Als Zeichen der Solidarität versammelten sich gestern vor dem Haus des Journalisten Ahmet Sik zahlreiche Intellektuelle und Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen, auch die Türkeivertreterin der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Kommentare der Anwesenden ging immer wieder in die gleiche Richtung: Wir alle können mittlerweile im Rahmen des Ergenekon-Verfahrens angeklagt werden. Das Ergenekon-Verfahren, welches sich eigentlich gegen diejenigen Kreise richten sollte, die gegebenenfalls mit Hilfe eines Militärputsches eine demokratische Ordnung verhindern wollen, scheint zunehmend das Allheilmittel gegen unbequeme Stimmen zu werden. Es entsteht der Eindruck, dass diejenigen verstärkt unter Druck geraten, die sich mit einer „Demokratie in der Zwangsjacke“ nicht begnügen wollen. Unter Druck geraten diejenigen, die nicht nur die Aufklärung der Machenschaften von Ergenekon fordern, sondern eine umfassende Demokratisierung sowie die Aufklärung aller Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit und Gegenwart anstreben.
Der Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit wird immer enger. Ängstlich blicken viele auf die Zeit nach den Parlamentswahlen mit einem wahrscheinlich erneuten Wahlsieg der AKP. Häufig hervorgebrachte Interpretationen über eine vermeintliche „hidden Agenda“ der AKP auf dem Weg zu einem islamischen Land weisen dabei nicht in die richtige Richtung. Die Türkei ist vielmehr mit einer Regierung konfrontiert, die ein sehr begrenztes Verständnis von Demokratie aufweist. Zwar hat die AKP zahlreiche wichtige Reformen in Richtung Demokratisierung auf den Weg gebracht, aber sie ist weit davon entfernt, eine grundlegende Demokratisierung des Landes anzustreben. In Gesprächen mit Regierungsvertretern wird zum Beispiel immer wieder geäußert, dass „die Bevölkerung noch nicht so weit sei“ und deshalb die Zehn-Prozent-Klausel für Parteien nicht aufgehoben oder gesenkt wird. Man hat auch große Mühe, die wenigen Brotsamen zusammenzusammeln, um auf Fortschritte in der Kurdenfrage zu kommen. Und auch in der Frage von Religion und Politik kann man nicht von vorzeigbaren Ergebnissen sprechen: Noch immer ist das Priesterseminar auf Heybeliada geschlossen, noch immer sind die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften nicht mit der sunnitischen Mehrheit gleichgestellt.
Viele Beobachter rechnen damit, dass die AKP nach der Parlamentswahl eine neue Verfassung vorbereiten wird. Viele sorgen sich bereits jetzt darüber, dass die AKP hierbei einen ähnlichen Weg beschreiten wird wie bereits bei der Verfassungsreform vom vergangenen Herbst. Damals hat sie, ohne einen gesellschaftlichen Konsens etwa über die Einbindung der Zivilgesellschaft und breiter Kreise zu suchen, die Reform mit ihrer parlamentarischen Mehrheit durchs Parlament gepeitscht und dann über ein Referendum die vermeintliche Zustimmung der Bevölkerung organisiert. Ein Referendum, dem jedoch keine Auseinandersetzung mit den einzelnen Punkten vorausgeht, ist unter Demokratiegesichtspunkten zweifelhaft. Damals wurde das Bild propagiert, wer gegen die Verfassungsreform eintrete, sei gegen die Demokratisierung des Landes.
Auch wenn die Zeit für eine neue Verfassung in der Türkei längst überreif ist. Ohne breiten gesellschaftlichen Konsens und ohne Lösungen für die grundlegenden Fragen dieser Gesellschaft in Bezug auf Minderheiten, Kurden und die Laizismusproblematik kann man sich schwerlich eine demokratische Verfassung vorstellen.
Das Vorgehen gegen oppositionelle Journalisten ist vor diesem Hintergrund besonders bedenklich. Wenn man mit dem Risiko konfrontiert ist, in die Nähe von Ergenekon gerückt und inhaftiert zu werden, weil man sich mit dem eng gesteckten Rahmen der Demokratisierung nicht begnügen will, dann lässt dies nichts Gutes ahnen.
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Dr. Ulrike Dufner ist Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.