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Chodorkowskij zwischen Verurteilung und Freilassung: Gibt es einen Ausweg?

Michail Chodorkowskij bei seiner Gerichtsverhandlung am 30. Juli 2004. Quelle: fotki.

28. Juli 2010
Von Jens Siegert

Von Jens Siegert

Der zweite Prozess gegen die ehemaligen JuKOS-Eigner Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew geht seinem Ende zu. Seit März 2004 wird in Moskau verhandelt. In Kürze wird die Beweisaufnahme beendet sein. Dann kommen nur noch die Plädoyers von Anklage und Verteidigung, bevor das Gericht sein Urteil sprechen muss. Das Urteil kann zwar noch angefochten werden, doch selbst mit Berufungsverfahren wird es Ende diesen, Anfang nächsten Jahres höchstwahrscheinlich ein rechtskräftiges Urteil geben.

Was aber ist so wichtig am Ausgang dieses Prozesses? Immerhin sitzen beide Angeklagte seit knapp sieben Jahren im Gefängnis. Beide wurden im ersten Prozess wegen Steuerhinterziehung zu jeweils acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Beiden wurde die rechtlich mögliche vorzeitige Entlassung nach der Hälfte der Haftdauer auf Bewährung unter wenig stichhaltigen Vorwänden verweigert. Die anfangs aufgeregte öffentliche Reaktion im Land und jenseits seiner Grenzen ist längst einer nur noch selten und von wenigen, meist auch wenig Mächtigen durchbrochenen Resignation gewichen. Kurz, man könnte meinen, es sei egal, wie der Prozess ausgeht, weil er politisch bedeutungslos geworden ist. Doch dieser Schluss ist falsch. Im Gegenteil sind der Prozess und sein Ausgang hochpolitisch. Ich werde versuchen darzulegen warum, und warum es sich lohnen könnte, einige Anstrengungen zu unternehmen, den Ausgang noch zu beeinflussen (wobei mir klar ist, dass die Chancen dafür sehr gering sind).

Schuldig oder unschuldig?

Es gibt in Russland, aber auch im westlichen Ausland durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber, ob sich Chodorkowskij und Lebedew nun, im Sinne der Anklage des ersten Prozesses, schuldig gemacht haben oder nicht. Ich selbst neige nach einem intensiven Seminar mit dem Chodorkowskij-Verteidiger Jurij Schmidt, einem sehr wohlbeleumundeten Menschenrechtsanwalt, Letzterem zu, obwohl ich zugeben muss, einige der insgesamt 13 Anklagepunkte mit meinem begrenzten ökonomischen und buchhalterischen Wissen nicht vollständig verstanden zu haben. Doch gleichzeitig herrscht selbst in Russland erstaunlich große Einigkeit darüber, dass beide nicht deswegen verurteilt wurden, sondern weil sie es wagten, sich dem vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin zum Beginn seiner Amtszeit vorgeschlagenen Deal mit den sogenannten „Oligarchen“, also denjenigen, die damals über große Teile der russischen Rohstoff-, Industrie- und Finanzunternehmen verfügten, zu verweigern. Der Deal sah vor, dass die „Oligarchen“ ihre in den 1990er Jahren meist in enger Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen erworbenen riesigen Vermögen behalten und weiter mehren dürfen, wenn sie sich gleichzeitig politisch enthaltsam zeigen. Ihr die Wirtschaft, wir die Politik, war Putins Angebot. Chodorkowskij verweigerte sich. In der Folge wurde im Sommer 2003 erst sein Kompagnon Platon Lebedew verhaftet, dann Ende Oktober er selbst. Der JuKOS-Konzern wurde zerschlagen. Seine wichtigsten Teile landeten über wenig verschleierte Umwege bei Staatskonzernen wie Gasprom und Rosneft, die bis heute von Putin und seiner Umgebung kontrolliert werden.

