Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon
Braucht Europa gute Verwalter oder eine innovative politische Führung? Es ist zu früh, um eine endgültige Bilanz der Antwort, die die belgische Ratspräsidentschaft auf diese Frage gegeben hat, zu ziehen. Inwiefern ist also die belgische Präsidentschaft über die Rolle des ehrlichen Vermittlers hinausgegangen und hat sie sich zum Impulsgeber und zur treibenden Kraft entwickelt, so wie es der interne und internationale Kontext verlangte?
Einerseits wird von der internationalen Presse, den Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der Kommission weitgehend anerkannt, dass der Ministerrat in den vergangenen sechs Monaten gut funktioniert hat. Nicht nur das von Olivier Chastel geleitete diplomatische Team, sondern auch die Minister der geschäftsführenden Regierung von Yves Leterme, insbesondere Außenminister Steven Vanackere und die Ministerpräsidenten der Regionen (was die dezentralen Zuständigkeiten betrifft), haben die institutionelle Maschinerie gut geölt und sogar unverhoffte Ergebnisse erzielt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die betreffenden Akteure am 20. Dezember vor der Presse offiziell zu den positiven Ergebnissen der turnusmäßigen belgischen Ratspräsidentschaft des letzten Halbjahres beglückwünscht haben. Nicht nur die anerkannte Professionalität der Diplomaten, sondern auch ihr Engagement, ihre Erfahrung und insbesondere die außergewöhnlich lange Zeit, die Diplomaten und geschäftsführende Minister in den Dialog mit den anderen Institutionen und nationalen Regierungen investiert haben, haben Eindruck gemacht.
Es mussten die erforderlichen Bedingungen geschaffen werden, damit der Vertrag von Lissabon erste Früchte tragen kann, was seitens der turnusmäßigen Ratspräsidentschaft ein gewisses Understatement erforderte, insbesondere hinsichtlich des umfangreichen Kapitels der Außenbeziehungen innerhalb des neuen institutionellen Rahmens. Dieser wird dominiert von drei institutionell gestärkten Personen (dem Präsidenten des Europäischen Rats, dem ehemaligen belgischen Premierminister Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Barroso, gestärkt durch seine parlamentarische Legitimation sowie der Hohen Vertreterin für die Außenpolitik, Catherine Ashton) sowie den größeren gesetzgebenden Befugnissen des Organs, das mit dem Vertrag von Lissabon zum Mitentscheider geworden ist, also dem Europäischen Parlament. Die wechselnde Präsidentschaft des Ministerrats wird in diesem Zusammenhang von Experten einstimmig als der Verlierer betrachtet.
Dennoch bleibt ein erheblicher Spielraum für Initiativen und der belgischen Präsidentschaft, die allen Sonderformationen des Ministerrates (mit Ausnahme des Rats für Auswärtige Angelegenheiten) und dem Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) (genauer gesagt, den Ausschüssen) vorsitzen musste, ist es gelungen, ausgewogen und mit einigen unleugbaren Erfolgen die Rolle des Brokers, des Vermittlers zwischen den Mitgliedsländern zu übernehmen, eine kommunikations- und kompromissfreundliche Atmosphäre zu schaffen und zwischen den Institutionen harmonisierend zu wirken bezüglich sehr konfliktgeladener Themen wie dem Ausweg aus der Wirtschaftskrise oder dem EU-Haushalt. Von großer Bedeutung ist die gute Arbeit im Rahmen des Vorsitzes des Rats für Allgemeine Angelegenheiten (RAA), der in Zusammenarbeit mit Herman Van Rompuy die europäischen Ratssitzungen vom 14. September, 28./29. Oktober und vom 16./17. Dezember gut vorbereitet und die Arbeit der Sonderräte (horizontale Dossiers wie „EU 2020“) koordiniert hat.
Es wurde deutlich, dass unbedingt eine Rolle für den Premierminister des Landes, welches die turnusmäßige Ratspräsidentschaft innehat, gefunden werden muss, der paradoxerweise außer der Vorstellung des Programms im Europäischen Parlament während der Ratspräsidentschaft keine „sichtbare“ Funktion ausübt (obwohl er für die Koordinierung der Präsidentschaft verantwortlich ist). Erinnern wir daran, dass es der Außenminister ist, der im Falle der Abwesenheit der Hohen Vertreterin den Vorsitz des Rats für Außenpolitik innehat. Bedenken wir außerdem, dass durch die neuen Befugnisse und Kompetenzen des Europäischen Parlaments die Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen der Legislative von grundlegender Bedeutung ist, was sich bei den Meinungsverschiedenheiten über den EU-Haushalt deutlich zeigte.
