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Russische Alternativen: Wendezeiten? Ein Bericht von den 3. Chodorkowski-Debatten

v.l.n.r. Tatjana Vorozhejkina, Barbara von Ow-Freytag, Ella Panejach, Marieluise Beck. Foto: Heinrich-Böll-Stiftung

9. Mai 2012
Hartmut Schröder

Die „Chodorkowski-Debatten“ finden seit 2007 etwa halbjährlich in Moskau statt. Hier suchen Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen und liberalen Opposition, aus Think Tanks und Zivilgesellschaft Auswege aus der Stagnation. Die Heinrich-Böll-Stiftung und der Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit, Dr. Andreas Schockenhoff, MdB, haben die „Chodorkowski-Debatten“ nach Berlin geholt, um Anschluss an die Diskussionen in Moskau zu bekommen und gemeinsam mit den russischen Kolleginnen und Kollegen über Wege zur Demokratisierung, Liberalisierung und Modernisierung Russlands zu diskutieren.  Im Blickpunkt der dritten „Chodorkowski-Debatten“ am 26. März 2012 standen das Wirtschaftssystem und seine Aussichten, der Zustand des Gerichtssystems sowie strategische Entwicklungsmöglichkeiten der demokratischen Opposition.

Demokratischer Aufbruch ohne die alten Fehler!
Tatjana Worozhejkina über die Chancen politischer Erneuerung