Die Verhaftung, der Prozess und das harte Urteil von acht Jahren wurden als Signal an alle anderen ausreichend Reichen in Russland aufgefasst. Ihnen könnte Ähnliches widerfahren, sollten sie sich ohne Sanktionierung durch den Kreml politisch zu betätigen versuchen. In der Rückschau lässt sich der JuKOS-Fall mit einigem Recht als Schlüsselereignis in der Entwicklung Russlands zu einem autoritären politischen System interpretieren. Mit ihm wurde klar (und klar gemacht), dass es im Land nur einen Machtpol, nämlich den Kreml oder noch genauer Wladimir Putin, und keine Checks und Balances mehr gibt. Die Folgen dieser Entwicklung waren eine starke Degradierung fast aller staatlichen Institute (Parlament, Gerichtssystem, Sicherheitsorgane, Bildungssystem), eine schleichende Re-Nationalisierung der wichtigsten Wirtschaftszweige, parasitäre Staatskorporationen, die Abschreckung ausländischer Investoren und eine Generation von unfreien, „ängstlichen“ Unternehmern. Durchaus treffend hat all diese Probleme auch Präsident Medwedew in seinem vorigen Herbst in der Internetzeitung gazeta.ru erschienenen Artikel „Vorwärts Russland“ beschrieben.

Bei den Beschuldigungen im zweiten Prozess, es ginge um den Diebstahl eines großen Teils des vom JuKOS-Konzern innerhalb von fünf Jahren geförderten Öls und um Geldwäsche, ist es einfacher: Sie sind nach den Aussagen von Minister Viktor Christenko und Ex-Minister German Gref, die diese vor Gericht gemacht haben, einfach nur absurd.

Welches Signal? Wofür?

All dies hat also zu einer Situation geführt, in der kaum jemand am politischen Charakter des zweiten Prozesses gegen Chodorkowskij und Lebedew zweifelt. Daher ist es für die politischen Folgen des Urteils, wie immer es auch aussehen mag, nicht einmal wichtig, ob die Angeklagten nun schuldig sind oder nicht. Das Urteil wird von allen relevanten Akteuren als politisch aufgefasst und eben deshalb politische Folgen haben. Insbesondere da alle erwarten, dass es ein Signal sein wird, wird es ein Signal sein.

Kaum jemand zweifelt also daran, dass die Entscheidung, welches Urteil im Chodorkowskij-Prozess gefällt wird, von der höchsten politischen Führung getroffen wird. Ebenso gibt es große Einigkeit darin, dass eher Premierminister Putin als Präsident Medwedew in dieser strategischen Entscheidung das letzte Wort hat. Dabei werden bisher vor allem zwei Szenarien diskutiert: Schuldig oder nicht schuldig.

Die Wahl dazwischen ist für die, die entscheiden müssen, schwierig: Entweder werden die Angeklagten freigesprochen oder zu sehr hohen neuen Haftstrafen verurteilt. Sie freizusprechen erscheint aus Sicht der russischen Machthaber unmöglich. Ein Freispruch würde allgemein als Bekenntnis politischer Motivation für den Prozess angesehen, schlimmer aber noch, als Zeichen der Schwäche ausgelegt - mit entsprechend negativen Folgen für das politische Renommee von Putin und Medwedew. Eine Verurteilung aber würde als Ende der vorsichtigen Öffnungen des vergangenen Jahres verstanden werden, besser noch als ein Ende der Hoffnung, dass an den liberalen Signalen vor allem Medwedews und folglich auch an der Ernsthaftigkeit der Modernisierungsbemühungen etwas dran sein könnte. Denn dahinter steckt ja, so die Hoffnung, die Einsicht, dass Russland vom Westen Geld und Know-how für die Modernisierung des Landes braucht, Geld und Know-how das es anderswo in dieser Kombination nicht gibt. Und, noch kühner, dass diese Modernisierung keine ausschließlich technische, administrative sein kann, sondern nur bei Einbeziehung auch des politischen Systems Aussicht auf Erfolg hat.

