Ein großes Feuerwerk auf dem Mont des Arts hat am 31. Dezember den belgischen EU-Vorsitz abgeschlossen. Gegen einen nebligen Himmel erschienen die Farben Europas und der spanischen, ungarischen und belgischen Fahnen. Obwohl außer der Erarbeitung eines gemeinsamen Logos nie viel von einer intensiven Zusammenarbeit zwischen den drei Ländern zu merken war, bildete Belgien zusammen mit Spanien und Ungarn eine sogenannte Trio-Präsidentschaft.
Die belgischen Minister der kommissarischen Regierung leiteten in den vergangenen Monaten 36 formelle Ratssitzungen und 16 informelle Treffen. Belgische Diplomaten, Experten und Funktionäre saßen den sitzungsvorbereitenden Arbeitsgruppen und Ausschüssen vor. Es handelte sich um 1.943 formelle Treffen von Arbeitsgruppen des Rates und darüber hinaus noch viel mehr informelle Kontakte. Belgische Minister vertraten den Rat im Europäischen Parlament, bei der Europäischen Kommission und weltweit auf multilateralen Tagungen zu diversen Themen.
Zweifel am Anfang
Die meisten Beobachter sind sich darüber einig, dass der belgische Vorsitz ein Erfolg war. Das ist nicht selbstverständlich: Anfangs gab es ja manche Unsicherheiten, denn im Juli hatte Belgien keine vollwertige Regierung. Nie zuvor hatte ein europäischer Vorsitz unter einer Übergangsregierung anfangen. Auch blieb es lange unklar, ob es gelingen würde, während des Vorsitzes eine neue Regierung zu bilden. Wie würden den Neulingen dann die Aufgaben übergeben werden? Welche Parteien würden an dieser neuen Regierung teilnehmen? Würden die neuen Minister genug europäische Erfahrung haben? Schließlich zogen sich die Koalitionsverhandlungen monatelang hin und das alte Team blieb die ganze Zeit in Stellung. Aber auch dieses alte Team gab Anlass zum Zweifel: Würde ein demissionierender Minister wohl genug Autorität ausstrahlen? Und würden sich die Politiker nicht vor allem auf die Nationalpolitik konzentrieren?
Die größte Hoffnung ruhte offensichtlich auf den Schultern der Leute hinter den Kulissen: auf den Schultern erfahrener Diplomaten und Funktionäre, die den Vorsitz vorbereitet hatten und nicht nur alle Dossiers bis ins Detail beherrschten, sondern in vielen Fällen auch eine hervorragende Einsicht in die Empfindlichkeiten der anderen Mitgliedstaaten hatten. Während der Vorbereitung des Vorsitzes arbeitete Belgien auch gut mit dem Sekretariat des Rates und mit der Europäischen Kommission zusammen.
Der Trophäenschrank des Belgischen Vorsitzes
Ein Vorsitz in der zweiten Jahreshälfte fängt eigentlich erst nach den Sommerferien richtig an. Und schon bald konnten die belgischen Minister ihre ersten Erfolge verzeichnen. Namentlich der Durchbruch in der europäischen Regelung der Finanzmarktaufsicht, früh im Herbst, war auffällig.
Die Weltpresse lobte sofort Finanzminister Didier Reynders: Es gelang den Belgiern, für ein lästiges Dossier, das vor nicht allzu langer Zeit noch tabu war und kaum einige Monate zuvor noch felsenfest blockiert schien, eine Lösung zu finden. Die europäische Finanzmarktaufsicht geht nicht so weit wie anfänglich angestrebt (und vom Europäischen Parlament gefordert) wurde, sie ist aber eine erste Verbesserung. Ab 2011 werden vier europäische Wachhunde aktiv werden: einer für die Banken, einer für die Versicherer, einer für die Aufsicht über Wertpapiere und Märkte und zum Schluss ein Ausschuss, der Systemrisiken ausfindig machen und vermeiden soll.
Derselbe Ecofin-Rat erzielte Vereinbarungen über Hedgefonds und eine Revision der heutigen Regelung für Ratingagenturen.