Für eine Wiederherstellung der traditionellen Machtkonstruktion in Russland, bei der die Gesellschaft durch den Staat dominiert und kontrolliert wird, fehle es dem letzteren trotz der konsequenten und umfassenden Gegenreformen unter Putin an den notwendigen administrativen, politischen und ideologischen Ressourcen. Er sei im Innern durch Privatinteressen zersetzt. Staatliche Funktionen seien auf allen Ebenen als ertragsreiche Ware „privatisiert“ und wirtschaftliche und politische Herrschaft miteinander verschmolzen. Ein solcher „Staat“, so Worozhejkina, sei nicht in der Lage, die Kontrolle über die Gesellschaft wieder herzustellen und sich eine nachhaltige soziale Basis zu verschaffen.
Die Defizite dieses Systems würden auch an der Art des Interessensausgleichs zwischen den herrschenden Gruppen deutlich. Hier seien keine institutionellen Mechanismen geschaffen worden und es bestehe lediglich ein Gleichgewicht der Kräfte und persönlichen Deals. Das Regime habe – anders als alle stabilen autoritären Regimes – in den 12 Jahren seiner Existenz kein Instrument der Machtnachfolge zu entwickeln vermocht. Auch deswegen sei die Rochade des 24. September von der Gesellschaft als Verletzung des Konsensus an der Spitze aufgefasst worden. Die Trennlinie an der Regimespitze verlaufe zwischen innersystemischen Liberalen (Kudrin u.a.) und jenen, für die Macht und Intransparenz des Wirtschaftssystems als Einkommensquelle dienten.
Für die Zukunft der Demokratiebewegung könnten die Widersprüche zwischen den „Systemliberalen“ und dem Kreis um Putin eine ambivalente Rolle spielen, ist Worozhejkina überzeugt. Die Systemliberalen wären ihrer Meinung nach mit einer Fortsetzung ihres Kurses der 2000er Jahre, also einer Liberalisierung ohne politische Demokratie, durchaus zufrieden. Sie betrachteten das autoritäre Regime als Instrument für liberale wirtschaftliche Reformen, während das Regime die als Staatsinteresse maskierten Eigeninteressen der Clans verfolge. Der Traum von einem russischen Pinochet sei so auf die Geburtsmerkmale der russischen Staatsmacht getroffen, vor allem deren Wurzeln im sowjetischen Repressionsapparat. Die Hoffnung auf eine allmähliche Aufweichung und eine Evolution des Regimes in Richtung Demokratie ist für Worozhejkina illusorisch, da die Nicht-Trennung von Macht und Eigentum für das personalistische autoritäre Regime bei einem Machtverlust unausweichlich auch den Verlust des Vermögens, in vielen Fällen wohl auch der Freiheit mit sich brächte und eine Schwächung des Diktators den Zusammenbruch des Regimes bedeutete.
Eine mögliche Annäherung der Systemliberalen an die außersystemische Opposition berge ebenfalls Widersprüche. Das einigende Ziel der Opposition, eine effektive Beteiligung der Bevölkerungsmehrheit im politischen System, wäre für die Agenda der Systemliberalen nicht wünschenswert oder gar gefährlich, da deren wirtschaftliches „Gesundungsprogramm“ (Kürzung der Sozialausgaben, Anhebung des Rentenalters, weitere Liberalisierung der Arbeitsbeziehungen, Kommerzialisierung des Bildungs- und Gesundheitssystems) derzeit nicht einmal von einer relativen Mehrheit gewünscht werde. Die Systemliberalen würden somit in Konflikt zu einem zukünftigen demokratischen System stehen, so Worozhejkina.
Die heterogene Demokratiebewegung sei durch unterschiedlichste zivilgesellschaftliche Proteste „vorbereitet“ und durch das dreiste business as usual des Regimes provoziert worden. Sie werde nicht durch den Kampf für soziale Interessen bestimmter Gruppen geeint, sondern durch den gemeinsamen Einsatz für Freiheit und Demokratie. Die Protestbewegung habe die Bürgerproteste der vergangenen Jahre auf eine neue, allgemeinere und politische Ebene gehoben, konstatierte Worozhejkina.
