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Den europäischen Bürgerinnen und Bürgern eine Stimme geben

Lesedauer: 11 Minuten
Europawahl 2009: Ein Schild weist den Wählerinnen und Wählern den Weg zum Wahllokal. Bild: Eva Freude Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0 Original: flickr.com

2. Juli 2012
Interview mit Gerald Häfner, Mitglied des Europäischen Parlaments

 

Die EU steckt derzeit nicht nur in einer Vertrauenskrise, sondern auch in einer Demokratiekrise. Wie kommen wir zu mehr Demokratie in der EU?

Das Hauptproblem ist, dass wir immer von den Institutionen her denken. Die Bürger kommen dabei zuletzt. Sie bleiben Zuschauer. Die Institutionen informieren, was sie entschieden haben – und dann wundern wir uns, wenn die Bürger nicht begeistert sind. Wenn man aber Demokratie will, dann muss man von den Menschen her denken. Die Kernfrage ist doch: Wie schaffen wir es, dass die Menschen Europa als ihre Angelegenheit erleben? Dass sie das Gefühl haben: Wir sind Europa!

Und das, glaube ich, geht nur, wenn wir endlich über die künftige Entwicklung Europas große, auch kontroverse Debatten haben. Wenn die Menschen den Eindruck haben, dass diese Debatten offen geführt werden und dass sie selbst einen Einfluss darauf haben - dass ihre Stimme gehört wird und einen Unterschied macht. Wenn die Menschen sich beteiligen und auch Richtungsentscheidungen treffen können, die dann befolgt werden.

Wir brauchen zunächst einmal ein verbessertes Wahlrecht, wir brauchen sinnvolle und wirksame Bürgerbeteiligungsverfahren und wir brauchen europäische Referenden oder Volksabstimmungen über Sachfragen und über große europäische Richtungsentscheidungen.

Im Moment ist das Problem der Bürgerinnen und Bürger, dass sie die wichtigen europäischen Entscheidungen eigentlich nur den Medien oder dem Fernsehen entnehmen können und keinerlei wirksamen Einfluss auf diese Entscheidungen haben. Diese Entscheidungen werden dann von nationalen Parlamenten, die die Bürger gewählt haben, umgesetzt in nationales Recht. Das funktioniert. Aber umgekehrt haben die Bürger keine Ahnung, wie sie die europäische Politik wirksam beeinflussen sollen.
Bei den Beteiligungsrechten haben wir ja schon einen ersten Erfolg errungen. Die von mir gegründete und geleitete Bürgeraktion „Mehr Demokratie“ hat, zusammen mit „ Democracy International“ und schon vor über einem Jahrzehnt bereits die Idee einer „Europäischen Bürgerinitiative“ ins Spiel gebracht. Es ist uns gelungen, dass diese Idee vom Verfassungs-Konvent aufgenommen und in den Vertrag von Lissabon integriert wurde. Jetzt, als Mitglied des Parlamentes, konnte ich mit dafür sorgen, dass das relativ bürgerfreundlich umgesetzt wird. Seit April diesen Jahres können Bürgerinnen und Bürger die EU, insbesondere die EU-Kommission, mit Vorschlägen, Anregungen usw. konfrontieren, und das aus der Mitte der Bürgerschaft selbst. Das trägt zur Entwicklung europäischer Diskurse, gemeinsamer europäischer Debatten bei. Es gibt den Bürgerinnen und Bürgern zum ersten Mal ein Instrument an die Hand, mit dem sie sich unmittelbar in Brüssel gegenüber den Institutionen zu Wort melden können.

Aber wir brauchen eben noch weitere Schritte. Vor allem brauchen wir auch Referenden, dass heißt am Ende müssen die Bürger auch erleben, dass sie in wichtigen Fragen selbst auf europäischer Ebene als Bürgerinnen und Bürger Europas entscheiden können.