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?

Was also tun? Gibt es eine Möglichkeit für Putin und Medwedew, Chodorkowskij und Lebedew frei zu lassen, ohne dass es wie ein Sieg für die Gefangenen aussähe? Nach Meinung der Anwälte von Chodorkowskij und Lebedew gäbe es die durchaus. Wie könnte eine Gesicht wahrende Lösung aussehen? Zunächst einmal drei Bewertungen:

  1. Im kommenden Jahr enden bei beiden Angeklagten ihre Haftstrafen aus dem ersten Prozess (jeweils 8 Jahre). Ohne eine erneute Verurteilung müssen sie frei gelassen werden. Dazu müssen weder Medwedew noch Putin handeln. Der Rechtsstaat tut einfach seine Pflicht. Niemandem könnte vorgeworfen werden, „schwach“ geworden zu sein oder eine Niederlage erlitten zu haben.
  2. Ein Teil der Anschuldigungen im zweiten Prozess, die angebliche Geldwäsche, ist bereits seit dem November 2008 verjährt. Das könnte das Gericht mit Hinweis auf die geltenden Gesetze feststellen und die Anklage in diesem Punkt verwerfen.
  3. Der Hauptvorwurf, das Öl des eigenen JuKOS-Konzerns gestohlen und unter der Hand veräußert zu haben, lässt sich nach Juristenmeinung durchaus als eine Wiederholung der Anklage aus dem ersten Prozess interpretieren. Diese Erkenntnis könnte das Gericht im Laufe der nun schon über ein Jahr dauernden Verhandlung gewonnen haben (und damit die lange Prozessdauer begründen). Auch das russische Recht kennt natürlich den Grundsatz, dass niemand für die gleiche Tat zweimal verurteilt werden darf.

Zusammengefasst: Die erste Strafe haben die Angeklagten (fast) abgesessen, eine zweite Verurteilung ist bei dieser Bewertung nicht rechtmäßig. Für die politischen Machthaber und auch die Staatsanwaltschaft bliebe aber die erste Verurteilung bestehen. Sie könnten weiter, wie Putin wiederholt, der Öffentlichkeit gegenüber behaupten, es handele sich bei Chodorkowskij und Lebedew um Rechtsbrecher, die zu Recht, also für von ihnen begangenen Verbrechen und nicht aus politischen Gründen, und in einem rechtstaatlichen Prozess verurteilt worden seien. Sie hätten nichts zurück zu nehmen und niemand könnte sie auf dieser Grundlage der Lüge (oder der Verleumdung) zeihen.

Es ist klar, dass das ein sehr grobes Szenario ist, das erst einmal nur die Richtung einer Lösung angibt. Außerdem birgt es viele kleine, in den Details liegende Fallstricke. Ich möchte nur zwei kurz nennen, ohne dann hier näher drauf eingehen zu können:

Zum einen sind vor internationalen Gerichten, darunter dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mehrere Verfahren gegen den russischen Staat in der JuKOS-Sache anhängig, die nicht von Chodorkowskij oder Lebedew initiiert worden sind. Sie könnten ihre Beschwerden dort folglich auch nicht als Teil eines Deals für ihre Freilassung zurück ziehen. Zumindest einer dieser Fälle, die Klage von nicht-russischen JuKOS-Aktionären gegen den unter zweifelhaften Umständen erfolgten Bankrott von Teilen der Konzerns und ebenfalls zweifelhafte Verkäufe von Tochterunternehmen, droht zu einem bis zu 100 Milliarden US-Dollar schweren Debakel für Russland zu werden.

Zum zweiten scheint es in der russischen Führung immer noch Angst vor Michail Chodorkowskij in Freiheit und in Russland zu geben. Frühere Verhandlungen über eine Freilassung sollen jedenfalls unter anderem an der standhaften Weigerung Chodorkowskijs gescheitert sein, das Land nach seiner Freilassung zu verlassen. Seinen Versicherungen, sich künftig keinesfalls öl-unternehmerisch und auch nicht politisch zu betätigen, wird im Kreml und im russischen „Weißen Haus“ offenbar nicht getraut.