Neben ihrer Stärke, Vertreter verschiedener sozialer Gruppen vereinigen zu können, steht die Demokratiebewegung für Worozhejkina besonders vor der Herausforderung, soziale Forderungen und Interessen in den demokratischen Protest einzubeziehen. Die Bewegung werde allerdings in den Medien und von den Analytikern fast ausschließlich als Protest der Mittelschicht interpretiert. Dieses Bild würde aber bedeuten, dass die gegenwärtige Mittelschicht nicht nur dem korrupten autoritären Regime gegenüberstünde, sondern auch einer bewusst vom Regime herangezogenen großen Menge von „Lumpenproletariern“. Diese würden, folgt man der Interpretation, auf den Staat hoffen und dessen paternalistische Fürsorge brauchen, während die Vertreter der Mittelschicht ihre Freiheit und Würde verteidigen.
Eine solche Gegenüberstellung berge laut Worozhejkina jedoch große Gefahren für die Zukunft der Demokratiebewegung, da dadurch all jene abgestoßen würden, denen es neben Freiheit und Demokratie auch an anderen Dingen mangelt, und das sei immer noch die Mehrheit. Schließlich kämpften Lehrer und Rentner, die vom Staat die Erfüllung seiner Pflichten fordern, ebenfalls für ihre Würde. Es müssten also auch die Positionen jener wahrgenommen werden, die bislang gezwungenermaßen auf der anderen Seite stünden. Die Angst vor Veränderungen, dieser Konservativismus im „einfachen Volk“ ist für Worozhejkina nicht nur ein Produkt der Putinschen Fernsehpropaganda. Er habe tiefe Wurzeln in der russischen Geschichte, in der abrupte Umgestaltungen oft ohne Rücksicht auf Menschenleben hart auf die Bevölkerung niederprasselten. Er stelle somit eine Gefahr für jede konsequente Modernisierungspolitik dar: Schließlich hätten vor allem die bitteren Erfahrungen der 1990er Jahre die Bevölkerungsmehrheit dazu gebracht, Putins karikaturhafte Restauration der 2000er Jahre zu unterstützen, so Worozhejkina.
Eine künftige demokratische Alternative dürfe also nicht nur liberal sein, sondern müsse auch sozial werden. Ohne eine Einbeziehung der breiten Bevölkerungsmehrheit und die Berücksichtigung ihrer Interessen – die oft antiliberale Züge trügen – werde ansonsten jeder demokratische Aufbau oberflächlich bleiben, prognostizierte Worozhejkina. Ohne eine Inklusion der sozial Ausgeschlossenen in ein pluralistisches System, in dem diese das Gefühl haben, ihre Interessen effektiv vertreten zu können, würden sich demokratische Institutionen nicht reproduzieren lassen. Es drohe dann die Gefahr, dass es durch den Zusammenschluss paternalistischer Bestrebungen ganz unten mit autokratischen Tendenzen ganz oben auf demokratischem Wege zu einem neuen autoritären Regime komme, warnte Worozhejkina.
Diese äußerst schwierige Aufgabe müsse die Demokratiebewegung bereits jetzt angehen, ist Worozhejkina überzeugt. Das Land werde sonst nach jedem demokratischen Aufbruch ein ums andre Mal auf den gewohnten historischen Pfad zurückgeworfen, wo der Zusammenbruch eines Regimes die verschreckte Gesellschaft dann dazu nötige, allein auf eine harte Herrschaft des Staates zu setzen, damit dieser für Ordnung sorgt.
Worozhejkina betonte, die Demokratiebewegung dürfe nicht auf die Bevölkerungsmehrheit herabsehen und sie brüskieren, sondern müsse die sozialen Interessen in ihr Programm aufnehmen. Gleichzeitig sollte sie aber auf keinen Fall die Bindung zu den zivilgesellschaftlichen Initiativen verlieren: Der Druck der Bürgerproteste müsse weiterhin ins Politische transportiert werden ohne dorthin zu „verpuffen“, forderte Worozhejkina.