Auch sei an dieser Stelle erwähnt, welche Bedeutung Belgien dem „Trio-Programm“ beigemessen hat, also der Kohärenz der drei Ratspräsidentschaften während eines Gesamtzeitraums von 18 Monaten (im Falle Belgiens mit Spanien und Ungarn), die eingeführt wurde, um die negativen Folgen zu begrenzen, welche durch die Diskontinuität der wechselnden Präsidentschaften in jeder regionalen oder globalen Organisation verursacht werden. Die drei Länder haben sich an die Spielregeln gehalten und so einen Präzedenzfall geschaffen, der vielleicht auch das nächste „Trio“ beeinflussen wird.
Natürlich sollten auch die Probleme erwähnt werden, die an die nächsten Präsidentschaften übergeben wurden. Der Erfolg von Minister Melchior Wathelet bei den EU-Haushaltsverhandlungen nach mehreren Niederlagen und Drohungen seitens der reichen Staaten (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Niederlande und Schweden, die den Rat vom 10. Dezember überredeten) wurde dank der Bereitschaft des Parlaments (Abstimmung vom 15. Dezember) und der Kommission erreicht. Doch da die Gründe für die Forderung einer Haushaltserhöhung von + 2,9 % auf + 5,9 % gute Gründe waren, zeichnen sich Wolken am Horizont ab, sobald deutlich wird, dass die EU ihre Politik mangels der erforderlichen finanziellen Mittel nicht gemäß ihren neuen Prioritäten umsetzen kann. Dies zeigt sich beim Europäischen Auswärtige Dienst, dem Handeln auf internationaler Ebene im Allgemeinen, der Einwanderungspolitik sowie der Agenda EU2020 für technologische Innovation. Das Europäische Parlament erhielt kleine zusätzliche Fonds sowie die politische Zusage seitens der vier nächsten turnusmäßigen Präsidentschaften, seine Beteiligung an wichtigen Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen zu garantieren. Daher muss also eingestanden werden, dass sich die Gesamtbilanz der belgischen Ratspräsidentschaft 2010 erst nach einer gewissen Zeit zeigen wird.
Politische Maßnahmen für den Ausweg aus der Krise
Die belgische Präsidentschaft stand, angesichts der Dauer der internationalen Wirtschaftskrise und ihrer Verschärfung in der Euro-Zone, vor außergewöhnlichen Aufgaben. Dass die Euro-Zone 2010 exemplarisch für die ganze Welt zum „kranken Mann“ wurde, war ein gefundenes Fressen für ihre ewigen Feinde, der „angelsächsischen Hochfinanz“, wie sich Valéry Giscard d’Estaing am 20. Dezember ausdrückte. Ein gutes Management reicht da nicht aus. Vielmehr sind Innovationen auf der Ebene der Steuerung und Funktionsweise der EU-Institutionen erforderlich. Während der belgischen Ratspräsidentschaft hat die EU in vier Bereichen Fortschritte erzielt:
a) Schaffung eines Instruments gegen die internationale Finanzspekulation, die in 2007/8 die internationale Krise ausgelöst hatte. Das komplexe Abkommen zur „Finanzaufsicht“ von Juli 2010, beschlossen auf Initiative von Minister Didier Reynders, dem es gelungen ist, die unterschiedlichen Sichtweisen der Staaten im ECOFIN, der Kommission und des Parlaments zu vereinbaren, wird trotz seiner Grenzen und Schwächen eine bessere Kontrolle der Finanzmärkte und ein Verbot vergifteter, für das Finanzsystem gefährlicher Finanzprodukte ermöglichen. Es wurden Stellen geschaffen, die für die vorsorgliche Kontrolle von Banken und Versicherungsgesellschaften zuständig sind, sowie der ab 2011 handlungsfähige ESRB (Europäischer Ausschuss für Systemrisiken) zur Überwachung von Fehlern des Finanzsystems. Schließlich haben Rat und Parlament eine Richtlinie für Manager Alternativer Investmentfonds (und Hedgefonds) angenommen.
