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Vor der Wahl ist nach der Wahl

Das Gebäude der Staatsduma in Moskau. Originaltitel: The State Duma of Russia. Foto: Bernt Rostad. Lizenz: Creative Commons BY 2.0.

16. November 2007
Von Jens Siegert
Von Jens Siegert, Moskau

Zusammenfassung

Der Ausgang der Dumawahlen ist schon heute - zwei Wochen vor der Abstimmung - weitgehend klar. Die Partei Einiges Russland, die massiv von der Präsidialadministration unterstützt wird, wird eine absolute Mehrheit erreichen. Nur die Kommunistische Partei, die mit ihrer Fundamentalopposition zum System nach wie vor Rückhalt in der Gesellschaft hat, wird wohl sicher in die neue Duma gelangen. Die Chancen von zwei weiteren Parteien, der ebenfalls aus dem Kreml unterstützten Partei Gerechtes Russland, die das Spektrum links der Mitte abdecken soll, und der Schirinowskij-Partei LDPR, die nationalistisch gesinnte Protestwähler anspricht, sind unklar. Den Liberalen ist es nicht gelungen, ihre Kräfte zu sammeln; sie werden auch dieses Mal nicht ins Parlament einziehen. Bemerkenswert ist, dass es erstmals keine internationale Wahlbeobachtung durch die OSZE geben wird. Diese Lücke werden aber die Beobachter aus der GUS füllen, die - sicher noch in der Wahlnacht -bestätigen werden, dass die Wahl frei, gleich und demokratisch war.

Die Wahl zur Duma ist entschieden

Rechnerisch ist der Ausgang der Dumawahlen am 2. Dezember 2007 längst entschieden. Die Kremlpartei Einiges Russland (ER) wird die absolute Mehrheit gewinnen. Wahrscheinlich wird dieses Ergebnis wegen der neuen Sieben-Prozent-Hürde - und damit vielen Stimmen für Parteien, die daran scheitern und bei der Sitzverteilung nicht mitgezählt werden -, zu einer Zweidrittelmehrheit im neuen Parlament reichen. Darüber hinaus lässt sich gegenwärtig nur der erneute Einzug der Kommunisten (KPRF) ins Parlament mit ausreichender Sicherheit voraussagen. Meinungsumfragen zufolge werden sie zwischen 10 und 15 Prozent der Stimmen erhalten. Chancen haben noch zwei weitere bereits in der Duma vertretene Parteien. Die zweite Kremlgründung Gerechtes Russland und die Schirinowskij-Partei LDPR liegen je nach Umfrage, Umfrageinstitut und Umfragezeitpunkt mal über (eher die LDPR) und mal unter (meist das Gerechte Russland) der Sieben-Prozent-Hürde. Die liberalen Parteien Jabloko und Union der Rechten Kräfte (SPS) haben ebenso wie die weiteren fünf zur Wahl zugelassenen Parteien keine Chance, in der neuen Staatsduma vertreten zu sein. Diese Prognosen sagen jedoch nur wenig darüber aus, was das Ergebnis bedeutet und was daraus folgen wird.

Parteiengesetz und Wahlgesetz

Die Vorbereitungen des Kremls auf die Dumawahlen 2007 begannen schon im Sommer 2003, also noch vor der Wahl zum jetzigen Parlament. Bereits damals wurde die Wahlhürde für 2007 auf sieben Prozent angehoben. Begründet wurde diese im internationalen Vergleich hohe Barriere damit, es solle für die, nach Meinung des Kremls, zu vielen kleinen Parteien ein Anreiz geschaffen werden, sich zu größeren Einheiten zusammen zu schließen. Nur so könne ein stabileres Mehrparteiensystem entstehen. Ähnlich wurden auch weitere Verschärfungen sowohl des Wahl- als auch des Parteienrechts im Laufe der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode begründet. Alle zielen darauf ab, die Gründung von Parteien, ihre Weiterexistenz und ihre Zulassung zu Wahlen zu erschweren und das Verhalten der Abgeordneten im Parlament zu disziplinieren. Die einschneidendste Änderung des Wahlgesetzes war die Abschaffung der Direktwahlkreise zugunsten eines reinen Verhältniswahlrechts. Während bisher analog zum deutschen Wahlrecht die Hälfte der Abgeordneten in Direktwahlkreisen gewählt wurde, wird die neue Duma nur noch über Parteilisten nach einem reinen Verhältniswahlrecht bestimmt. Unabhängige Abgeordnete wird es im neuen Parlament auch später, zum Beispiel als Folge von Partei- oder Fraktionsaustritten, nicht mehr geben. Abgeordnete, die ihre Fraktion oder Partei verlassen, verlieren künftig ihr Mandat.