Andere Vereinbarungen im Zusammenhang mit der Krise in der Eurozone wurden entweder schon früher getroffen oder durch den Europäischen Rat unter der Leitung von Herman Van Rompuy angekurbelt. In manchen Fällen mussten die Verbindlichkeiten aber unter dem belgischen Vorsitz noch weiter konkretisiert werden. Es wurde zum Beispiel die Einführung eines „europäischen Semesters“ vorbereitet, wobei die Mitgliedstaaten Europa ihre Haushalte bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2011 vorlegen müssen, bevor sie die Diskussion im eigenen Land einleiten. Auf dem Dezembergipfel wurde vereinbart, mittels einer beschränkten Vertragsänderung eine feste Grundlage für einen Rettungsfond zu schaffen, mit dem Ländern geholfen werden kann, wenn die Gefahr besteht, dass ihre Haushaltsprobleme für andere Euroländer Folgen nach sich ziehen.
Die mehr strukturelle Europa 2020-Strategie für Wachstum und Arbeitsplätze, die die europäische Wirtschaft mittelfristig umgestalten und in eine nachhaltigere Richtung lenken soll, wurde im Juni 2010 genehmigt. Ihre Umsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten wurde unter dem belgischen Vorsitz weiter erörtert, wie übrigens auch die konkreten Initiativen, die in den nächsten Monaten von den europäischen Einrichtungen ergriffen werden, um die Strategie weiterhin oben auf der Tagesordnung zu behalten.
In einem weiteren Wirtschaftsdossier, der Richtlinie über Zahlungsrückstände, wurde ein Durchbruch erzielt. Fortan ist festgeschrieben, innerhalb welcher Frist Behörden ihre Verbindlichkeiten bezahlen müssen und mit welchen Geldstrafen sie im Falle von Zahlungsrückständen konfrontiert werden.
Eine heikle Frage war das europäische Patent. Schon seit vielen Jahrzehnten wird nach einer Lösung gesucht, wie sich Erfindungen in der Europäischen Union besser schützen lassen. Die Beantragung eines Patents ist in Europa im Schnitt rund zehnmal teurer als in den Vereinigten Staaten. Das ist auf die Übersetzungskosten zurückzuführen und darauf, dass das Patent in fast jedem einzelnen Mitgliedstaat aufs Neue beantragt werden muss. Vereinfachungen, die die Anzahl der Sprachen beschränken, stießen in der Vergangenheit immer auf Vetos. Vereinbarungen über Sprachregelungen für die Beantragung von Patenten erfordern Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten und dadurch blieb das Dossier in einer Sackgasse. Ein belgischer Kompromissvorschlag, in dem nur von Übersetzungen ins Englische, Französische und Deutsche die Rede war, war für Spanien und Italien inakzeptabel. Der belgische Vorsitz suggerierte darauf hin, mittels der Prozedur der verstärkten Zusammenarbeit fortzufahren. Fast alle Mitgliedstaaten, außer Spanien und Italien, waren damit einverstanden. Die Verhandlungen müssen im Jahr 2011 noch formell abgeschlossen werden, aber eine große Gruppe von Ländern wird in Zukunft über ein gemeinsames Patent verfügen.
Nicht alle Dossiers, an denen während des belgischen Vorsitzes gearbeitet wurde, sind bereits völlig abgeschlossen. In vielen Fällen hat das Europäische Parlament Anfang 2011 noch das letzte Wort. Die Tatsache aber, dass sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben (in manchen Fällen nachdem der belgische Vorsitz einen Kompromiss vorgeschlagen hatte), ist meistens schon ein wichtiger Schritt vorwärts. Zudem wurde hinter den Kulissen mit dem Parlament Rücksprache gehalten und das verringert erheblich die Chance, dass das Parlament dem Rat noch einen Knüppel zwischen die Beine werfen wird. Das gilt u.a. für die europäischen Vereinbarungen über Nahrungsmitteletiketten und Eurovignetten (wobei verschmutzende LKWs für die Benutzung europäischer Straßen mehr werden zahlen müssen) sowie für Vereinbarungen, die es ermöglichen, für Verkehrsdelikte in anderen Mitgliedstaaten Geldstrafen einzutreiben, für eine Verdeutlichung der Rechte von Konsumenten und Busreisenden. Eine weiteres delikates Dossier, über das sich die Mitgliedstaaten einigen konnten, hat mit Patienten-Mobilität zu tun: neue Regelungen werden festlegen, unter welchen Bedingungen sich Patienten künftighin in anderen Mitgliedstaaten pflegen lassen können.