b) Über den schwachen Art. 99 des Vertrags musste hinausgegangen werden, um ein effizienteres Instrument für die Abstimmung der makroökonomischen Politiken zu schaffen. Die Vereinbarung über ein „Europäisches Semester“ beinhaltet die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ab 1. Januar 2011 ihre nationalen Haushaltsentwürfe und ihre Strukturreformprogramme vor dem Rat zu präsentieren. Natürlich wird die EU keinen Mitgliedstaat, und vor allem keinen großen, zu einer Änderung seines Staatshaushalts zwingen können, doch angesichts des Interesses der Staaten, ihre nationalen Praktiken zu verbessern und die besten Praktiken zu übernehmen, kann der Vergleich der einzelnen nationalen Haushalte zu Verbesserungen beitragen. 2011 wird sich zeigen, welche Vorteile dieses neue Instrument angesichts der Tendenz zu einer durch die Unregelmäßigkeiten des Vertrags ermöglichten Diskrepanz zwischen einer weit reichenden Währungsunion und einer sehr schwachen Wirtschaftsunion mit sich bringen kann.
c) Die Reform der zentralen wirtschaftlichen Lenkung (insbesondere die Reform des 1997 angenommenen und bereits 2005 einmal geänderten „Stabilitäts- und Wachstumspakts“) hat eine Taskforce des Europäischen Rats und das persönliche Engagement von Präsident Van Rompuy erforderlich gemacht. Diese Taskforce wurde das Zugpferd für Van Rompuys Vorgehen zugunsten einer zentralen politischen Rolle des Europäischen Rats in diesem für die EU sehr heiklen und entscheidenden Bereich (schließlich geht es darum, den Euro vor Angriffen der internationalen Spekulation zu schützen). Dennoch hat die turnusmäßige Ratspräsidentschaft aktiv dabei mitgewirkt.
Die beim Europäischen Rat im September erzielte Vereinbarung wurde auf zwei Arten kommentiert. Man kann nicht umhin anzuerkennen, dass bezüglich des Fortbestands des Fonds (440 Milliarden, im Rahmen der 750 des globalen Pakets einschließlich des Beitrags des IWF), welcher in Zukunft „Stabilitätsmechanismus“ heißen wird, Deutschland schließlich eingelenkt hat. Im Gegenzug hat Deutschland eine kleine Vertragsreform erreicht (nach der vereinfachten Neufassung eines einzigen Artikels, nämlich Art. 136 des EGV), wonach der Mechanismus nur dann greift, „wenn dies unerlässlich ist, um die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes zu schützen. Die Gewährung jeglicher notwendiger finanzieller Hilfe im Rahmen des Mechanismus wird strikten Bedingungen unterliegen“, und dies, um einem gefährlichen Einspruch des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vorzubeugen.
Aber es gab auch Kritik im Europäischen Parlament und in der internationalen Presse. Von den Einschränkungen in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats im Dezember werden von Expertenseite insbesondere folgende zwei Punkte hervorgehoben: Der neue Mechanismus tritt erst 2013 (Januar oder Juni?) in Kraft, was angesichts der Dringlichkeit für die gefährdeten Länder und der Bedrohungen durch internationale Spekulationen „zu spät“ ist. Zweitens lehnt Deutschland
(unterstützt durch das Vereinigte Königreich, Schweden und die Niederlande) die Schaffung von Eurobonds ab. Diese waren von Jacques Delors im Rahmen seines Weißbuchs von 1993 vorgestellt und von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Junker, Tremonti, Cohn-Bendit, mit der Unterstützung durch das Europäischen Parlaments und eines Teils der Kommission wieder aufgegriffen, da sie nach Ansicht ihrer Befürworter geeignet wären, Privatkapital anzuziehen. Der Einwand der reichen Staaten lautet, dass die weniger vorbildlichen Länder damit jeglichen Anreiz zur Besserung (im internationalen Rating ihrer Staatsverschuldung) verlören. 2011 wird uns zeigen, wer in dieser für den europäischen Bürger sehr gefährlichen Pokerpartie Recht hat.
d) Verbindung zwischen dem Ausweg aus der Krise und der EU2020-Strategie für Beschäftigung und Innovation. In diesem komplexen Rahmen, der seit März 2010 durch die Führungsrolle der Kommission Barroso dominiert wird, war im Programm die Annahme der Leitlinien für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung vorgesehen. Dies ist ein entscheidender Schritt in Richtung Europäischer Rat im März 2011, bei dem eine erste Bestandsaufnahme zum Fortschritt der Strategie EU2020 für das laufende Jahrzehnt vorgenommen werden soll.
