„Chto delat’?“ (Was soll man machen?) - Die russischste alle Fragen lässt sich seit Dezember letzten Jahres nicht mehr mit einem resignativen Achselzucken beantworten. Seit Beginn der Demonstrationen gegen die Parlaments- und Präsidentenwahlen im vergangenen Winter, die selbst Beobachter überrascht haben, besteht die Hoffnung, dass sich in Russland etwas fundamental verändert: Seitdem massenhaft Bürger zwischen Petersburg und Wladiwostok der Arroganz der Mächtigen mit Phantasie und Mut die Stirn geboten haben, dürfte es für die Machthaber im Kreml schwieriger werden, ihre sogenannte souveräne Demokratie durchzusetzen. Hat sich das Regime anfangs noch zurückgehalten, wird nach der Reinthronisierung Putins nun mit aller Härte gegen die politische Opposition vorgegangen. Die jüngste Verschärfung des Versammlungsgesetzes und das Vorgehen gegen die Nichtregierungsorganisationen sprechen dafür, dass sich die politische Führung massiv unter Druck fühlt. Wie geht es nun weiter mit der Protestbewegung, nachdem ihre Hauptforderung - „Rossija bez Putina“ (Russland ohne Putin) - erstmal gescheitert zu sein scheint?
Erstmals gehen auch viele junge Russen auf die Straße. Die bislang als eher unpolitisch eingeschätzte „post-sowjetische Generation“ meldet sich zu Wort, frustriert über die Stagnation und die fehlenden Zukunftsaussichten in ihrem Land. Auch viele Künstler haben sich den Protesten angeschlossen und diese maßgeblich mitbetrieben: War man nach den Erfahrungen der Perestroika-Zeit lange um größtmögliche Distanz zur Politik und allem Politischen bemüht, gehört es nun zum guten Ton, sich zur Opposition zu bekennen und selbst aktiv zu werden. Die wegen eines Putin- und Kirchenkritischen Videos mittlerweile verurteilten Musikerinnen der feministischen Punkrock Band Pussy Riot sind weltweit zum Symbol für die Proteste geworden.
Welche Rolle die Kunst für die Proteste spielt, war eine der Fragen der Veranstaltung „Frühlingserwachen?! Russische Künstler entwerfen Visionen für ein Russland der Zukunft“, zu der junge Kulturschaffende aus Russland am 5. Juni 2012 nach Berlin eingeladen waren. Über den Aufbruch in ihrem Land diskutierten im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Alina Rudnitskaya, Dokumentarfilmerin aus St. Petersburg, Elena Yaichnikova, Kuratorin und Kunstkritikerin aus Moskau, Dmitry Golynko, Dichter, Kritiker und Wissenschaftler aus St. Petersburg zusammen mit dem in Berlin lebenden Alexander Formosov, Historiker und Aktivist aus Moskau sowie der gebürtigen Kiewerin Katja Petrowskaja, die als Journalistin und Autorin seit Jahren in Berlin wohnt und arbeitet. Moderiert wurde der Abend von Katharina Raabe, Lektorin für Literaturen Osteuropas beim Suhrkamp-Verlag.
Neben dem kulturellen Wandel und seiner Tragfähigkeit für weitreichende politische Veränderungen stand das von jeher besondere Verhältnis von Staat und Kunst in Russland im Fokus der Diskussion: Wie reagieren die Kreativen auf die politische Situation und welche Kunst bringt diese hervor? Welche Bedeutung haben Künstler und künstlerische Strategien für die Proteste und die Zukunft des Landes? Welchen Beitrag können und wollen Künstler leisten?
Dmitry Golynko bemühte sich in seinem Statement um eine Definition der neuen „Protestkunst“ in Abgrenzung zu der institutionalisierten politischen Kunst, die immer Teil des Systems sei. Mit Beginn der Proteste haben sich aus seiner Sicht die Sprache der Kunst und alle ihre Elemente grundlegend verändert. Die Protestkunst wende sich gegen die Regeln des Kunstbetriebs und gegen die Institutionen der repräsentativen Demokratie: sie sei meist objektlos, finde auf der Straße statt und orientiere sich an den Prinzipien der horizontalen Demokratie. Da sie ohne Geld funktioniere, sei sie unabhängig von staatlichen Subventionen und könne entsprechend agieren. Mit Aktionen wie Flashmobs und Kontrollspaziergängen würden neue Formen für die Aneignung des öffentlichen Raums gesucht. Der Künstler werde zum Aktivist. Für die Hinwendung der Künstler zu konkreten sozialen Problemstellungen mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern, führte Golynko den Terminus der „angewandten sozialen Poesie“ ein. Die poetische Sprache würde hier zu einer effektiven sozialen Praxis. Golynko verwies auch auf die Bedeutung der neuen Medien – die sozialen Netzwerke und das mobile Internet, in denen sich die kollektive Kreativität verbreite und Solidarität mobilisiert würde. Hier entstünde eine neue Klasse der „roten Hipster“, eine neue Massenkultur, wie er hoffe, die zu einer neuen Avantgarde in Russland werden könne.