Die Änderungen des Parteiengesetzes sind kaum weniger bedeutend. Neuzugründende oder bestehende Parteien müssen mindestens 50.000 Mitglieder nachweisen. Außerdem müssen in mindestens der Hälfte der gegenwärtig 86 russischen Regionen regionale Untergliederungen mit jeweils mindestens 500 Mitgliedern aktiv sein. Nur 16 registrierte Parteien konnten diesen Nachweis nach Ansicht der staatlichen Registrierungsbehörde Rosregistrazija erbringen. Alle anderen Parteien wurden im Januar dieses Jahres zwangsweise aufgelöst. Darunter befand sich auch die Russische Republikanische Partei (RPR) des Abgeordneten Wladimir Ryschkow, der seit 1993 viermal hintereinander im Gebiet Altai ein Direktmandat erringen konnte. Ryschkow klagte gegen die Entscheidung der Registrierungsbehörde, die knapp 20.000 der von seiner Partei vorgelegten 63.000 Unterschriften für ungültig erklärte. Mitte des Jahres bestätigte das Oberste Gericht Russlands die Auflösung der Partei. Ryschkow reichte daraufhin Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein.

Die liberalen Parteien

2003 war es keiner liberalen Partei gelungen, die damals geltende Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden und in die Duma einzuziehen. Die gesamte Legislaturperiode über, aber mit wachsender Intensität seit Anfang 2006, wurde in unterschiedlichen Kombinationen über Zusammenschlüsse und Koalitionen liberaler Parteien und Politiker verhandelt. Grundsätzlich herrschte Einigkeit, dass es dem Kreml schwerer fallen würde, einer einigen liberalen Opposition den Wiedereinzug ins Parlament zu verwehren. Diese mehrfach und in unterschiedlichen Kombinationen geführten Verhandlungen und Auseinandersetzungen im Detail nachzuzeichnen ist hier nicht genug Raum. Die entscheidenden Grundlinien und das Ergebnis sollen aber kurz skizziert werden. Es gab fünf Hauptakteure: Jabloko, SPS, Ryschkow mit Republikanischer Partei, den ehemaligen Ministerpräsident Michail Kasjanow und den ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow. Kasparows und Kasjanows Bemühungen waren von Anfang an stärker auf die Präsidentenwahlen im kommenden Frühjahr orientiert als auf die Dumawahlen. Beide haben keine Parteien. Diese possessive Formulierung ist nicht zufällig gewählt. In ihr drückt sich das grundsätzliche Dilemma russischer Parteien aus, die meist als Führerorganisationen gegründet werden und entsprechend funktionieren.

Dieser Logik folgend versuchte Michail Kasjanows 2005 eine bestehende Partei, die Demokratische Partei, als Vorsitzender zu übernehmen. Dieser Versuch jedoch wurde durch eine Intrige des Kremls vereitelt, und Kasjanow blieb ohne Partei. Er gründete daraufhin eine „Bewegung" unter dem Namen „Volks-Demokratische Union", die er seit Sommer 2007 in eine Partei umzuwandeln versucht. Die Teilnahme an der Dumawahl 2007 ist aber nicht mehr das Ziel. Garri Kasparow war 2006 der wichtigste Initiator des außerparlamentarischen Oppositionsbündnisses „Das andere Russland". Weitere Gründer waren die National-Bolschewistische Partei (NBP) des Schriftstellers Eduard Limonow, Michail Kasjanow, der radikale Jugendverband AKM (Avantgarde der Kommunistischen Jugend) und eine Reihe weiterer Einzelpersonen. Auch Wladimir Ryschkow gehörte dem „Anderen Russland" zeitweise an. Insbesondere die NBP hat, was nicht nur Kasparow sondern den meisten Oppositionsorganisationen weitgehend fehlt: eine relativ große Zahl disziplinierter und aktionsbereiter, meist jugendlicher Mitglieder (Schätzungen reichen von 4.000 bis 30.000). Das „Andere Russland" kritisiert die Politik des Kremls grundsätzlich. Kasparow nennt das gegenwärtige politische System eine Diktatur und schließt eine Teilnahme an Wahlen als gegenwärtig sinnlos aus, da deren Ergebnis von der Machtelite vorbestimmt sei. „Anderes Russland" rief ab Frühjahr 2007 in verschiedenen russischen Städten zu „Märschen der Nichteinverstandenen" auf, die von massiven Polizeiaufgeboten mehrfach gewaltsam aufgelöst wurden. Jabloko und SPS schlossen sich dem „Anderen Russland" vor allem wegen der Beteiligung von nationalistischen (NBP) und stalinistischen Organisationen (u.a. AKM) nicht an. Kasparow schmähte sie daraufhin als vom Kreml gesteuert.