Ein wichtiger Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EU: Im Zusammenhang mit dem „Europäischen Patent“ bewegt sich der Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ (unter Vorsitz des Belgiers Van Quickenborne) mangels einer Möglichkeit, bezüglich der Sprachregelung Einstimmigkeit zu erreichen, nach zehnjährigen Verhandlungen und Vorschlägen von etwa 10 Ländern (darunter Frankreich, Deutschland und das VK) in Richtung einer „verstärkten Zusammenarbeit“ (die 2011 beginnen soll und eine dreisprachige Regelung – Englisch, Französisch und Deutsch - vorsieht). Natürlich ist die verstärkte Zusammenarbeit ein Instrument, welches seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 besteht, jedoch bislang nur selten zum Einsatz kam (lediglich für die Scheidung binationaler Ehepaare). Italien und Spanien sind sehr kritisch (wegen des Ausschlusses des Spanischen und Italienischen) und widersetzen sich, da ihrer Meinung nach die verstärkte Zusammenarbeit „nicht ersonnen wurde, um die üblichen gemeinschaftlichen demokratischen Mechanismen zu umgehen“, und unvereinbar sein könnte „mit dem Prinzip und der Funktionsweise des Binnenmarktes“, da das Abkommen nur die Unterzeichnerstaaten verpflichten würde (so der italienische Außenminister Frattini). Die beiden Länder und ihre Verbündeten könnten die anderen jedenfalls nicht daran hindern, diesen Schritt nach vorn zu tun, da laut Vertrag ein Drittel der Mitgliedstaaten das Recht hat, eine „verstärkte Zusammenarbeit“ aufzunehmen, unter der Bedingung, dass diese Politik und Zielen der EU nicht schadet. Es würde sich um eine Premiere in einem sehr heiklen Bereich handeln. Dies muss weiter beobachtet werden, auch als Versuchsprojekt für andere Themen, die Gegenstand einer verstärkten Zusammenarbeit sein könnten, falls es zu Blockierungen im Rat kommt.
Bemerkenswert und „typisch belgisch“ war der Kampf für das soziale Europa. Die Ministerinnen Laurette Onkelinx (Volksgesundheit) und Joëlle Milquet (Arbeit) sind auf Anregung des Rats hin übereingekommen, ein Instrument zu schaffen, welches mit der ursprünglichen Absicht der Strategie von Lissabon verbunden ist, aber Gefahr läuft, im neuen Jahrzehnt marginalisiert zu werden, nämlich die Bemühungen um eine Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen der Rolle von ECOFIN und der Rolle einer neuen Vermittlungsstelle zwischen mehreren Sonderräten mit sozialem Charakter. Dabei geht es um die Institutionalisierung des Berichts des EPSCO-Rats (Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit, Verbraucher) vor jedem europäischen Rat, insbesondere vor dem im März jedes Jahres. Die beschlossenen Regelungen sehen Leitlinien vor, eine Kontrolle der Befolgung nationaler Pläne und ihrer konkreten Umsetzung mit der Androhung von Auflagen an Staaten, die ihren eigenen jährlichen Verpflichtungen in diesen Bereichen gemäß der offenen Koordinierungsmethode nicht nachkommen. Der Gedanke, dass Beschäftigung und sozialer Zusammenhalt Ressourcen für den Ausweg aus der Krise und keine Kosten darstellen, hat sich in der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft zwischen 2007 und 2009 durchgesetzt (siehe beispielsweise die Veröffentlichungen des amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman über die Vorteile des europäischen Sozialmodells). Daher sind sowohl die Kompromisse zu den „Beschäftigungsrichtlinien“ (die Europäische Beschäftigungsstrategie ist Teil der Agenda 2020 und wird im Mittelpunkt des Europäischen Rats im März stehen) als auch die Methode von Bedeutung. So auch die Tatsache, dass die belgische Ratspräsidentschaft die zentrale Rolle der Methode des sozialen Dialogs und der Abstimmung mit den Sozialpartnern betont und umgesetzt hat.