Das Ende der Gegenreform – der Putinismus neigt sich seinem Ende zu
Kirill Rogov analysierte die politische Situation anhand eines Zyklenmodells.

Nach der Reformperiode von 1987–1993, in der neue Institutionen trotz aller Risiken den unerträglich gewordenen bestehenden vorgezogen wurden und der Wunsch nach einer Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse sowie nach politischer Beteiligung vorherrschte, sei eine Phase der Enttäuschung gefolgt, erklärte Rogov. Diese bereitete den Grund für die Gegenreform, die sich von 1998 bis 2005 konsolidiert habe. Sie sei durch eine negative Reformhaltung (die Kosten für eine Ablösung des Gegenwärtigen erscheinen selbst bei dessen bekannt schlechtem Zustand als zu hoch) und den Wunsch nach einer „Rezentralisierung“ sowie einer Delegierung der politischen Rechte geprägt gewesen. Nach 2005 habe eine Erosion dieser „Stabilität“ eingesetzt: Seit 2008 werde der Wunsch nach einer erneuten Dezentralisierung wieder stärker. Die „Vertikale der Macht“ werde seit 2011 weniger akzeptiert. Immer mehr Menschen bevorzugten erneut ein Mehrparteiensystem und eine stärkere Kontrolle der Staatsmacht. Das Pendel, so Rogov, schwenke also zurück, ohne dass sich bereits eine neue Agenda voll herausgebildet habe.
Der Putinismus ruhe auf drei Säulen, wie Rogov ausführte. Zum einen verspreche seine Ideologie Stabilität und wirtschaftliche Dynamik. Dann bedeute er einen aufgenötigten Konsens in den Eliten, die ihre Konflikte nicht mehr unter teilweiser Hinzuziehung der Bevölkerung austragen. Drittes Element sei die kontrollierte Massenkommunikation (vor allem das TV-Monopol). Laut Rogov gerate der Putinismus durch den sich steigernden Vertrauensverlust mittlerweile in die Krise: Die Werte des Lewada-Index zur „Lage im Lande“, die zuvor empfindlich auf die wirtschaftliche Entwicklung reagiert hätten (nur 2000/01 waren sie wegen der Erwartungen an Putin „überhöht“), lösten sich seit 2009 negativ von der immer noch positiven Entwicklung der Reallöhne und des BIP. Gleichzeitig seien sinkende Zustimmungswerte für Putin zu beobachten.
In dieser „dritten Phase“ wäre laut Rogov der folgende politische Zyklus zu erwarten: Erosion der Werte der Vorperiode; beginnende Erosion in den Eliten; unzufriedene Elitenteile agieren mit Hilfe der Unzufriedenheit in der Bevölkerung; die Kontrolle der Medien wird schwächer; es entstehen mit Unterstützung der unzufriedenen Teile der Eliten neue Oppositionsstrukturen und Programme; endgültige Spaltung in den Eliten; Entstehen einer neuen Opposition; breite Proteste, die wesentlichen Regimeveränderungen nach sich ziehen.
Durch den Aufschwung des Internet, so Rogov weiter, und der sozialen Netzwerke (im Dezember 2011 war das Netz für 44 % der Moskauer die wichtigste Nachrichtenquelle), die vom Regime bislang „übersehen“ wurden, sei es zu Massenprotesten gekommen, bevor sich eine neue Opposition mit alternativer Agenda gebildet habe und eine Spaltung innerhalb der Eliten erfolgt sei. Hierin könne eine gewisse Parallele zu den arabischen Revolutionen gesehen werden, meinte Rogov. Die Dinge könnten sich deswegen „zu schnell“ entwickeln und das werfe die Frage auf, wie die Eliten darauf reagieren. Die Installation eines zweiten, frischeren „Putin“ erscheine angesichts des beschriebenen Trends als wenig realistisch, schätzte Rogov. Andererseits könnte ein Einbruch des Ölpreises auf den Dienstleistungssektor und damit die Prosperität der urbanen Mittelschicht durchschlagen. Deren Aktivität könnte dann womöglich aus Existenzsorgen absorbiert werden, so Rogov.