Verhandlungen zwischen Jabloko, SPS und Ryschkow über ein Zusammengehen oder einen Zusammenschluss scheiterten mehrfach. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es gibt persönliche Unvereinbarkeiten, die noch aus den 1990er Jahren stammen. Platzhirschgebaren der jeweiligen offiziellen und inoffiziellen Führungspersonen hat ebenso eine Rolle gespielt, wie das nicht unerhebliche Beharrungsvermögen der Parteibürokratien. Der Vorsitzende von Jabloko, Grigorij Jawlinskij, weist zudem darauf hin, dass man beim Zusammenschluss von zwei oder mehr Parteien nicht einfach die Umfrageergebnisse addieren könne. Viele Wähler von Jabloko seien nicht bereit für die SPS zu stimmen und umgekehrt. Wie sie sich bei einem Zusammenschluss verhalten würden, sei schwer vorauszusagen. Tatsächlich gehören Jawlinskij und seine Wähler zu den langjährigen Kritikern der wilden Privatisierung der 1990er Jahre und vertreten weniger marktliberale, stärker sozial orientierte Positionen als die SPS.

Neben den, angesichts der politischen Bedingungen wohl überwindbaren, inhaltlichen Differenzen spielen aber auch praktische und rechtliche Probleme eine Rolle. Früher erlaubte Listenverbindungen mehrerer Parteien sind inzwischen verboten. Die Verschmelzung von zwei Parteien wäre nur durch die Gründung einer neuen dritten Partei möglich, in die die Mitglieder der sich vereinigenden Parteien jeweils individuell eintreten müssten oder dadurch, dass die Mitglieder einer Partei aus ihrer Partei austreten und in die andere Partei eintreten, weil das Gesetz die gleichzeitige Mitgliedschaft in zwei Parteien verbietet. Ersteres Szenarium hätte das große Risiko mit sich gebracht, dass die neue Partei an den enormen Hürden für die Registrierung scheitern könnte. Außerdem kann sich wohl keine der beiden Parteiführungen sicher sein, dass ihr ihre gegenwärtigen Parteimitglieder auch in eine neu zu gründende, vereinigte Partei folgen würden. Bei letzterem Szenarium würde eine Vereinigung von Gleichberechtigten unmöglich. Eine Partei bliebe bestehen, während sich die andere auflösen müsste. Dies ist eine psychologisch sehr hohe Hürde. Trotz intensiver Versuche, unter anderem von führenden Persönlichkeiten aus Nicht-Regierungsorganisationen (NRO), zu vermitteln, sind letztlich alle Verhandlungen gescheitert. SPS und Jabloko treten getrennt zu den Dumawahlen an. Nach dem Verbot seiner Partei verhandelte Wladimir Ryschkow mit Jabloko und der SPS darüber, auf einer ihrer Listen zu kandidieren. Mit Jabloko kam es zu keiner Einigung. Die SPS machte Ryschkow erst das Angebot, zur sogenannten Troika, den drei Spitzenkandidaten, zu gehören, zog diese Offerte aber später, wohl auf Druck aus dem Kreml, wieder zurück. Umfragen aller Meinungsforschungsinstitute zeigen Jabloko und die SPS weit unter der Sieben-Prozent-Hürde, ohne Chancen auf einen Parlamentseinzug.