Weitere Ergebnisse im Bereich der Innenpolitik der EU: die Europäische Bürger Initiative
Der Ministerrat hat mit der Kommission eine Regelung zur Anwendung des Artikels des Vertrags von Lissabon zur partizipativen Demokratie ausgehandelt (vom Parlament nach einer aufwendigen Umschreibung des ursprünglichen Entwurfs der Kommission am 15. Dezember angenommen). 2011 müssen Kommission und Mitgliedstaaten die für seine Umsetzung erforderlichen administrativen Strukturen schaffen. Olivier Chastel hat mit einiger Rhetorik betont, dass es sich hierbei „um eine Weltpremiere handelt“. Nirgendwo sonst auf der Welt können eine Million Bürger aus sieben Ländern (25% der Anzahl der Mitgliedstaaten) eine supranationale Gesetzesvorlage veranlassen, wie es in der EU der Fall sein wird. Für jede erfolgreiche Europäische Bürger Initiative wird es eine öffentliche Anhörung im Europäischen Parlament geben, selbst wenn die Kommission die Gesetzesvorlage nicht unterstützt. Eine offene Frage bleibt weiterhin, ob auch Personen mit ständigem Aufenthaltstitel unterschreiben dürfen oder nur die Staatsbürger von EU-Mitgliedstaaten.
Konferenz von Cancún über den Klimawandel
Verglichen mit dem katastrophalen Eindruck, den die Konferenz von Kopenhagen im Dezember 2009 hinterließ, erschien die UN-Konferenz (UNFCCC) von Cancún (COP 16, 29. November –10. Dezember) für die Begrenzung der Klimaerwärmung als ein Erfolg, ein Schritt in Richtung eines bindenden Abkommens, welches, den Optimisten zufolge, nächstes Jahr in Durban erreicht werden könnte. Die Nichtregierungsorganisationen haben die Grenzen des nicht bindenden Abkommens kritisiert. Doch verglichen mit Kopenhagen ist es ein Erfolg des Multilateralismus und der Konsensmethode auf der Ebene der 192 Vertragsparteien. Dank Paul Magnette, Minister für Energiefragen der belgischen Regierung (und Joke Schauvliege, Umweltministerin der flämischen Regierung) hat die belgische Ratspräsidentschaft (in Zusammenarbeit mit Kommissarin Hedegaard) eine sehr wichtige Rolle bei der Koordinierung der 27 gespielt, trotz erheblicher Konflikte und interner Differenzen. Laut Außenminister Vanackere hat die Union geschlossen gesprochen und zu den Fortschritten auf der Ebene des globalen Konsenses beigetragen. Den Kommentaren zufolge war die mexikanische Präsidentschaft ausgezeichnet und die Schwellenländer haben eine Schlüsselrolle eingenommen.
Die Punkte des Abkommens von Cancún sind:
- Überwindung der Auseinandersetzungen über den Fortbestand des Kyoto-Protokolls und die Hinhaltetaktiken der USA und Japans;
- langfristiger Kooperationsrahmen und Einrichtung eines grünen Fonds (zwischen 2011 und 2020 jährlich 100 Milliarden Dollar, zugunsten der Entwicklungsländer);
- Abkommen zur Reduktion von Emissionen aus Entwaldung und Schädigung von Wäldern (REDD);
- Eine Arbeitsgruppe wird die juristische Form des Abkommens ausarbeiten, das in Durban vorgelegt wird.
Außenbeziehungen
Auf der Ebene der Vertragsumsetzung fand am 1. Dezember die offizielle Einführung des Catherine Ashton unterstellten Europäischen Auswärtigen Diensts (EAD) statt. Angesichts der Widerstände des Europäischen Parlaments zu Haushalt und Status der Angestellten war dieses Ergebnis nicht leicht zu erreichen. Die laufenden Streitereien erlauben lediglich einen Beginn in kleinerem Umfang als vorgesehen. So ist zunächst von 1600 Mitarbeitern für den Auswärtigen Diensts die Rede, der, einmal vollständig in Betrieb, einschließlich der Zentrale und der 140 Niederlassungen in den Hauptstädten der Welt, 6000 Personen beschäftigen wird.