Wenn die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben sollen Richtungsentscheidungen mit zu gestalten und kontroverse Debatten zu führen, müssen sie wissen, welcher Partei sie für welche Inhalte ihre Stimme geben sollen. Dafür müsste es europäische Wahlkämpfe mit europapolitischen Alternativen geben. Wie soll das gehen?

Das ist bislang ehrlich gestanden ein Trauerspiel. In fast allen Ländern werden auch die Europa-Wahlkämpfe von nationalen Parteien nach rein nationalen Themen ausgerichtet. Sie werden überwiegend sachfremd benutzt, - benutzt sage ich - weil es ja auch eine Wahlkampfkostenerstattung für diese Wahlkämpfe gibt. Aber die Parteien nutzen die Wahlkämpfe nicht für europäische Debatten, sondern um ihre nationale Agenda stärker zu „promoten“. Ich glaube, dass da Appelle oder Ähnliches nicht reichen. Ich glaube, wir müssen die Europawahlen anders, demokratischer und europäischer gestalten.

Ein Element wäre, was wir hier im Parlament ja gegenwärtig auch diskutieren, dass man eine europäische Liste einführt. Dass heißt, dass man die Parteien zwingt, neben den bislang schon vorhandenen nationalen Listen jeweils auch eine europäische Liste mit europäischen Kandidaten vorzuschlagen. Die Bürger haben dann zwei Stimmen: eine für ihre nationalen Kandidaten und eine, bei der sie aus einer europäischen Liste ihnen vertrauenswürdig erscheinende Kandidaten auswählen. Das würde sofort dazu führen, dass die Wahlen ungleich europäischer wären, weil es z.B. die Parteien zwingen würde etwas zu tun, was übrigens bei den Grünen schon angefangen hat: Sie müssten sich nämlich europäisch treffen, müssten gemeinsame Programme, gemeinsame Inhalte, Wahlplattformen oder – Bausteine beschließen und müssten kommunizieren, was ihre gemeinsamen europäischen und europapolitischen Anliegen sind. Das ist in den anderen Parteienfamilien bislang gar nicht gegeben. Und damit hätten wir automatisch eine Debatte, die europäischer ist, weil sie sich stärker auf europäische Themen und auch auf europäische, also transnationale Kandidaten bezieht. Die Bürger selbst würden erleben: ich muss nicht nur z.B. eine/einen Deutschen wählen, sondern ich kann auch eine wirklich überzeugende Person aus Luxemburg, aus Spanien, aus Polen oder aus Schweden ins europäische Parlament wählen. Es führt also auch dazu, dass die Bürger bei der Wahl europäischer gucken und entscheiden.

Wenn man solche transnationalen Listen hätte und die Wahlkämpfe wirklich mit europäischen Programmen geführt werden würden, was würde das dann für das europäische Parlament bedeuten? In den Wahlprogrammen stünden ja Absichtserklärungen, was die einzelnen Parteien, erhielten sie die politische Mehrheit, in der nächsten Legislaturperiode umsetzen wollten. Geht das mit dem Parlament, wie es jetzt ist oder müsste es dafür reformiert und gestärkt werden?

Ich würde das gerne in drei Schritten beantworten:
Der erste Schritt bezüglich des Wahlrechts, von dem wir eben sprachen, ändert noch nicht die Funktion oder Rolle des europäischen Parlamentes. Er trägt aber dazu bei, dass das Selbstverständnis des Parlaments und auch seine Debatten deutlich europäischer werden, als sie es gegenwärtig sind. Denn gegenwärtig ist der Referenzrahmen für die, die sich in den Debatten äußern, ausschließlich ihre nationale Wählerschaft. Und viele Debatten laufen hier nach streng nationalen Mustern ab. Wenn ich aber nicht nur von Leuten in meinem Land, sondern von Menschen quer durch Europa gewählt wurde, habe ich ein anderes Mandat und auch einen anderen Referenzrahmen. Das ist das Eine. Das Andere ist, dass bereits die Wahlprogramme, die Listen und auch die Kommunikation vor der Wahl und im Wahlkampf europäischer sind. Ich glaube aber, dass wir, um das zu erreichen, wonach Sie gefragt haben, noch mehr tun müssen.