Richter in der Maschine
Ella Panejach über Defizite der real existierenden Justiz in Russland als eines der Schlüsselhindernisse für eine Modernisierung des Landes

Die Abhängigkeit und Lenkbarkeit der Gerichte bei aufsehenerregenden oder politisch motivierten Prozessen seien lediglich ein Sonderfall in einem Gerichtssystem, das insgesamt an einer überbordenden Schuldspruchneigung kranke, wie Ella Panejach ausführte. Bei „gewöhnlichen“ Strafverfahren seien hiervon jährlich Hunderttausende betroffen: Bei rund einer Million von den Staatsanwaltschaften initiierten Strafverfahren pro Jahr (also ohne private Strafanzeigen) gebe es durchschnittlich zwei Freisprüche auf 1000 Verfahren. Diese kämen oft durch eine privilegierte Stellung der Angeklagten oder gekaufte Urteile zustande. „Gewöhnliche“ Freisprüche würden hingegen weniger als die Hälfte der Freisprüche ausmachen, schätzte Panejach. Diese Schuldspruchneigung sei aber weniger auf konkrete Anordnungen von oben zurückzuführen, als oft angenommen wird. Sie entstehe vielmehr durch ein komplexes System von Faktoren des Justizalltags. Ein Faktor sei die starke Hierarchie im Gerichtswesen. Die Vorsitzenden der Gerichte sind Vorgesetzte und Arbeitgeber der Richter zugleich. Sie bestimmen über Ernennungen und „Entlassungen“ sowie über Gehaltsprämien, die mitunter die Hälfte der Bezahlung der Richter ausmachten, wie Panejach erklärte. Ein weiterer Faktor sei die Überlastung der Richter durch Bürokratie und die schiere Menge der Verfahren: Für 10 bis 15 Verfahren pro Tag stünden jeweils „Slots“ zwischen 15 Minuten und, bei komplizierteren Fällen, 2 Stunden zur Verfügung. Dadurch sähen sich die Richter genötigt, ihre Fälle möglichst schnell und ohne „Komplikationen“ (wozu auch Berufungen zählen) abzuarbeiten. Das geschehe zum Beispiel mit Hilfe von vorgefertigten Urteilsschablonen, die ihnen zudem durch Richter der höheren (Berufungs–)Instanzen nahegelegt werden, erklärte Panejach. Dabei werde nicht kontrolliert, wie die Richterinnen und Richter die Fälle entscheiden. Die Arbeit der Richter werde quantitativ wie in einem Plansystem bewertet, wobei „glatte“ Verfahren, bei denen niemand etwas bemängelt, positiv zu Buche schlagen und in höherer Instanz kassierte Urteile negativ, so Panejach. Dies alles geschehe zudem vor dem Hintergrund, dass die Staatsanwaltschaften gegen Freisprüche zehn Mal häufiger Berufung einlegten als gegen Verurteilungen. Diesen Berufungen werde dann sehr viel häufiger stattgegeben. Schuldsprüche würden hingegen eher seltener kassiert. Dies gebe den Staatsanwaltschaften, die über wesentlich mehr Personal verfügen, einen wirksamen Hebel zur Gängelung der Richter an die Hand.
Betroffen seien von diesem dysfunktionalen Gerichtssystem vor allem eher arme und weniger gebildete Menschen. Bei Ermittlungen meide die Polizei, auch wegen mangelnder eigener Kompetenz bei der Beweisbeibringung, „wehrhafte“ Täter, die sich hartnäckig und/oder mit eigenen Anwälten vor Gericht verteidigen könnten. Beim Einsatz von Pflichtverteidigern könne man angesichts deren mangelnder Kompetenz kaum von Rechtsbeistand sprechen, konstatierte Panejach.
Letztendlich werde kaum ein Fall korrekt verhandelt. Das sage aber nichts über Schuld oder Unschuld der Angeklagten aus, weil falsch sowohl für als auch gegen Angeklagte entschieden werde. Viele Urteile würden aber in demokratischen Ländern vor höheren Instanzen keinen Bestand haben, so Panejach.
Viele Probleme, die die Bevölkerung bewegen, sind letztendlich auf die eine oder andere Weise auf die Nichtexistenz des Gerichts als Instanz zur Schlichtung von Konflikten zurückzuführen. Die Gerichte in Russland seien eine Instanz, meinte Panejach, die als „vorletztes Mittel“ vor dem „Krieg“ versage.
Die Richter in Russland seien in ihrer Mehrheit jedoch keine Überzeugungstäter, keine „Kettenhunde des Regimes“, so Panejach, sondern als ordinäre Staatsangestellte mit schwach ausgeprägten Werten Diener des Systems. Allerdings verschärfe die „negative Auslese“ von Richtern ohne Rückgrat bei der Rekrutierung und die korporative Solidarität innerhalb der Richterschaft das Problem, wie Tatjana Worozhejkina mit Blick auf die entlassenen Richter Paschin und Kudjeschkina anmerkte, die sich gegen diesen Korporationsgeist zur Wehr zu setzen versucht hatten.
Bei dieser „Lotterie mit sehr geringen Gewinnchancen“, so Panejach, bestehe ihrer Erfahrung nach aber eine gewisse Fehlerwahrscheinlichkeit eines bürokratisierten Apparates. Ein praktisches Mittel, auch gegen die Schablonen, wären möglichst zahlreiche, kreative und diversifizierte Berufungen, Einsprüche und Beschwerden.