Den theoretischen Überlegungen Golynkos stellte Elena Yaichnikova konkrete Arbeiten russischer Gegenwartskünstler und Aktionen im Rahmen der Demonstrationen in Russland gegenüber: von Pussy Riot, WOINA, Occupy Abay, Chto Delat?, David Ter-Oganyan, Viktoria Lomasko, Pavel Arsenyev, Haim Sokol & Olga Zhitlina und Arseniy Zhilyaev & Ilja Budraitzkis. Dabei machte sie deutlich, dass die Gegenwartskunst bereits vor Beginn der Demonstrationen Forum und Plattform für Protest und Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in Russland war. Der Kunst käme unter dem gegenwärtigen autoritären Regime in Russland eine besondere Bedeutung zu: die Rolle des Kritikers und als Ort, an dem gesellschaftliche Utopien formuliert werden. Junge Künstler setzen sich in ihren Werken mit der sozialen Realität auseinander und nehmen auch selbst an politischen Aktionen und den Protesten teil, in die sie sich kreativ einmischen. Durch diesen Grenzgang zwischen Kunst und politischer Aktion leben sie ständig in der Gefahr, verhaftet zu werden. Dabei reicht die Spannbreite von anarchischen Akten von Gruppen wie WOINA und Pussy Riot, deren Aktionen meist keine konkreten politischen Forderungen beinhalten, bis hin zu Modellen konstruktiver linker Kritik, für die das Petersburger Künstlernetzwerk Chto Delat? steht. Den künstlerischen Protestformen, deren Ziel die Eroberung des öffentlichen Raums und die Erprobung neuer basisdemokratischer Formen für Austausch, Diskussion und gemeinsames Lernen ist, maß Yaichnikova große Bedeutung bei: Versammlungen, Universität auf der Straße und Vorlesungen, wie sie beispielsweise bei Occupy Arbay erprobt wurden, seien aus ihrer Sicht für die demokratische Willensbildung neu und ausgesprochen wichtig für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft und wahrer demokratischer Verhältnisse in Russland. Denn dort lernten ganz normale Menschen, politische Forderungen zu stellen und zu formulieren. Hier sieht sie auch genau das Problem der Kunst in den Protesten: Kunst wird zur Protestkunst aber nicht zu einer politischen Kunst. Denn außer das Netzwerk Chto delat? haben die meisten künstlerischen Projekte keine konkrete politische Vorschläge ausgearbeitet. Ein aus ihrer Sicht grundsätzliches Defizit der gesamten Protestbewegung. Ihr Wunsch für die Zukunft wäre daher mehr Selbstorganisation und die Entwicklung echter politischer Parteien.
Die Erlebnisse in Russland wurden gespiegelt durch die Eindrücke der Berliner Exilanten: Alexander Formosov schilderte zunächst, wie die Demonstrationen in Russland entstanden sind und berichtete außerdem von den Protesten der in Berlin lebenden russischen Community. Mit Aktionen wie dem Solidaritätsbäumchen an Weihnachten und der Demonstration für die inhaftierten Mitglieder der Punk Rock Band „Pussy Riot“ wollen diese die Anliegen der in Russland Demonstrierenden unterstützen und international vernetzen. Die Zusammenarbeit mit Künstlerinnen, insbesondere Julia Strauss und Marina Napruschkina, und Kooperationen mit internationalen Kunstereignissen wie der Berlin Biennale helfen ihnen dabei, Aufmerksamkeit und Solidarität auch in der Kulturszene zu generieren und darüber eine noch größere Öffentlichkeit zu generieren. Die entscheidende Erfahrung für die Demonstrierenden in Russland, endlich Gesicht zu zeigen, die Energie und der Enthusiasmus auf den Protestaktionen und das Zusammengehörigkeitsgefühl bündelte er in dem Begriff der „Anwesenheitsgesellschaft“. Formosovs Zuversicht, dass diese neue positive Erfahrung, gemeinsam mit Gleichgesinnten für ein anderes Russland einzutreten, dazu führen wird, dass die Proteste andauern und langfristig zu Veränderungen führen werden, auch trotz der Heterogenität der Protestbewegung und der bislang fehlenden konkreten politischen Ziele.