Gibt es trotzdem eine Chance? Und wer könnte etwas zu ihrer Verwirklichung tun?

Nennenswerter innenpolitischer Druck in Russland für eine Freilassung von Chodorkowskij und Lebedew ist nicht zu erwarten. Ob es in der russischen Führung, zwischen Medwedew und Putin, Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit diesem Fall gibt oder nicht, weiß niemand genau zu sagen. Allerdings könnte aus dem Ausland versucht werden, den jeweiligen russischen Gesprächspartnern klar zu machen, dass die Freilassung der beiden Gefangenen politische Dividenden verspricht, wohingegen eine erneute Verurteilung erhebliche Probleme mit sich brächte.

So klein die Chancen auch immer sind, sollte aber aus mindestens einem weiteren Grund alles versucht werden, um die Entscheidungsträger (das heißt nach allem, was ich sagen kann: Putin) davon zu überzeugen, Chodorkowskij und Lebedew frei zu lassen. Bei einer neuen Verurteilung drohen ihnen bis zu 20 weitere Jahre im Lager. Und es gibt bei diesem zweiten Prozess im Gegensatz zum ersten keinerlei Zweifel am rein politischen Charakter der Anklage. Politischen Gefangenen aber muss versucht werden, politisch zu helfen.

Es gibt noch einen weiteren Grund für politisches Handeln. Das Urteil wird, je nachdem wie es ausfallen wird, weitreichende politische Folgen für Russland haben, aber auch für die Beziehungen zum Westen. Das Urteil wird zeigen, ob sich Russland auf dem „Medwedewschen“ oder dem „Putinschen“ Weg weiter bewegen wird. Genauer gefasst: Es wird eine Antwort auf die Frage geben, ob die Modernisierungsrhetorik des vergangenen Jahres, ob die vorsichtige Wiederannäherung an die USA und die EU mehr sind als konjunkturelle, taktische Spielchen.

Wie könnte das geschehen? Ausgehend von der These, dass die Entscheidung letztlich von Putin persönlich getroffen wird, machte es wohl am meisten Sinn, zu versuchen, direkt auf ihn einzuwirken. Möglichst viele westliche Politikerinnen und Politiker müssten ihm (und der Form halber auch Medwedew) in direkten Gesprächen deutlich machen, dass eine Freilassung für alle Seiten nur Vorteile hätte. Das könnten wahrscheinlich nur einigermaßen Gleichgestellte, etwa andere Präsidenten oder Regierungschefs sein, die von Putin als eher russlandfreundlich angesehen werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zum Beispiel. Oder Polens Ministerpräsident Donald Tusk. Zur Not auch der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Ein guter Kandidat für diesen Job wäre sicherlich auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ob diese Personen dazu bereit sind, ist eine ganz andere Frage. Putin soll schon mehrfach, so wird erzählt, in einem sehr kleinen Kreis von Staatsgästen sehr heftig bis persönlich beleidigend auf Erwähnungen des Falls Chodorkowskij reagiert haben. Das spräche dafür, dass er die Sache sehr persönlich nimmt, egal ob dahinter nun politische oder andere Gründe stecken. Das macht wenig Hoffnung. Aber angesichts der Bedeutung des Prozesses für Russland, für die westlich-russischen Beziehungen und die Möglichkeit, zwei Unschuldige vor vielen weiteren Jahren im Arbeitslager zu retten, sollten eine Abfuhr ein sehr kleines und vor allem erträgliches Übel sein. Einen Versuch wäre es aber auch schon deshalb wert, weil es keine anderen Wege gibt.

Dieser Kommentar erschien zunächst in der aktuellen Ausgabe der Russland-Analysen.