Auffällig im Bereich der Außenpolitik ist das Freihandelsabkommen mit Südkorea. Das Abkommen geht sehr weit und bis zum letzten Moment zeigten EU-Mitgliedstaaten wie Italien viel Skepsis. Einklang gab es in Folge der Überschwemmung auch über die weitere Förderung des Handels mit Pakistan und einen erleichterten Zugang dieses Lands zum europäischen Markt.
In Brüssel wurde im Oktober auch der zweijährliche ASEM-Gipfel veranstaltet: asiatische und europäische Staats- und Regierungschefs trafen sich, um die Finanz- und Wirtschaftskrise und andere internationale Herausforderungen zu erörtern.
In Bezug auf die multilaterale Umweltpolitik wurden im zweiten Halbjahr 2010 wichtige Konferenzen über Biodiversität (Nagoya) und Klima (Cancún) veranstaltet. Die Vorbereitung innerhalb der Union, die vom belgischen Vorsitz koordiniert wurde, verlief in beiden Fällen ohne Zwischenfälle, und im Gegensatz zum Klimagipfel 2009 in Kopenhagen gelang es der Union während der Konferenz mit einer Stimme zu sprechen. In der Praxis führte der Vorsitz gemeinsam mit dem beteiligten Kommissar das Wort.
Erweiterungsprozesse kennzeichnen sich durch starke innere Dynamik und die genaue Einwirkung des Vorsitzes lässt sich nur schwer ermessen. Im zweiten Halbjahr 2010 war vor allem die Aufnahme der Verhandlungen mit Island auffällig. Die Verhandlungen mit Kroatien konnten nicht abgeschlossen werden, befinden sich aber auf jeden Fall in der Endphase. Die Gespräche mit der Türkei stagnierten zwar nicht, sondern verlaufen mühsamer, aber es wurde über eine Aufnahme von Gesprächen zum Wettbewerbsabschnitt keine Vereinbarung erzielt. Montenegro wurde der Status eines Beitrittskandidaten verliehen und der Annäherung zu Serbien wurde ein neuer Impetus gegeben.
Obgleich es schwierig ist, die Rolle des Vorsitzes genau einzuschätzen, fällt im obigen Überblick doch auf, dass im zweiten Halbjahr 2010 viele Angelegenheiten mit einer Vereinbarung abgeschlossen wurden – manchmal nachdem sie längere Zeit blockiert waren. Trotzdem gibt es aber auch Dossiers, die der belgische Vorsitz nicht zu einem guten Ende führen konnte. Mutterschaftsurlaub ist wohl das bekannteste Beispiel. Gemäß den heutigen Regeln müssen die Mitgliedstaaten einen vierzehnwöchigen Mutterschaftsurlaub gewähren. Die Kommission schlug vor, diese Periode bis auf achtzehn Wochen zu erhöhen. Das Europäische Parlament nahm Stellung und schlug seinerseits eine Verlängerung auf zwanzig Wochen, bei Lohnfortzahlung, vor. Das war weit vom Willen der meisten Mitgliedstaaten entfernt. Der belgische Vorsitz konnte nur feststellen, dass dieses Dossier noch manche Debatten erfordern wird.
Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon
Der Vertrag von Lissabon hat die Rolle des EU-Vorsitzes weitgehend geändert. Seine repräsentative Rolle ist größtenteils weggefallen. Auf dem höchsten politischen Niveau ist jetzt der Vorsitzende des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, das Gesicht Europas für die Außenwelt und auf der Ebene der Außenpolitik gibt es die Hohe Vertreterin, Catherine Ashton. Aufgaben, die früher vom Premierminister bzw. Außenminister des vorsitzenden Landes erledigt wurden, gehören nun zum Arbeitsbereich von Van Rompuy und Ashton.
Dem spanischen Vorsitz, im ersten Halbjahr 2010, fiel es noch schwer, die neue Sachlage zu akzeptieren. Premier Zapatero wollte nicht, dass Van Rompuy an seiner Stelle im internationalen Rampenlicht stehen würde. Er lud daher den amerikanischen Präsidenten, Obama, nach Madrid ein und wollte den Empfang selbst regeln. Seine Bestrebungen misslangen und Obama kam im ersten Halbjahr nicht nach Europa.
Unter dem belgischen Vorsitz verlief alles geschmeidiger. Van Rompuy und Ashton bekamen freies Spiel und konnten ihre Rolle als „feste EU-Werkzeuge“ ungestört verstärken. Während des europäisch-amerikanischen Gipfels in Lissabon, am Rande einer NATO-Tagung, waren es Van Rompuy und Kommissionsvorsitzender José Manuel Barroso, die den amerikanischen Präsidenten empfingen. Der belgische Vorsitz hielt sich bewusst bedeckt. Die künftigen Vorsitze haben kaum noch eine Chance, das verlorene Gelände wiederzuerobern.
Der Lissabon-Vertrag sieht auch die Errichtung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes vor. Die diesbezüglichen Verhandlungen darüber wurden von Ashton im Einverständnis mit dem Vorsitz geleitet. Im zweiten Halbjahr 2010 wurde über diesen Europäischen Diplomatischen Dienst eine Vereinbarung erzielt.
Der Vertrag von Lissabon brachte noch andere Neuerungen, die unter dem belgischen Vorsitz weiter konkret gestaltet werden mussten. Ein Beispiel ist die Europäische Bürgerinitiative: Eine Million Bürger können eine Frage auf die Tagesordnung der Europäischen Kommission setzen. Die genauen Modalitäten in Bezug auf die Sammlung von Unterschriften und die Überprüfung der Zulässigkeit wurden trotz zahlreicher anfänglicher Meinungsunterschiede zwischen der Kommission, dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten unter dem belgischen Vorsitz gesetzlich verankert.
Mit dem Lissabon-Vertrag änderte sich auch das Verfahren zur Genehmigung von delegierten und Durchführungsrechtsakten. Der Großteil des regulierenden Outputs der Europäischen Union besteht aus solchen Akten. Es handelt sich zwar um sehr technische und detaillierte Vorschriften, aber deren Natur bestimmt so manches Mal die genaue Durchführung, Strenge und konkrete Anwendung der europäischen Gesetzgebung. Auch in diesem Fall legte der Lissaboner Vertrag die allgemeinen Leitlinien fest und es mussten nur noch die genauen Modalitäten ausgehandelt werden. Auch diese Akte wurde vom belgischen Vorsitz zu einem guten Ende geführt. Ab März 2011 werden die früheren Komitologieverfahren durch eine ganz neue Praxis ersetzt.
Das Europäische Parlament gewann mit dem Vertrag von Lissabon an Macht bei der Aufstellung des Haushalts. Die Diskussionen über den EU-Haushalt 2011 wurden sofort in aller Schärfe geführt. Eine erste Vermittlung im November misslang sogar. Das Parlament forderte von den Mitgliedstaaten die Gewährleistung, dass es auch bei der Aufstellung des nächsten Mehrjahreshaushalts (2014 und nachher) eine aktive Rolle spielt und dass eine eingehende Debatte über europäische Steuern eingeleitet wird. Einige Mitgliedstaaten, darunter das Vereinigte Königreich und die Niederlande, wollten nicht so weit gehen. Letzten Endes wurde im Dezember zwischen der Kommission, dem Rat und dem Parlament dennoch ein Kompromiss erzielt.