Ich stelle mir im zweiten Schritt vor, dass künftig die Parteienfamilien Spitzenkandidaten präsentieren und dass in Zukunft dann diejenige Partei oder dasjenige Parteienbündnis, das am besten abgeschnitten hat, den Kommissionspräsidenten stellt. Dieser wird also nicht mehr von den Regierungschefs nach den Wahlen in einem sehr undurchsichtigen Verfahren aus dem Hut gezaubert. Meistens nach dem Motto: wer tanzt am besten nach unserer Pfeife. Es ist dann vielmehr eine Persönlichkeit, die man schon vor den Wahlen wahrnimmt und kennt und die ein Mandat von den Bürgern hat. Die Bürger haben dann mit der Wahlentscheidung zugleich auch Einfluss darauf, wer künftig diese Kommission und damit seitens der Kommission das gemeinsame Europa führen soll. Auch das stärkt den europäischen Charakter und den Einfluss der Bürger und es ändert ein wenig auch das Verhältnis der Institutionen zu einander. Nach meiner Vorstellung müsste der Kommissionspräsident in diesem Sinne vom Parlament gewählt werden, genauso wie jeder einzelne Kommissar oder jede einzelne Kommissarin.

Und der dritte Schritt ist, wenn ich ein bisschen langfristiger denke, dass wir als Parlament weg kommen müssen vom reinen Mitentscheidungsverfahren. Vielmehr sollten wir klären, was auf welcher Ebene entschieden werden soll. Und in allen Politikbereichen, in denen die EU die Rechtsetzungskompetenz hat, meine ich, dass das Parlament das letzte Wort haben muss. Das heißt konkret: Das europäische Parlament sollte dort, wo wir unstrittig europäische Kompetenzen haben, sowohl das Initiativrecht, d.h. das volle Gesetzesinitiativrecht als auch das Letztentscheidungsrecht über Gesetze haben. Und das würde unsere Rolle fundamental ändern: Im Moment dürfen wir nur „mitschwätzen“. Das ist viel, aber nicht genug. Wir entscheiden in der Regel nicht abschließend, sondern müssen uns mit Kommission und Rat einigen. Das führt dazu, dass am Ende Deals gemacht werden und das kann man diesen Gesetzen auch ansehen. Unter dem Gesichtspunkt - vielleicht bin ich da sehr deutsch - von Einfachheit, Verständlichkeit, Normenklarheit, Anwendungsfreundlichkeit usw. sind sie deshalb oft ein Alptraum, weil sie nie einfach eine klare Handschrift tragen, sondern am Ende immer das Ergebnis einer Art von Handel darstellen, d.h. in komplizierten Vermittlungsverfahren zwischen Rat, Kommission und Parlament ausgehandelt werden.

Zudem wird die politische Verantwortung verwischt und für die Bürger intransparent. Das kann man ändern, wenn man die Kompetenzen anders und klarer regelt, mit dem Ziel einer Stärkung des Europäischen Parlamentes und damit auch, wenigstens tendenziell, einer Schwächung der Kompetenzen von Rat und, in Teilbereichen, Kommission.

Wir haben jetzt viel über die Angebotsseite gesprochen, also wie die Parteien und das Parlament reformiert werden sollten. Was ist denn mit der Nachfrageseite? Mit den Wählerinnen und Wählern? Unter welchen Bedingungen werden sie sich als Unionsbürger/innen verstehen?

Wenn man sich Bewegungen wie Occupy oder andere anschaut, dann merkt man, dass das, was z.B. auf den Finanzmärkten passiert, die Leute wahnsinnig umtreibt. Sie haben längst begriffen, dass das nicht mehr von nationalen Regierungen allein gestaltet werden kann. Das gleiche gilt für die Rettung des Klimas oder dafür, wie wir mit den Fischen in den Meeren umgehen, damit es da auch künftig noch ein Leben gibt, das sich regenerieren kann und wir nicht alles zur Wüste machen. Das wissen die Leute längst – und da denken und engagieren sie sich transnational.

