Übersetzung von U. Dufner
Die Abgeordneten der soeben verbotenen Kurdenpartei DTP haben sich nun doch entschlossen, ihre Mandate im türkischen Parlament nicht niederzulegen. Sie werden eine neue Fraktion gründen. Dafür können wir ihnen nicht genug danken. Am Ende siegt die Vernunft. Wenn die Reforminitiative der Regierung Erdogan zur Kurdenpolitik noch eine Chance erhalten soll, dann ist dafür der Verbleib der Abgeordneten der DTP, der Demokratischen Gesellschaftspartei, im Parlament entscheidend – trotz des Urteils, das das Verfassungsgericht in Ankara in der vergangenen Woche gefällt hat.
Aber sobald der DTP-Partei- und Fraktionschef Ahmet Türk den Beschluss über die Rückkehr ins Parlament mitgeteilt hatte, verfielen die „Oberlehrer“ bei uns wieder in ihren alten Stil und erteilten den Kurden erneut in den diversen Fernsehkanälen Ratschläge. Dabei zeigte der vergangene Monat nur zu gut, welchen Schaden die Protagonisten für ein DTP-Verbot anrichteten. Es war, als ob nun tatsächlich das stets Gefürchtete geschehen könnte, nämlich dass Kurden und Türken aufeinander losgehen und es zu Straßenschlachten kommen würde. In Izmir wurde ein Bus der DTP mit Steinen beworfen. In der zentralanatolischen Stadt Tokat ermordeten PKK-Anhänger hinterhältig sieben Soldaten. In Dolapdere, einem Armutsviertel mitten im Herzen von Istanbul, ließen sich ein paar Männer für nur wenig Geld kaufen, um auf protestierende Kurden zu schießen. Im südöstlichen Musch feuerte ein Ladenbesitzer auf Demonstranten und tötete zwei. Welche Bedeutung einer Partei wie der DTP zukommt, wurde nach ihrem Verbot viel klarer und deutlicher als zuvor.
Die Verantwortlichen für das Verbot, die elf Richter des Verfassungsgerichts, werden nicht gewählt, sondern ernannt. Sie sind keiner Wählerschaft und auch keiner demokratischen Institution rechenschaftspflichtig. Seit zwanzig Jahren erleben wir, wie sie das Land kaputtmachen. Vergangenes Jahr hätten sie um ein Haar sogar die AKP, die Regierungspartei, verboten. Wie hätten sie damals Rechenschaft abgelegt angesichts des politischen und gesellschaftlichen Chaos, das ihr Verbot zweifellos ausgelöst hätte? Schnellstens müssen Schritte unternommen werden, welche ein Parteiverbot erschweren. Es darf nicht weiter der Fall sein, dass das Verfassungsgericht in einer Lage ist, die Zukunft und das Schicksal der gesamten Türkei zu bestimmen.
Wir müssen nun auch unverzüglich die Rolle der illegalen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und ihres inhaftierten Führers Abdullah Öcalan analysieren. DTP-Chef Türk – der selbst mit einem persönlichen Politikverbot belegt wurde und nicht zurück ins Parlament kann – hat erklärt, dass Öcalan die Rückkehr der DTP-Abgeordneten ins Parlament wollte. Öcalan bewahrt also seine wichtige Rolle bei der Lösung der Probleme. Wenn der Öffnungsprozess fortgesetzt wird – und so sieht es nach den jüngsten Regierungserklärungen aus –, muss es weiterhin eines der Hauptziele sein, die PKK-Anhänger aus ihren Verstecken in den Bergen herunterzuholen. Dabei wird die Kooperation der Vereinigten Staaten und der kurdischen Herrscher im Nord-Irak nicht ausreichen. Es wird immer deutlicher, dass die türkischen Kurden – und natürlich deren Vertreter im Parlament – zu den wichtigsten Mittlern in der Frage gehören. Noch ist es nicht zu spät, von dieser Chance Gebrauch zu machen. Ich hoffe, dass nunmehr vorsichtiger in dieser Frage vorgegangen wird. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir diese fragile Chance gemeinsam erhalten können.
Es mag schon sein, dass die gegenwärtige psychische Verfassung der Türkei es keiner Regierung erlaubt, direkt mit Öcalan und der PKK zu verhandeln. Auch deshalb ist die künftige kurdische Fraktion im Parlament von Bedeutung. Aber dazu muss sich das Klima ändern, und es muss die verbreitete Haltung abnehmen, in den kurdischen Abgeordneten immer nur Sündenbocke zu sehen. Seit Jahren versäumte Gesetzesreformen müssen in Angriff genommen werden. Es gibt zum Beispiel einen Passus im Parteiengesetz, wonach politische Parteien lediglich in türkischer Sprache Propaganda betreiben dürfen. Daher, so berichtete mir ein Staatsanwalt jüngst, sind die Staatsanwälte noch immer gezwungen, Ermittlungen einzuleiten, wenn sich ein Politiker des Kurdischen bedient. Auch die Zehn-Prozent-Hürde im Wahlrecht muss weg. Seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurden alle Gesetze über Wahlen und politische Parteien stets so ausgearbeitet, dass kurdische Parteien alle ohne Chance waren. Zum Beispiel erhalten die kurdischen Parteien meist rund sechs Prozent der Stimmen. Es gibt daher nicht nur eine Zehn-Prozent-, sondern auch eine Sieben-Prozent-Hürde: Die muss von Parteien übersprungen werden, wenn sie finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten wollen. Damit muss Schluss sein.
Zwar sind Türken und Kurden de jure gleichgestellt. Aber dennoch durchzieht eine ethnische Prägung die gültige Verfassung wie ein roter Faden. Die Sprache der Türkei ist Türkisch, Kurdisch wird nicht als Landessprache aufgeführt. Inzwischen erlaubt die Regierung zwar wieder Orten im kurdischen Südosten, ihre ursprünglichen kurdischen Namen zu führen. Öffentlichen Einrichtungen und Behörden ist es aber noch immer per Gesetz verboten, den Bürgern Informationen auf Kurdisch anzubieten. Und auf Schulunterricht in kurdischer Sprache werden wir wohl noch lange warten müssen.
Aber unser oberstes Ziel muss ein Wandel der Mentalität sein. Man muss nicht mehr erwähnen, wie dringlich die Rechte der Kurden auf ihre Identität und Kultur sind. Möglicherweise ist es jedoch für uns Türken noch wichtiger, unseren Stil, unsere Sprache und unsere Herangehensweise zu ändern. Die Kurden sind Teil dieses Landes. Wir haben dieses Land mit ihnen gemeinsam gegründet. Wenn wir wirkliche Demokratie und wirklichen Frieden hier überhaupt verwirklichen können, dann nur mit ihnen gemeinsam. Ihnen gehört das Land und Territorium wie jedem anderen auch. Von dem Rassismus in diesem Punkt müssen wir uns noch heute verabschieden. Wir sind in einer neuen Phase. Wir müssen uns abgewöhnen, nur darüber nachzudenken, was die Kurden machen sollen – es geht darum, was wir gemeinsam machen können. Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wir sollten den Kurden nicht weiter Ratschläge erteilen.
Dieser Artikel erschien zunächst am 22. Dezember 2009 in der Süddeutschen Zeitung.
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