Auch die nächsten Vorsitze werden noch ermitteln müssen, wie sie mit der durch den Vertrag von Lissabon gestärkten Position des Europäischen Parlaments am besten umgehen. In Bereichen wie Handel, Landwirtschaft und gerichtlicher Zusammenarbeit hat das Parlament künftig das letzte Wort. Das bedeutet, dass ein vorsitzendes Land den Empfindlichkeiten des Parlaments viel mehr Rechnung tragen muss. Um Europäische Vereinbarungen oder Gesetze zu machen, reicht es nicht mehr, dass sich die Mitgliedstaaten untereinander einigen. Auch das Parlament wird in Zukunft aktiv am Kompromiss beteiligt werden müssen.
Die Erfolgsfaktoren
Nachträglich lässt sich nur feststellen, dass eine Übergangsregierung nicht notwendigerweise ein Hindernis für einen erfolgreichen Vorsitz ist. Vielleicht sogar im Gegenteil: Für die meisten beteiligten Minister stellten die europäischen Aktivitäten in den vergangenen sechs Monaten ihren wichtigsten Auftrag dar. Liberale Minister wie Didier Reynders (Ecofin), Annemie Turtelboom (Inneres), Vincent Van Quickenborne (Wettbewerb) und Sabine Laruelle (Landwirtschaft) waren nicht an den neuerlichen Regierungsverhandlungen beteiligt. Auch der Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, Olivier Chastel, gehört zur liberalen Partei, die nicht an den Regierungsverhandlungen teilnahm. Zudem gab es einen wichtigen Beitrag durch Minister der Gliedstaaten, die ebenso wenig von den Schwierigkeiten mit der Bildung der nationalen Regierungen betroffen wurden. Es handelte sich dabei um Kris Peeters (Fischerei), Joke Schauvliege (Umwelt), Pascal Smet, Philippe Muyters und Fadila Laanan (alle drei für Erziehung, Jugend, Kultur und Sport zuständig). Andere Minister der nationalen Regierung gehörten zwar zu den an den Bildungsgesprächen beteiligten christdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien, nahmen aber nicht persönlich an den täglichen Verhandlungen teil. Weil die öffentliche Aufmerksamkeit in Belgien fast völlig auf die mühsame Regierungsbildung abgelenkt wurde, konnten die europäischen Aufgaben ohne Störungen erledigt werden. Es wurden keine schwierigen parlamentarischen Fragen gestellt und der EU-Vorsitz war kaum ein Thema in den Medien. Minister konnten auf der europäischen Bühne unbehelligt vorgehen und wurden nie zurückgepfiffen oder unter Druck gesetzt. Es ist eine merkwürdige Feststellung, aber im Nachhinein traf es sich eigentlich gut, dass der Vorsitz von einer Übergangsregierung gestemmt werden musste.
Ein weiterer unverkennbarer Erfolgsfaktor war die erfahrene Diplomatie. Die Dossiers waren hervorragend vorbereitet worden und ein großes Experten- und Diplomatenteam war ständig verfügbar. Dieses Team hatte ein vorzügliches Netzwerk von Kontakten in den anderen Mitgliedstaaten und bei den europäischen Einrichtungen (Sekretariat des Rates, Europäische Kommission und Europäisches Parlament). Während Hunderter formeller und informeller Treffen wurden die meisten Probleme schon geglättet, noch bevor die Dossiers dem Rat selbst vorgelegt wurden.
Auch andere Elemente waren im Vorteil des belgischen Vorsitzes. Das zweite Semester 2010 war ein interessanter Zeitraum für den Antritt des EU-Vorsitzes, denn im ersten Halbjahr mussten mehrere Mitgliedstaaten mit angezogener Handbremse verhandeln. Angela Merkel wurde in Deutschland mit wichtigen Landtagswahlen konfrontiert. Im Vereinigten Königreich machten es die bevorstehenden Wahlen für die Labour-Regierung schwer, eine konstruktive europäische Rolle zu spielen: Labour würde sofort von der konservativen Opposition zur Rede gestellt werden. Die Briten blockierten in der ersten Jahreshälfte deshalb eine Vereinbarung über strengere europäische Regeln für die Banken. Im zweiten Halbjahr 2010 gab es kaum Wahlen und Mitgliedstaaten waren schneller bereit sich auf europäischer Ebene zu engagieren. Während des belgischen Vorsitzes gab es also keine wichtigen Nationalwahlen, die die Verhandlungsdynamik stören konnten.