Was sie nicht wissen, ist wie sie sich auf dieser Ebene wirksam einschalten können. Deswegen machen sie dann so hilflose, symbolische Sachen wie vor der Börse zu campen. Das ist gut, aber es reicht nicht. Die Börse macht weiter wie bisher, es sei denn, die Politik setzt dem Casino bessere Regeln und klare Grenzen.

Ich glaube, dass Europa hier einen ganz klaren Auftrag hat: endlich ein Wirtschaftsmodell zu entwickeln und, weltweit beispielhaft, zu realisieren, das individuelle Freiheit mit gesellschaftlicher und sozialer Verantwortung verbindet. Und wenn wir anfangen über solche Sachen zu reden, wenn Wahlkämpfe z.B. die Frage in den Mittelpunkt stellen: welches Wirtschaftsmodell wollen wir für Europa? Oder: Wie gehen wir mit der wachsenden sozialen Spaltung der Gesellschaft um? Wie bringen wir das Interesse nachfolgender Generationen mit dem Wunsch, heute gut zu leben, in Einklang? Wenn wir solche großen Fragen endlich einmal in den Mittelpunkt stellen und darüber streiten, wenn die großen Debatten geführt und nicht immer unterdrückt und kurzsichtigem Durchwursteln geopfert werden, wenn klar ist, dass es wirklich um etwas geht, dann werden sich, bin ich überzeugt, die Leute mit weit größerer Begeisterung und mehr Herzblut wieder daran beteiligen.

Die Tragik ist doch, dass die Leute heute das Gefühl haben, dass diese großen Fragen gar nicht gestellt und offen diskutiert werden. Und sie wissen nicht, wo sie sich zu diesen großen Fragen verhalten können, es gibt dazu kein Politikangebot. Die Bundesebene kann es nicht richten, sie ist heute für vieles nicht mehr der richtige Adressat. Und auf europäischer Ebene haben die Menschen verständlicherweise bislang nicht das Erlebnis, dass sie mit der Stimme, die sie bei der Europawahl abgeben, den nötigen Einfluss auf die zentralen europäischen Politikentscheidungen ausüben. Die kommen in der Regel aus dem Rat, eigentlich also der Exekutive. Das Parlament wird dann, beispielsweise beim Fiskalpakt oder den Rettungsschirmen ESM/EFSF, nur noch mit einem eigentlich schon ausgehandelten Ergebnis konfrontiert.

Das ist tödlich für Demokratie. Demokratie heißt: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Demokratie heißt, an der Entstehung von Ideen mitwirken, wirkliche Debatten führen zu können. Aber so ist es nicht. Wenn die Staats- und Regierungschefs etwas wollen, sind alle heilfroh, dass man sich zumindest auf irgendetwas geeinigt hat. Das darf man dann nicht mehr in Frage stellen, sonst „gefährdet man Europa“. Dann heißt es Augen zu und durch. Und das ist tödlich, weil damit auch Europa und die großen europäischen Fragen ein Stück weit außerhalb der Diskussion gestellt werden. Dabei wäre im Moment nichts wichtiger zu diskutieren als Europapolitik. Die Menschen müssen erleben, dass es um etwas geht und dass sie einen Einfluss haben darauf – und nicht nur hilflose Entscheidungsempfänger sind. Also, ich glaube wir sollten darauf verzichten, die Wähler oder die Bürgerinnen und Bürger paternalistisch zu bevormunden, sondern ihnen die Möglichkeit geben, das was sie ohnehin massiv berührt und umtreibt endlich einmal wirksam zu diskutieren und mit zu gestalten, so, dass sie die Folgen ihrer Einflussnahme auch erkennen, und dass sie erleben können:

Europa, das sind nicht „die in Brüssel“. Sondern: „Wir sind Europa!“


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Das Interview führte Christine Pütz, EU-Referentin der Heinrich Böll Stiftung.

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