Die Einschätzung der in der ukrainischen Sowjetrepublik geborenen Katja Petrowskaja, die lange in Moskau gelebt hat, war weitaus skeptischer. Sie verwies auf die heutige Lage der Oppositionsbewegung in der Ukraine, deren Ausgangspunkt zunächst weit besser war als heute in Russland, die aber trotz der Erfolge der „Orangenen Revolution“ 2004 komplett gescheitert seien. Wie solche Protestbewegungen entstehen, sei aus ihrer Sicht letztlich unerklärlich. Die Wahlfälschungen hätten die stille Übereinkunft mit dem System, in der viele russische Intellektuelle und Künstler in den letzten Jahren gut gelebt hätten, aufgekündigt und ihnen ihre Sprache und damit ihre Würde wiedergegeben. Mit dieser Rückgewinnung der Sprache seien die Proteste komplett ästhetisiert worden und die Gesellschaft auf der Suche nach neuen Formen, wie sich in den Spaziergängen, Vorlesungen und ähnlichen Protestaktionen zeige.
Alina Rudnitzkaja verwies noch einmal auf die Vorgeschichte der Proteste: die politischen Aktionen gegen die Regierung hätten im Internet angefangen, mit dem Erfolg der Seite „Rospil“, die der einflussreiche Blogger und Aktivist Alexander Navalny gestartete hatte, um per crowd funding den Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption zu finanzieren. Auf die Frage, ob diese Art der Protestkunst Lebensverhältnisse verändern kann, antwortete Rudnitzkaja, dass sich bereits jetzt Dinge verändert hätten. Es seien neue Oppositionsführer aufgetaucht, Gesetze hätten sich verändert, u.a. das Wahlrecht für Gouverneure. Früher hätten die Menschen noch gesagt, dass es sinnlos sei auf die Straße zu gehen, aber jetzt sähe man bereits, dass es nicht sinnlos ist. Dadurch verlören Menschen ihre Angst. Immer mehr Künstler und Filmemacher in ihrem Umfeld widmeten sich politischen Themen. Und da zukünftig vermehrt Projekte privat finanziert werden müssten, aufgrund von Kürzungen staatlicher Förderung, würde dies auch zu neuen Formen und Inhalten in der Kunst führen.
Wie die Situation in einem halben Jahr sein wird, wollte Katharina Raabe am Ende von allen Teilnehmern wissen. Die Entwicklung sei überhaupt nicht vorhersagbar, da die politische Situation und der soziale Frieden in Russland auch von makroökonomischen Entwicklungen auf der nationalen und globalen Ebene abhingen, sagte Dmitry Golynko. Aber die Menschen seien – mit Verweis auf den arabischen Frühling und die globale Occupy Bewegung – in den letzten Monaten in die Geschichte zurückgekehrt und nähmen Teil an politischen Prozessen. Sie seien zurückgekehrt in das Hier und Jetzt der politischen Gegenwart und dieses Gefühl, dass man auch selbst Entscheidungen treffen könne, könne man den Menschen in Russland und andernorts nicht mehr nehmen.
Im Anschluss an die Diskussion lasen Dmitry Golykno und sein Übersetzer Hendrik Jackson sein Gedicht „umher zu schauen“ („Оглядывая вокруг“) im Wechsel auf Russisch und Deutsch. Zum Abschluss der Veranstaltung lief die noch unvollendete Studio-Version von Alina Rudnitzkajas jüngstem Film „На приём к чиновнику“ (bislang ohne deutschen Titel) über die Stadtverwaltung in Sankt Petersburg, der ein eindrückliches Bild davon liefert, wie ohnmächtig die Bürger mit ihren Anliegen und Problemen in Russland dem Staat und den Mühlen seiner dysfunktionalen Bürokratie ausgeliefert sind.