teilt, nur hilfreich sein, um zu Frieden und Stabilität in der Region beizutragen. Nach dem einstimmig gefassten Beschluss der Regierungschefs, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, muss Europa der Türkei auch glaubhaft vermitteln, dass sie in seine Reihen gehört. Nicht nur die Türkei muss ihre Hausaufgaben machen, sondern auch wir.

29. Juli 2008

Cem Özdemir ist seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments (Die Grünen / Freie Europäische Allianz). Der außenpolitische Sprecher seiner Fraktion ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Die Fragen stellte Marc Berthold, Referent für Außen- und Sicherheitspolitik bei der Heinrich-Böll-Stiftung.

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