Die Kremlparteien: Einiges Russland, Gerechtes Russland und Zivile Kraft

Die Partei Einiges Russland hat bereits in der gegenwärtigen Staatsduma, obwohl sie nur 37,5 Prozent der Stimmen bekam, eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Zum einen gewannen ihre Kandidaten sehr viele Direktwahlkreise, zum anderen wurden unabhängige Kandidaten angeworben und Mitglieder anderer Fraktionen abgeworben. Zwischen den Wahlen sank die Popularität von ER stark und wuchs erst mit Beginn dieses Jahres wieder, nachdem Präsident Putin wiederholt geäußert hatte, diese Partei stehe ihm, ob wohl er nicht Mitglied sei, am nächsten. Putin bezeichnete eine Mehrheit von ER zudem als notwendige Bedingung dafür, dass er als Präsident seinen politischen Kurs durchsetzen könne. Inhaltliche Aussagen und das Parteiprogramm spielen dabei, wenn überhaupt, nur ein untergeordnete Rolle. Entsprechend tritt die ER zu den Wahlen mit dem Slogan auf, man wolle „Putins Plan" unterstützen. Das Wahlprogramm der Partei passt auf einige wenige Seiten und ruft Putin zum „nationalen Führer" aus, dessen Rückhalt ER sei. Eine Broschüre der Partei mit dem Titel „Putins Plan" fasst lediglich mehrere Reden Putins zusammen, darunter die Ansprachen „Zur Lage der Nation" der vergangenen drei Jahre und die Rede Putins vor der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2007. Entsprechend groß ist die, vielleicht gar nicht unwillkommene, Verwirrung bei den Wählern. Nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums sind zwar 65 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass Putin einen sorgsam ausgearbeiteten Plan zur Entwicklung des Landes hat. Aber gleichzeitig haben 47 Prozent noch nie etwas von diesem Plan gehört und nur sechs Prozent gaben an, sie könnten erklären, was dieser Plan enthalte.

Die zweite Kremlpartei, Gerechtes Russland, bezeichnet sich selbst als „linkszentristisch". Herausragende programmatische Aussage ist wie bei ER die Unterstützung Putins. Im Gegensatz zur ER werden aber deutlich sozialere, ja fast schon sozialistische Akzente vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gesetzt. Gerechtes Russland wurde Anfang des Jahres aus der „Leben-Partei" des Föderationsratsvorsitzenden Sergej Mironow, der Rentnerpartei und den Resten der Partei Heimat gebildet. Über die Ziele dieser Gründung gibt es unterschiedliche Angaben. Wahrscheinlich handelte es sich um den neuesten Versuch, die Kommunisten zu schwächen. Zudem erfordert das vom Kreml angestrebte Zwei- oder Mehrparteiensystem einen lenkbaren „linskzentristischen" Ausgleich zur „rechtszentristischen" ER. Gerüchten zufolge soll Gerechtes Russland auf die Initiative einer der sogenannten Silowiki (den Hardlinern zugerechneten Kremlgruppen, die aus den Sicherheitsapparaten stammen) zurückgehen, die keinen Zugang zur ER haben. In Umfragen wuchs der Stimmenanteil von Gerechtes Russland bis zum Sommer 2007 tatsächlich langsam aber stetig bis in den zweistelligen Bereich. Die Partei schloss damit fast mit den Kommunisten auf, die gleichzeitig leicht verloren.

Im Frühsommer 2007 tauchte noch ein drittes Parteiprojekt des Kremls auf. Die von dem bekannten Juristen Michail Barschtschewskij, bevollmächtigter Vertreter der russischen Regierung bei den obersten Gerichten des Landes, gegründete Organisation nannte sich anfangs Liberales Russland, wurde aber bald umbenannt in Zivile Kraft (russisch „Graschdanskaja Sila" mit dem selben Attribut wie bei dem Ausdruck für „Zivilgesellschaft", russisch „Graschdanskoje Obschestwo"). Die Parteifarbe ist ein sattes Grün, Parteisymbol die Sonnenblume - ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Der Partei Zivile Kraft gelang es in extrem kurzer Zeit sowohl die hohen Hürden des Parteiengesetzes als auch des Wahlgesetzes zu überwinden, sich als Partei zu konstituieren und zu den Wahlen zugelassen zu werden. Beides spricht für Unterstützung von weit oben und entsprechend auch dafür, dass nicht unerhebliche Geldmittel zur Verfügung stehen. In Umfragen erklärte trotzdem nie mehr als ein Prozent der Befragten, für Zivile Kraft stimmen zu wollen.

Kommunisten und Schirinowskij

Die Kommunisten bleiben, trotz der neuerlichen Bemühungen des Kremls, durch Gründung  linker Parteien zumindest einen Teil der kommunistischen Wähler abzuwerben, die größte und stabilste Kraft der Opposition. Wie schon 2003 die Partei Heimat, so scheint auch das Gerechte Russland eher potentielle ER-Wähler als KPRF-Wähler anzusprechen. Das ist, da Gerechtes Russland Putin uneingeschränkt unterstützt, auch nicht weiter verwunderlich. KPRF-Wähler verstehen sich meist als Systemoppositionelle, die den markwirtschaftlichen Kurs Putins, ob nun mehr oder weniger sozial abgefedert, grundsätzlich ablehnen. Wahrscheinlich wird dieses Beharrungsvermögen erneut mit mehr als zehn Prozent der Stimmen belohnt werden.

Ähnlich überlebensfähig zeigt sich die Liberaldemokratische Partei Russlands (LDPR) mit ihrem Vorsitzenden Schirinowskij. Die LDPR wird vorwiegend von nationalistisch gesinnten Protestwählern gewählt. Gleichzeitig stimmten und stimmen ihre Abgeordneten, man sagt gegen gute Bezahlung, stets kremlkonform und sicherten so bis 2003 der Regierung eine Mehrheit jenseits der Kommunisten. Durch die Zweidrittelmehrheit, die die ER 2003 erreichte, war das nicht mehr nötig.

Für Schirinowskij ist Ressentiment gegen alles und jeden Programm. Es sind immer „die Anderen" (Reichen, Fremden, Beamten), die „uns" (den einfachen Russen, dem großen russischen Volk, den hier Lebenden) etwas weggenommen haben, das „eigentlich" uns gehört. Diese mit gehörigem komödiantischem Talent vorgetragenen Anklagen bringen die LDPR bei Umfragen in die Nähe oder sogar knapp über die Sieben-Prozent-Hürde. Für die LDPR zu stimmen, ist eine Möglichkeit, es denen „oben" zu zeigen, ohne wirklich etwas zu riskieren.

Keine Wahlbeobachtung durch die OSZE

Erstmals seit dem Ende der Sowjetunion wird es bei Wahlen zur Duma keine Beobachtung durch die OSZE geben. Lange konnten sich die OSZE und das russische Außenministerium nicht auf die Bedingungen für eine Mission und die Zahl der internationalen Beobachter einigen. Hauptstreitpunkt war die Forderung der russischen Seite, die OSZE dürfe vor der Verkündigung des amtlichen Endergebnisses keine öffentlichen Erklärungen und Bewertungen abgeben. Vor vier Jahren hatte es zu großer Verstimmung im Kreml geführt, als OSZE-Vertreter schon wenige Tage nach der Wahl ihr Urteil, die Wahlen seien „frei aber nicht fair" gewesen, abgegeben hatten. Letztendlich einigte man sich auf eine Kurzwahlbeobachtung und 70 Wahlbeobachter. Erhebliche Verzögerungen bei der Ausstellung der Visa für die Beobachter nahm die OSZE Mitte November dann zum Anlass, die Mission ganz abzusagen. Angesichts der kurzen Zeit und der kleinen Anzahl von Beobachtern wäre es ohnehin kaum möglich gewesen, mögliche Wahlfälschungen nachzuweisen. Die entscheidenden Manipulationen betreffen den Zugang zur Wahl und den Zugang zu den Massenmedien; diese haben längst stattgefunden. Ein Wahlbeobachtung durch die OSZE wäre kaum mehr als ein Feigenblatt für die russische Staatsführung gewesen. Diese  Rolle werden nun Beobachter aus den GUS-Staaten übernehmen. Angesichts der Erfahrungen aus anderen GUS-Staaten lässt sich unschwer voraussagen, dass diese „Beobachter" noch in der Wahlnacht bestätigen werden, die Wahl sei frei, gleich und demokratisch gewesen.

Lange Schatten - das Problem der Nachfolge

Von Anfang an stand der Wahlkampf für die Duma unter dem Eindruck der weit wichtigeren Entscheidung über Putins Nachfolge im Frühjahr 2008. Putin hat in den vergangenen Jahren immer wieder erklärt, er werde sich an die Verfassung halten, die ihm eine erneute Kandidatur verbietet. Er lehnte es auch wiederholt ab, für eine dritte Amtszeit die Verfassung zu ändern, obwohl er angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament die Möglichkeit dazu hätte. Damit steht er im Widerspruch zu einem großen Teil der politischen Elite und auch der russischen Bevölkerung. Diese Haltung führte schon früh zu Spekulationen darüber, wen Putin als seinen Nachfolger vorschlagen und was er selbst nach der Wahl machen werde.

Im Laufe des Jahres neigten politische Beobachter immer stärker zu der Annahme, Putin werde zwar seinen Posten als Präsident tatsächlich räumen, im Hintergrund aber weiter eine wichtige politische Rolle spielen und eventuell zu einem späteren Zeitpunkt - und damit verfassungskonform - erneut das Präsidentenamt anstreben. Die zahlreichen und spekulativen Modelle, wie er das zu bewerkstelligen gedenke, lassen sich in drei große Kategorien einteilen:

  1. Putin wird Premierminister und die Verfassung wird so geändert, dass aus dem präsidialen ein parlamentarisches System wird.
  2. Putin empfiehlt dem Volk einen zuverlässigen Vertrauten, der für eine Übergangszeit Präsident wird, dann zurücktritt und den Weg für eine verfassungskonforme erneute Kandidatur Putins frei macht.
  3. Für Putin wird ein neues Amt geschaffen, in dem er, etwa Deng Hsiao Ping gleich, mehr qua persönlicher Autorität als durch formale Befugnisse weiter das Land lenkt.

Am 1. Oktober 2007 erklärte Putin, für die meisten Beobachter überraschend, auf dem Parteitag von Einiges Russland, er nehme das Angebot der Partei an, ihre Liste zur Dumawahl anzuführen. Er könne sich durchaus vorstellen, Premierminister zu werden, sagte Putin außerdem. Voraussetzung dafür sei ein Wahlsieg von Einiges Russland und die Wahl eines „anständigen, handlungsfähigen, effektiven und modernen Menschen" zum nächsten Präsidenten. Eine Änderung der Verfassung schloss Putin erneut kategorisch aus. Durch diesen Schritt sollte der Wahlsieg für Einiges Russland dank Putins überragender Popularität gesichert werden. Gleichzeitig erhielte Putin, wie er selbst später öffentlich mehrfach betonte, im Falle eines hohen Wahlsiegs von Einiges Russland das „moralische Recht" auch nach seiner Amtszeit als Präsident eine führende Rolle in der russischen Politik zu spielen. Tatsächlich schien diese Strategie anfangs auch aufzugehen. In ersten Umfragen nach Putins Ankündigung, Spitzenkandidat von Einiges Russland zu werden, stieg sowohl die Zustimmung zu ihm als auch zur Partei. Außer Einiges Russland und den Kommunisten schaffte es, Umfragen zufolge, keine Partei mehr, die Sieben-Prozent-Hürde zu überwinden. Die LDPR und das Gerechte Russland kamen auf vier bis fünf Prozent; für keine andere Partei wollten mehr als ein Prozent der Befragten stimmen. Dieser Trend hielt bis Ende Oktober, dann trat eine Wende ein.

Guter Zar, schlechter Bojar

Gründe dafür scheint es vor allem zwei zu geben. Zum einen durchbrach Putins Spitzenkandidatur das von ihm in seiner gesamten Amtszeit durchaus virtuos genutzte und den Menschen in Russland seit den Zeiten des russischen Imperiums und auch in der Sowjetunion wohlbekannte Schema des guten Zaren und der schlechten Bojaren. Putin steht, wie eine Art Vater der Nation, über der Alltagspolitik. Er gab, immer und immer wieder im Fernsehen inszeniert, den guten Führer, der sich, im Namen des Volkes und für das Volk, mit einer Schar böser, gerissener, unfähiger und räuberischer Minister, Beamter, Unternehmer und Gouverneure herumschlagen muss. Immer waren die anderen Schuld, weil sie seine Vorgaben nicht erfüllen konnten oder nicht erfüllen wollten. Erfolge wurden von der großen, aus dem Kreml gesteuerten Propagandamaschine dem Präsidenten zugeschrieben, Misserfolge den anderen. Die nun so plötzliche hergestellte Einheit von gutem Zar und bösen Bojaren überfordert aber offenbar die Wähler. Wenn der Zar sich zu den Bojaren gesellt, muss irgendetwas nicht stimmen - und das erzeugt, anstelle des erhofften Vertrauens, Verwirrung. Eine wachsende Zahl von Wählern verweigert inzwischen die Zustimmung.