Darüber hinaus wurde das zweite Halbjahr 2010 noch weitgehend von der Krise der Eurozone dominiert. Das führte zu großer Unruhe und gelegentlich zu panikartigen Nachrichten über das mögliche Ende der Einheitswährung. Die Geschichte lehrt uns aber, dass Krisen in der Europäischen Union nur selten lähmend wirken. Krisenzeiten haben meistens sogar zur Folge, dass die Europäische Union gestärkt wird und sich die Mitgliedstaaten besser in den Griff bekommen. Die Mitgliedstaaten erkennen, dass Krisen meistens einen gemeinschaftlichen europäischen Ansatz erfordern. Es wird also mehr Europa geben, nicht aus Begeisterung über ein stärkeres Europa, sondern aus Notwendigkeit. Dem belgischen Vorsitz bot sich eine einmalige Chance – und er hat sie genutzt.
Nachwort
Nach dem Feuerwerk, mit dem am 31. Dezember der belgische Vorsitz abgeschlossen wurde, erschien eine Laserprojektion: „Belgium @ Ungarn: good luck“. Ungarn hat am 1. Januar die Fackel übernommen. Im Gegensatz zu den Belgiern haben die Ungaren seit einigen Monaten tatsächlich eine vollwertige (zentrum-rechte) Regierung. Trotzdem hat ihr Vorsitz nicht problemlos begonnen.
Ungarn hat vor kurzem ein neues Mediengesetz angenommen, das nach Ansicht vieler die Pressefreiheit ernsthaft einschränkt. Oppositionsparteien, Nichtregierungsorganisationen, die Europäische Kommission und zahlreiche prominente europäische Politiker, auch in der Fraktion des ungarischen Ministerpräsidenten, machen sich Sorgen und üben offen Kritik. Zudem wurde am Anfang des Vorsitzes bekannt, dass mehrere ausländische Betriebe in Ungarn rückwirkend zusätzlich besteuert werden, was im Widerspruch zur europäischen Gesetzgebung stehen könnte. Die Kommission untersucht diese Frage.
Die Zweifel gelten aber vor allem der Qualität der Leute hinter den Kulissen, die während des belgischen Vorsitzes solch eine Schlüsselrolle gespielt haben. Die Ständige Vertretung Ungarns ist mit weniger Personal besetzt als die ständigen Vertretungen der meisten anderen Mitgliedstaaten. Darüber hinaus wurden nach dem neuerlichen Regierungswechsel mehrere Spitzendiplomaten ausgetauscht. Es wird befürchtet, dass die unerfahrene ungarische Diplomatie unfähig ist, den Vorsitz erfolgreich zu führen. Sogar die Sprachkenntnisse der Minister wie auch der Diplomaten seien beschränkt, wird behauptet.
Auch zu Anfang des belgischen Vorsitzes gab es große Zweifel. Es bleibt abzuwarten, ob die Ungarn diese Zweifel ähnlich überzeugend wie die Belgier beheben können.
EU-Ratspräsidentschaft Belgien 2010
Weitere Artikel:- Hendrik Vos: Die EU-Ratspräsidentschaft Belgiens: ein Vorausblick
- Mario Telo: Überblick: Die belgische EU-Ratspräsidentschaft 2010
- Hendrik Vos: Die wirtschaftlichen Herausforderungen des belgischen EU-Vorsitzes
- Mario Telo: Die belgische EU-Ratspräsidentschaft: Schwerpunkte der Außenpolitik
- Mario Telo: Die belgische EU-Ratspräsidentschaft: Eine Bilanz
- Hendrik Vos: Der belgische Vorsitz der Europäischen Union: eine Rückschau