Justiz und Unternehmer
Marieluise Beck über Justizwillkür als Modernisierungshemmnis

Die Frage von Justiz und Rechtsstaatlichkeit habe sich für den Westen endgültig durch die Chodorkowskij-Prozesse aufgedrängt, wobei sich die breitere Öffentlichkeit lange beim Umgang mit dem Fall schwer getan habe, wie Marieluise Beck ausführte. Die große Symbolbedeutung für die gesellschaftliche Modernisierung sei jedoch spätestens nach dem zweiten Prozess klar geworden. Insgesamt könnten die Bürger vom russischen Staat keine Gerechtigkeit erwarten, und zwar nicht mal aus reiner Bösartigkeit, sondern oft schlicht aus Inkompetenz, Überforderung, mangelnder Erfahrung mit Gewaltenteilung, so Beck. In der Gesellschaft habe sich so ein tief verwurzeltes Ohnmachtsgefühl gegenüber Justiz und Politik eingestellt, meinte Beck. In dem Wissen, dass sich die inneren Kräfte für eine Modernisierung ohne funktionierende Justiz nicht entwickeln könnten, setze sich der Fedotow-Rat für eine Prüfung der Verfahren gegen Chodorkowskij, Magnizkij und andere ein. Nach dem zweiten Chodorkowskij-Prozess hätten die über fabrizierte Gerichtsverfahren bewerkstelligten Enteignungen dramatisch zugenommen, wie Beck mit einem Verweis auf einen Bericht von Transparency International hervorhob. Nach Untersuchungen des Zentrums für Rechts- und Wirtschaftsstudien würden rund 100.000 der insgesamt ca. 800.000 Haftstrafen in Russland gegenwärtig wegen Wirtschaftsdelikten verbüßt (2). Jeder achte Häftling sei also Unternehmer, was etwas über deren heikle Situation aussage, meinte Beck. Laut Umfragen von 2010 hätten 45 % der Unternehmer ihr Geschäft aufgegeben. 17 % planten, ins Ausland zu gehen und 37 % erwögen dies. Es fehle das Vertrauen, etwas Dauerhaftes in diesem Land aufzubauen zu können. Für den Westen bedeute die Willkür in für eine Modernisierungspartnerschaft wichtigen Bereichen, dass Partner für diese Modernisierung (dynamische mittlere und Kleinunternehmer) fehlen würden, wenn sich nichts ändere, so Beck.
Zur Frage, wie sehr (ausländische) Unternehmer gegenüber den Behörden und der Justiz verwundbar sind, erklärte Panejach, dass vor allem immobiles Anlagevermögen sowie eine Abhängigkeit von Genehmigungen und Lizenzen „Risikofaktoren“ für Unternehmen darstellten. Außerdem spiele es eine Rolle, wie viel bei einem Unternehmen „zu holen sei“, so Panejach.
Ausländische Unternehmen seien in Russland keineswegs immun, wie Beck mit Blick auf TNK-BP und Shell anmerkte, und viele ausländische Unternehmen versuchten wohl, mit kurzen gewinnträchtigen Engagements und einem Planungshorizont von 6-8 Jahren stillschweigend und unbehelligt zu bleiben, vermutet Beck.

Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation und Modernisierungsdruck

Kirill Rogov und Gunter Deuber

Das wirtschaftliche Wachstum der 2000er Jahre in Russland ist vom Öl- und Gasexport getragen gewesen, wie Kirill Rogov hervorhob. Die riesigen Einnahmen würden allerdings nicht direkt verteilt, sondern hätten durch ein Einsickern in die Gesamtwirtschaft zu einem Anstieg der Binnennachfrage geführt, der das Wachstum trage (die Verbraucherausgaben, verfügbaren Realeinkommen und Einzelhandelsumsätze seien stärker als das BIP gewachsen). Russland sei gemessen am BIP pro Kopf zur reichsten der wachstumsstarken Volkswirtschaften geworden. Gleichzeitig sei es in Bezug auf das Geschäftsklima (doing business index) von einem Mittelplatz unter diesen Ländern in die schwächste Gruppe abgerutscht. Hieraus ergebe sich eine „Schere fehlender Konkurrenzfähigkeit“, wie Rogov konstatierte: Das Lohnniveau sei zu hoch, um mit den Schwellenländern in deren Nischen konkurrieren zu können, andererseits fehlten die Ressourcen und institutionellen Voraussetzungen für eine Konkurrenz zu den entwickelten Ländern Westeuropas mit deren hochwertigen, komplexen Produkten. Russland befinde sich bei der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung gewissermaßen in einer Sackgasse, so Rogov. Es stagniere hier mit unter 3,25 % des weltweiten BIP (bei Kaufkraftparität), da die Konkurrenten schneller wüchsen, was die Rolle des Landes innerhalb der BRICS-Staaten gefährde, wie Deuber ergänzte.
Problematisch sei, dass das von der Binnennachfrage getragene Wachstum nicht durch andere als Rohstoffexporte begleitet werde. Zudem sei der Rubel stark und die Zuwachsraten schwächten sich ohne zusätzliche Impulse naturgemäß ab, wie Rogov ausführte. Ein weiterer Anstieg des Lohnanteils am BIP (zuletzt von 40 auf 47 %) könne für die russische Volkswirtschaft ein Ende des Wachstums bedeuten.
Fast alle seriösen Prognosen liefen auf eine Abschwächung des Wachstums auf jährlich 3-4,5 % hinaus, was nicht ausreiche, um bei der gegebenen ungleichen Verteilung der Einnahmen (75 % der Einkommen entfielen auf 40 % der Bevölkerung) soziale Stabilität zu gewährleisten und Spannungen zu vermeiden, da die übrigen 60 % der Bevölkerung ein solches Wachstum kaum als (den erhofften) Wohlstandsgewinn wahrnehmen würden, konstatierte Rogov.
Auch in fiskalischer und Kapitalperspektive stehe Russland vor Herausforderungen, wie Gunter Deuber ausführte. Die vernünftige 4,7 %–Grenze für das um den Ölsektor bereinigte Haushaltsdefizit ist seit April 2009 mit geplantem Ende 2013 aufgegeben worden. Dieses Defizit liege derzeit bei ca. 10 % und die alte Marke sei vorerst kaum wieder zu erreichen, da sich die restliche Wirtschaft nicht mit entwickle. Trotz global hoher Rohstoffpreise seien bis 2015 keine nachhaltigen Haushaltsüberschüsse zu erwarten, was auf eine strukturelle Verschlechterung und zunehmende Ineffizienz im Wirtschaftssystem hinweise, prognostizierte Deuber.
Es ergebe sich so ein Konsolidierungsdruck, da der Ölpreis hinter dem theoretisch für einen ausgeglichenen Haushalt benötigten hinterherhinken und Russland bald – wenn die Leistungsbilanzüberschüsse wegfallen – auf einen Kapitalimport angewiesen sein werde. Bereits jetzt suche der Staat ausländisches Kapital, wobei sich die Preise aber als unerwartet hoch erweisen würden, berichtete Deuber.
Russland sei unter den wachstumsstarken Volkswirtschaften am schwankungsanfälligsten, befand Deuber. Die eingeführten Puffer seien daher vernünftig, lägen aber mit weniger als 8 % des BIP unterhalb der erforderlichen 9–12 % und dürften in den nächsten Jahren ohne Schuldenaufnahme kaum ansteigen, wie Deuber schätzt. Russland sei also anfälliger gegenüber externen Schocks als noch 2007/8 und – überspitzt ausgedrückt – nur einen Schock von der nächsten Krise entfernt, wie Deuber konstatierte.
Der Bestand an Auslandsdirektinvestitionen (ADI) sei beispielsweise im Vergleich mit Brasilien gering, während die Restriktionen für Auslandsdirektinvestitionen, gemessen am OECD-Index, in Russland verstärkt würden (eine Ausnahme sei der Finanzsektor), erklärte Deuber. Bei den ausländischen Direktinvestitionen herrsche Zurückhaltung, besonders hinsichtlich der Privatisierung in Russland, wo die Implementierung hinter den Zielen zurückbleibe. Hier sei es hinderlich, wenn sich der russische Staat eine Mehrheit an Unternehmen vorbehalten wolle („goldene Aktie“). Russland sei nicht mehr die unhinterfragte solide Investorengeschichte früherer Zeiten, resümierte Deuber. Im Gegenzug gestalteten sich auch für russische Firmen Auslandsbeteiligungen schwierig.
Russland benötige mit seinem derzeitigen Wirtschaftssystem eine Verdoppelung der Rohstoffpreise. Das würde aber über eine dann dadurch ausgelöste Weltrezession wieder auf das Land zurückschlagen. Angesichts der Perspektive von zukünftigem Kapitalbedarf und gleichzeitigem Kapitalexport müsse sich auf diesem „heiklen Spannungsfeld“ etwas verändern, konstatierte Deuber.
Russland werde in 2-3 Jahren ernste Probleme bekommen, wenn nicht bereits jetzt nachhaltige Wirtschaftsreformen angegangen werden. Das Land habe nach Ansicht Deubers in Bezug auf die Modernisierung weniger ein Erkenntnis- als ein Implementierungsproblem. Das gelte auch in Bezug auf soziale Fragen. Dies werde von dem von der Regierung Putin in Auftrag gegebenen Expertenbericht zur Modernisierungsstrategie (1) aufgegriffen, in dem einiges in die richtige Richtung weise, so Deuber. Der Bericht indiziere einen Schub in Richtung langfristiger Orientierung, die für die nächsten 5-10 Jahre noch wichtiger sein könnte, als eine unmittelbare Demokratisierung. Es gebe zwar aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Wachstum und Demokratie; langfristig sei Demokratie aber für ein ausgewogenes Wachstum besser, so Deuber.
In Wirtschaftskreisen hoffe man auf Implementierung durch Putin, obwohl dieser nicht mehr unhinterfragt sei. Ein starkes Zeichen hierfür war nach der Ankündigung des Ämtertauschs von Putin und Medwedew die Stellungnahme des Foreign Investors Council, der sich anders als in der Vergangenheit nicht eindeutig pro Putin äußerte. Dies zeige den zusätzlichen Veränderungsdruck an, so Deuber. Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft habe sich da allerdings anders positioniert, wie Marieluise Beck anmerkte. Wichtige Signale würden dann im Mai von der Ernennung des Finanz- Sozial- und Verteidigungsministers sowie des Wirtschaftsberaters Putins ausgehen, erwartet Deuber.
Zur Frage wirtschaftlicher Entwicklungsrichtungen bezweifelte Deuber, dass ein Sprung in die High-Tech-Wirtschaft ohne eine solide industrielle Basis möglich sei – Russland wäre das erste Land, dem das gelänge. Hierfür sollte zumindest eine Medium-Tech-Basis vorhanden sein, so Deuber.

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Fußnoten:

(1) Expertenbericht zur Modernisierungsstrategie der russischen Regierung (pdf, russischer Originaltext)
(2) Link zum Zentrum für Rechts- und Wirtschaftsstudien (russischsprachige Webseite)

Weiterführende Links: