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Will Medwedjew nicht mehr Putin sein?

Jens Siegert

27. Februar 2009
Von Jens Siegert
Von Jens Siegert, Moskau

Fast ein Jahr lang hing der präsidiale „Rat zur Mitwirkung an der Entwicklung der Institute von Zivilgesellschaft und Menscherechten“ in der Luft. Nach Wladimir Putins Wechsel vom Kreml in den Regierungssitz Weißes Haus fehlte ihm die rechtliche Grundlage. Nachfolger Dmitrij Medwejew entschied lange nicht, ihn erneut zu berufen. Nun gibt es ihn wieder. Oppositioneller als zuvor. Und Wladimir Lukin, ehemals stellvertretender Vorsitzender der liberalen Jabloko-Partei, wurde von der Staatsduma auf Vorschlag Medwedjews als Menschenrechtsbeauftragter für fünf weitere Jahre in seinem Amt bestätigt. Tauwetter unter Medwedjew, zweite Auflage? Noch im Herbst hatte der stellvertretende Leiter der Kremladministration Wladislaw Surkow Hoffnungen auf einen liberaleren Kurs unter dem neuen Präsidenten mit den Worten beerdigt, „solch ein Gematsche“ werde es nicht geben.

Der Pamfilova-Rat

Der Rat, meist benannt nach seiner Vorsitzenden Ella Pamfilowa, war schon unter Putin eine der letzten Institutionen, in der oppositionelle Vertreter von Nicht-Regierungsorganisationen (NROs) saßen. Der Rat ist eine von nur sehr wenigen Einrichtungen, über die Informationen von unten nach oben, vom Volk zur Macht, gelangen können, die Präsidentschaft Putins überstand. Parteien, Parlamente, Medien wurden nach und nach in das korporierte System der gelenkten Demokratie eingebaut. Das Putin-Medwedjew-Regime leidet an einer Mangelkrankheit, die alle autoritären politischen Systeme befällt: Es gelangen kaum noch ungefilterte Informationen zur politischen Führungsebene. Der Pamfilowa-Rat ist ein Instrument, dieses Informationsdefizit zu kompensieren.
  
Auch in der zweiten Amtsperiode Putins konnten NROs via Pamfilowa-Rat denen (besser wohl: dem) da oben ab und an Botschaften zukommen lassen. Dieser direkte Kanal konnten immer wieder zum Schutz einzelner Menschen oder Organisationen genutzt werden. Anfängliche zaghafte Versuche, über den Pamfilowa-Rat politische Entscheidungen zu beeinflussen, ihn also in eine Art Ersatzparlament zu verwandeln, scheiterten allerdings bis auf eine Ausnahme: Im Herbst 2005 konnte eine Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes teilweise rückgängig gemacht werden. Doch das war nur ein halber Erfolg. Eine gleichzeitig angestrebte Korrektur der Reform des Ausländergesetzes misslang. Der Grund ist einfach: Mit einem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz war kurze Zeit zuvor auch die Einbürgerung von ethnischen Russen aus ehemaligen Sowjetrepublik fast unmöglich geworden. Das passte nicht ins politische Konzept und wurde schnell korrigiert. Die schärfere Kontrolle von Ausländern war aber durchaus gewollt und wurde nicht zurückgenommen. Dass der Fehler im Staatsbürgerschaftsgesetz erst durch massive Intervention des Pamfilowa-Rates auffiel, zeigt wie stark abgeschottet schon zu jener Zeit das politische System war.

Seit Mai 2008 lag der Pamfilowa-Rat auf Eis. Zwar gab es nach Medwedjews Amtseinführung Versuche, das zu ändern, aber die Neubildung des Rats hatte keinen Vorrang. Nach dem Wechsel im Kreml musste sich die Machtelite erst neu sortieren. Dann kam der Georgienkrieg und stellte alle liberalen Signale auf Halt. Die Kriegseuphorie wurde abgelöst von der ab Spätherbst langsam einsickernden Erkenntnis, dass die Wirtschaftskrise Russland noch stärker trifft als andere Länder. Noch bis Ende November war die Krise in den Äußerungen von Putin und Medwedjew vor allem eine Krise der USA und des Westens. Seit Anfang 2009 jedoch stehen die Zeichen mehr auf Kooperation. Anscheinend hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, die Krise lasse sich in Zusammenarbeit mit dem Westen besser überstehen.

Wiederbelebung unter Medwedew

Unter Putin saßen sechs oder sieben unabhängige NRO-Vertreter im Pamfilowa-Rat. Im neuen Rat sind es mehr als doppelt so viele. Allein vier Vertreter von Memorial stehen auf der Liste, darunter Swetlana Gannuschkina, allseits anerkannte Expertin für Flüchtlingsfragen, gegen deren Organisation noch im vorigen Jahr der russische Geheimdienst FSB ermittelte. Hinzu kommen Ida Kuklina von den Soldatenmüttern, Tatjana Morschtschakowa, eine ehemalige Verfassungsrichterin, und sogar Irina Jasina, ehemalige Leiterin der Chodorkowskij-Stiftung Offenes Russland.

Fast gleichzeitig mit der Neueinsetzung des Pamfilow-Rats wurde Wladimir Lukin Mitte Februar auf Vorschlag Medwedjews wieder Beauftragter für Menschenrechte. Es handelt sich dabei um ein Verfassungsamt, das eine ungleich stärkere Stellung hat als der Pamfilowa-Rat. Lukin verfügt über fast 200 Mitarbeiter und kann, einmal gewählt, nicht abgesetzt werden. Ella Pamfilowa hat dagegen kaum mehr als ihr Büro mit Vorzimmer und einen Referenten. Sie selbst arbeitet ehrenamtlich. Um sie ab- und den Rat aufzulösen braucht der Präsident nur seinen Ukas zu widerrufen. Wladimir Lukin Wahl im Frühjahr 2004 war von Wladimir Putin sozusagen als Trostpflaster gedacht. Kurz zuvor waren die beiden liberalen Parteien Jabloko und Union der Rechten Kräfte (SPS) bei den Dumawahlen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Lukins Wahl diente als Versicherung, man wolle die Liberalen nicht völlig außen vor lassen.

Warum wurde der Pamfilowa-Rat gerade jetzt wiederbelebt? Warum wurde der vor allem bei Polizei, Geheimdienst- und Justizorganen nicht sonderlich beliebte Lukin erneut zum Menschenrechtsbeauftragten gemacht? Zwei Dinge dürfte Medwejew damit beabsichtigen. Zum einen will er zeigen: Schaut her, ich bin (trotz des Georgienkriegs) liberaler als ihr alle gedacht habt.

Das andere Signal, vorsichtiger und mehr nach innen gerichtet, heißt: Ich bin nicht Putin. Oder noch vorsichtiger: Ich könnte irgendwann einmal, wenn es passt, vielleicht nicht mehr Putin sein. Das erste Signal ist nicht neu. Bereits Putin hat sich so immer wieder Luft verschafft - um dann bei nächster Gelegenheit die Schrauben wieder fester anzuziehen. Das zweite Signal ist neu. Es hat mit der schärfer werdenden Wirtschaftskrise zu tun, die sich zu einer Legitimitäts- und Machtkrise auswachsen könnte.
Medwedjew hat in den vergangenen Wochen mehrfach die Regierung wegen ihres „unprofessionellen“ Krisenmanagements kritisiert, ohne allerdings Putin beim Namen zu nennen. So undurchsichtig das Machtgefüge in Russland ist, darf durchaus angenommen werden, dass die Akteure auf sich ändernde Bedingungen reagieren.

Der Politkowskaja-Prozess

Ein weiteres Ereignis der vergangenen Wochen, der Freispruch durch eine Geschworenenjury der drei Angeklagten im Prozess um den Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja, hat vor allem mit dem katastrophalen Zustand der Verwaltungen und des Justizsystems zu tun. Die Freisprüche wurden auch von den Angehörigen der Ermordeten und ihren Anwälten begrüßt. Das geschah kaum aus Sympathie mit den Angeklagten, sondern aus der Überzeugung, sie seien nicht die Mörder. Den drei Männern wurde „Mithilfe“ zur Last gelegt. Sie sollen die Journalistin nach Meinung der Staatsanwaltschaft ausgespäht haben. Der mutmaßliche Täter ist flüchtig, die Hintermänner unbekannt. Für die Strafverfolger ist das ein Desaster. Und das ist schlecht. Aus drei Gründen.

Erstens, weil zweieinhalb Jahre nach dem Mord an Anna Politkowskaja die Mörder immer noch nicht gefasst sind. Die Versprechen der politischen Führung, nun endlich bei diesem offensichtlichen Auftragsmord die Mörder zu finden und vor Gericht zu stellen, haben sich erneut als leer erwiesen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wer die Auftraggeber waren, ob die Spur nach Tschetschenien, in den Kreml oder gar, auch das ist in der russischen Presse diskutiert worden, zu Boris Beresowskij nach London führt.

Der Ausgang des Prozesses ist ein weiteres Bespiel für den jämmerlichen Zustand der russischen Justiz- und Strafverfolgungsbehörden. Sie sind hochgradig korrupt und durchzogen von politischen und kriminellen Seilschaften.

Zweitens ist das schlecht, weil Geschworenengerichte dadurch weiter an Bedeutung verlieren werden. Die in den 1990ern eingeführten Geschworenengerichte haben sich, gerade weil sie nicht aus professionellen Juristen bestehen, als die gerechtesten russischen Gerichte erwiesen. Sie sind nicht in das allgegenwärtige System von Geben und Nehmen eingebunden, weshalb es für Staatsanwaltschaft,  FSB oder Politik weit schwieriger ist, auf sie Druck auszuüben. Geschworene schauen mehr auf die Beweise und weniger auf die staatlich bestellten Beweiser. Während Profirichter in ihren Urteilen in mehr als 99 Prozent der Fälle den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgen (das entspricht den Zahlen aus Sowjetzeiten), widersprechen Geschworenengerichte den Anklägern in fast 15 Prozent der Fälle. Das missfällt insbesondere den Kämpfern für die Staatssicherheit. Aus diesem Grund wurden einige Verbrechen, wie zum Beispiel Terrorismus, den Geschworenengerichten bereits entzogen. Auch die Staatsanwaltschaft ist unzufrieden. Kritische Richter zwingen zu harter Arbeit. Das ist beschwerlich, vor allem wenn Urteile aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Interessen „notwendig“ sind. Der Freispruch im Fall Politkowskaja kann dazu führen, dass die Kompetenzen von Geschworenengerichten noch weiter eingeschränkt werden.

Drittens ist der Ausgang des Prozesses schlecht, weil die Staatsanwaltschaft schon jetzt zu mächtig ist. Neben dem Kreml und der Regierung ist die Staatsanwaltschaft inzwischen die dritte wirklich wichtige Macht in Russland, einflussreicher als FSB oder Armee. Sie wird diese Niederlage nicht einfach hinnehmen, sondern versuchen, ihre Macht weiter auszubauen. Der Rechtsnihilismus, den Präsident Medwedjew bisweilen wortreich beklagt, geht weniger vom Volk aus als vom Staat.

Jens Siegert ist Leiter des Russland-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau. Zuvor arbeitete er zehn Jahre in Moskau als Korrespondent für deutschsprachige Printmedien und Radiosender.

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