Dieser Effekt wird, und das ist der zweite Grund, von stark steigenden Preisen vor allem bei Lebensmitteln und anderen Waren der Grundversorgung begleitet. Die Inflation beträgt in diesem Jahr voraussichtlich anstatt der angestrebten sieben nun mehr als zehn Prozent. Im Gegensatz zum oft virtuellen Spiel in der gelenkten Demokratie, in dem Dinge nach Wunsch der Regisseure oft ganz schnell erscheinen und wieder verschwinden oder ihre Gestalt verändern, sind die Preiserhöhungen und die Inflation so real wie der Putins Aufstieg begleitende wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen acht Jahre. Für die Preiserhöhungen sehen Wirtschaftsexperten vor allem zwei Gründe - und beide sind von der russischen Regierung zumindest kurzfristig kaum zu beeinflussen. Zum einen wich die Regierung nach dem faktischen Scheitern der Reform der nichtmonetären Sozialleistungen am unerwartet starken Protest der Bürger Anfang 2005 von ihrer bis dahin restriktiven Ausgabenpolitik ab. Politische Probleme werden seither, auch mit Blick auf die anstehenden Wahlen, großzügig mit Geld zugedeckt, an dem es ja angesichts der Hausse der Energiepreise auf dem Weltmarkt nicht mangelt. Zum anderen ist die russische Wirtschaft inzwischen viel enger mit der Weltwirtschaft verflochten als noch vor einigen Jahren. Preiserhöhungen auf dem Weltmarkt für Milchprodukte, Getreide und Energieträger, die aktuell auch in der EU spürbar sind, gehen am russischen Markt nicht mehr spurlos vorüber.

Der Kreml reagierte schnell auf den Misserfolg von Putins Spitzenkandidatur für Einiges Russland.  Bei einem Treffen mit Straßenbauarbeitern in einer Baubude bei Krasnojarsk am 13. November, das landesweit von allen Nachrichtensendungen als Aufmacher ausgestrahlt wurde, kritisierte Putin Einiges Russland scharf. Die Partei habe viele Fehler und bis heute keine feste politische Ideologie, so Putin. Sie ziehe, wie alle Strukturen nahe der Macht, zudem jede Menge Gauner an. Trotzdem, versuchte Putin die Volte, unterstütze er diese Partei, weil es leider keine bessere gebe in Russland. Eine Stimme für Einiges Russland sei deshalb auch eine Stimme des Vertrauens zu ihm. So hört sich normalerweise kein Wahlkämpfer an.