Wie ich in meinem Artikel zu den Außenbeziehungen dargelegt habe, sind die Kompetenzen der jeweiligen turnusmäßigen Ratspräsidentschaft auf der Ebene der großen Gipfeltreffen sehr beschränkt. Diese wurden diesmal allerdings mit guten Ergebnissen mit den wichtigen strategischen Partnern abgeschlossen: der Gipfel mit den USA in Lissabon (gute Verständigung über Sicherheit und Wirtschaft, aber Fehlen neuer Ideen), mit Russland (grünes Licht für den Beitritt zur WTO und besseres Klima nach dem Treffen mit der NATO in Lissabon), China, Indien (Partnerschaft auf dem Wege zu einer Politisierung). Das einzige große internationale Treffen, das fast vollständig von der belgischen Ratspräsidentschaft und Diplomatie geleitet wurde, war der ASEM-Gipfel mit den ostasiatischen Ländern Anfang Oktober in Brüssel: ein Erfolg als Forum für bilaterale Treffen, nicht so sehr jedoch hinsichtlich der Institutionalisierung dieses fast informellen Dialogs und der internationalen politischen Anerkennung der EU „nach Lissabon“. Dieses Thema ist gründlich zu reflektieren, vor allem, wenn man den gleichzeitigen erfolglosen Versuch der EU bedenkt, im September vor der Versammlung der Vereinten Nationen zu sprechen, was von der Versammlung abgelehnt wurde.
Wichtiger ist der belgische Beitrag zum Thema Erweiterung, da die „Erweiterungsmüdigkeit“, die sich 2005 anlässlich der Referenden in Frankreich und den Niederlanden entlud, nicht wirklich überwunden ist. Zwar wurden in den Verhandlungen mit Kroatien und Island kleine Fortschritte erreicht, jedoch nicht genug, damit Ungarn die Verhandlungen mit Kroatien im nächsten Halbjahr abschließen könnte. Was den westlichen Balkan betrifft: Montenegro wurde als Kandidat anerkannt, als Vorreiter einer langen Liste von Ländern, die an die Tür klopfen (Serbien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Makedonien).
Und was wird aus dem großen Thema Türkei? Hier herrscht totale Stagnation. Diese negative Entwicklung hinsichtlich des Dossiers Türkei sollte nicht unterschätzt werden, doch sie scheint derzeit beiden Seiten recht zu sein. Der EU, da die großen Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich und Deutschland, von einer öffentlichen Meinung beeinflusst sind, die, manipuliert oder nicht, einem EU-Beitritt der Türkei mehrheitlich sehr reserviert gegenübersteht und eine besondere Partnerschaft bevorzugt. Doch auch die Türkei bzw. die türkische Bevölkerung ist derzeit zu großen Teilen vom Zögern und den von zahlreichen Europäern vorgebrachten islamfeindlichen Argumenten enttäuscht und gegen eine Fortsetzung einer Kandidatur, die in der Sackgasse steckt. Unabhängig von den Ansichten der nächsten turnusmäßigen Präsidentschaften muss die EU sehr genau die Auswirkungen dieser Distanzierung seitens der Türkei und ihrer internationalen Politik (im Alleingang) auf die brisanten geopolitischen Szenarien bezüglich Naher Osten (und des israelisch-palästinensischen Konflikts), Kaukasus und der Region von Iran-Irak bis Afghanistan/Pakistan ermessen.
Es wäre ungerecht, der belgischen Ratspräsidentschaft eine zweite Stagnation, die in Wirklichkeit einem Rückschritt gleichkommt, aufzubürden: die Mittelmeerpolitik. Die Presse spricht nicht ohne Grund von einem Begräbnis der Union für das Mittelmeer (2008 auf Initiative von Frankreich entstanden), blockiert durch fehlende Finanzierung für die konkreten Projekte, die auf den Weg gebracht wurden. Auch ist eine Stagnation der israelisch-palästinensischen Verhandlungen spürbar, ein Thema, zu dem die EU im Vergleich zu den Solana-Jahren oder dem Beginn der Mission im Libanon 2007 an Profil verloren hat. Nach dem neuen Vertrag fällt der wechselnden Ratspräsidentschaft dabei jedoch keine wichtige Rolle zu.
EU-Ratspräsidentschaft Belgien 2010
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