Gerangel im Zentrum der Macht

Die Probleme mit Putins Spitzenkandidatur werfen die Frage auf, warum sich Putin zu diesem Schritt entschlossen hat. Eine nicht unbedeutende Rolle dürften die Auseinandersetzungen im Kreml um seine Nachfolge spielen. Wer Präsident wird, hat weitreichende Auswirkungen auf das Machtgleichgewicht innerhalb der herrschenden Elite. Damit eng verbunden sind Fragen der Kontrolle über wirtschaftliche und politische Machtinstrumente, aber auch der persönlichen Sicherheit der Beteiligten. Bisher ist Putin als Person Garant der inneren Stabilität der Machtverhältnisse. Loyalität zum Präsidenten sichert die Beteiligten vor dem ganz tiefen Fall ab. Im Kreml ist im Spätsommer der Kampf zumindest zwischen zwei der fünf bis acht zu identifizierenden Machtgruppen offen ausgebrochen. Am 9. Oktober 2007 erschien in der Tageszeitung Kommersant ein Artikel des Leiters der russischen Drogenbehörde, Wiktor Tscherkessow. Tscherkessow, ein KGB-Karriereoffizier, der Putin wohl auch persönlich nahe steht, warnte öffentlich vor einem „Krieg von Gruppen innerhalb der Geheimdienste". Hintergrund war die Verhaftung mehrerer hochgestellter Beamter seiner Behörde, darunter eines Generals, durch das im vorigen Jahr neu geschaffene Untersuchungskomitee der Generalstaatsanwaltschaft. Bei der Auseinandersetzung geht es um Millionengeschäfte von Angehörigen unterschiedlicher Behörden, darunter aus dem Geheimdienst und dem Zoll. Beispiellos ist, dass diese Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit getragen wurde. Dies kann zweierlei bedeuten: Zum einen, dass der Hausherr, also Putin, nicht mehr die Macht und die Fähigkeit hat, einen derartigen Streit intern zu lösen. Zum anderen kann es sich um die Drohung einer Machtgruppe handeln, die im Kampf um die Nachfolge Putins zu unterliegen droht. So oder so gibt es einen Vorgeschmack darauf, was kommen kann, sollte Putin tatsächlich gehen. Die wichtige Botschaft ist, dass die Operation Nachfolge sehr riskant ist.

Diese machtinternen Auseinandersetzungen dürften auch eine Rolle bei der Entscheidung Putins gespielt haben, die Spitzenkandidatur für Einiges Russland anzustreben. Den unterschiedlichen Machtgruppen zeigte Putin so, dass er zwar zumindest vorübergehend als Präsident geht, im Hintergrund aber weiter Schiedsrichter bleiben wird.

Die angespannte Situation hat zu großer Nervosität im Kreml, aber auch auf allen anderen Ebenen der sogenannten Machtvertikale geführt. Die Gouverneure wurden aus dem Kreml angewiesen, beim Preis ihrer Posten, eine hohe Wahlbeteiligung, vor allem aber einen hohen Sieg von Einiges Russland zu liefern. Das führte zu administrativen Angriffen an allen Fronten. Das russische Internet ist voll von Berichten darüber, wie regionale Behörden Druck auf Beschäftige von staatlichen Einrichtungen und Betrieben, aber auch von Privatunternehmen ausüben. Vielen Menschen wird offenbar mit beruflichen oder sozialen Nachteilen oder dem Verlust des Arbeitsplatzes gedroht, um sie zum Eintritt bei Einiges Russland zu bewegen und dazu, am 2. Dezember für die Kremlpartei zu stimmen. Dieser massive administrative Druck, der den meisten Menschen in Russland noch wohlbekannt ist, hat zu großem Unmut geführt. Gleb Pawlowskij, einer der einflussreichsten Polittechnologen, warnte denn auch zwei Wochen vor der Wahl in seiner allsamstagabendlichen Fernsehsendung „Realpolitik" davor, solche Methoden würden von „Feinden Putins", von einer „fünften Kolonne" angewandt, die der Reputation des Präsidenten schaden wollten.

Die Auseinandersetzungen um die Nachfolge Putins drängen die Inhalte des Wahlkampf weiter in den Hintergrund. Die staatlichen Fernsehsender sind gesetzlich dazu verpflichtet, den zur Wahl zugelassenen Parteien in den letzten vier Wochen vor der Wahl, der offiziellen Wahlkampfperiode, Formate zur Hauptsendezeit zur Verfügung zu stellen. Sie tun dies morgens, am frühen Abend und zwischen 22.50 Uhr und Mitternacht. Proteste gegen diese unattraktiven Zeiten wiesen die Verantwortlichen mit dem zynischen Hinweis ab, es handele sich dabei um die Hauptsendezeit, und die Zuschauer seien an Wahlsendungen zudem nicht sonderlich interessiert. Einiges Russland weigerte sich, wie auch schon vor vier Jahren, an Fernsehdebatten teilzunehmen - mit der Begründung, man spiele in einer anderen, höheren Klasse. Über die Partei wird allerdings auch so oft genug in Nachrichtensendungen und politischen Magazinen berichtet, und ihre Vertreter werden regelmäßig zu Interviews und Diskussionen eingeladen - ganz zu schweigen von Wladimir Putin: Der Spitzenkandidat von Einiges Russland ist im russischen Fernsehen allgegenwärtig.

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