Es ist in Deutschland fast Mode geworden, verächtlich von Griechenland zu sprechen: über das süße Leben auf Pump, Schlendrian, überbordenden Bürokratismus und üppige Sozialleistungen. Dabei ist von Berlin oder Brüssel aus kaum zu ermessen, welche verzweifelten Anstrengungen das Land unternimmt, um das Spardiktat von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission durchzusetzen: einschneidende Kürzungen von öffentlichen Leistungen und Gehältern, Rentenkürzungen sowie Steuer- und Abgabenerhöhungen haben den Lebensstandard breiter Schichten drastisch gesenkt. Ob eine solche Rosskur in Deutschland akzeptiert würde, ist alles andere als ausgemacht.
Parallel versucht die griechische Regierung, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft mittels Eingriffen in die Tarifautonomie und massive Lohnsenkungen zu verbessern. Die Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Leuten, steigt sprunghaft, ebenso die Zahl der Insolvenzen. Dem Land droht eine Spirale nach unten: Rückgang der Wirtschaftstätigkeit, sinkende Einkommen, neue Steuerausfälle, neue Haushaltsdefizite und weitere Kürzungen bilden einen Teufelskreis. Immer mehr junge Leute packen die Koffer und suchen ihr Heil in der Emigration, weil sie im eigenen Land keine Perspektive mehr sehen.
So viel scheint heute bereits klar: viele der unter dem Druck der Krise begonnenen Maßnahmen sind notwendig und sinnvoll. Die Diskrepanz zwischen Staatseinnahmen und Ausgaben hat jedes akzeptable Maß überschritten, die öffentliche Verwaltung ist fragmentiert und ineffektiv, die Selbstprivilegierung gut organisierter Interessengruppen muss ebenso geknackt werden wie die zahlreichen Monopole und Kartelle. Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit müssen dringend gesteigert werden, um das horrende Außenhandelsdefizit abzubauen.
Allerdings führen der enorme Zeitdruck, unter dem das staatliche Defizit reduziert werden soll, sowie die fast ausschließliche Fixierung auf die Reaktion der Finanzmärkte zur Dominanz kurzfristiger Maßnahmen, die wenig bis gar nichts an den Ursachen der Misere ändern. Von der Mehrheit der Bevölkerung werden sie als ungerecht empfunden. Schlimmer noch: sie verschärfen die Fragmentierung der Gesellschaft in partikulare Interessengruppen. Der ohnehin fragile soziale Zusammenhalt droht sich vollends aufzulösen. Das von der EU und den internationalen Kreditgebern verordnete Sanierungsprogramm ist einseitig auf die Kürzung von Ausgaben ausgerichtet. Es fehlt fast jeder Impuls zur Stärkung der Wachstumskräfte, der eine mittel- und langfristige Perspektive eröffnen könnte. Eine bloße Schrumpfkur führt nicht aus der Depression heraus, sondern noch tiefer in sie hinein.
Ausgangspunkt unserer Konferenz ist die kritische Solidarität mit Griechenland. Was dort geschieht, lässt uns nicht unberührt, es geht uns an. Umso mehr freuen wir uns, dass so viele prominente Menschen zu diesem Dialog aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur Griechenlands nach Berlin in die Heinrich Böll Stiftung gekommen sind.
Wir wollen mehr über die soziale, politische und geistige Situation des Landes wissen. Und wir wollen Alternativen – vielleicht auch nur Korrekturen – zur aktuellen Krisenpolitik diskutieren, die gerechter und zielführender sind.
Deutschland hat eine besondere Verantwortung gegenüber Griechenland, die uns aus der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik erwächst. Die Grünen wie die meisten anderen Parteien des Deutschen Bundestags haben als Quintessenz aus Krieg, Völkermord und Terror die Verpflichtung gezogen, für geeintes Europa einzutreten, das nach innen solidarisch ist und nach außen stark genug, um die Globalisierung gestalten zu können. Doch so sehr in Deutschland das Ziel eines politisch geeinten Europas auch hochgehalten wird – die Sorgen vor einer deutschen Hegemonie in Europa nehmen wieder zu, je mehr deutlich wird, wie sehr Europa die wirtschaftliche Leistungskraft Deutschlands und eine kluge deutsche Staatskunst braucht. Nicht nur in Griechenland sind antideutsche Gefühle leicht zu mobilisieren. Das Bild von Deutschland als Zuchtmeister Europas ist jederzeit abrufbar. Auftrumpfende Sprüche wie der des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, in Europa werde jetzt Deutsch gesprochen, sind Gift für den europäischen Zusammenhalt.
Die Kehrseite zum deutschen Auftrumpfen besteht im Ausweichen vor der europäischen Verantwortung der Bundesrepublik. Ob wir wollen oder nicht: Deutschland spielt aufgrund seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts eine Schlüsselrolle für die Überwindung der aktuellen Krise. Wir können uns weder Alleingänge noch Attentismus leisten. Gefordert ist weitsichtiges, solidarisches und entschiedenes Handeln im Konzert mit unseren europäischen Partnern.
Die Konferenz fragt, wie sich Griechenland grundlegend modernisieren, also gewissermaßen neu erfinden kann. Zugleich geht es darum, was die europäische Gemeinschaft tun kann, um das Land bei seiner Wiedergeburt zu unterstützen. Nicht nur Griechenland muss sich ändern, auch die Europäische Union muss ihre Krisenpolitik ändern. Mehr noch: auch sie braucht eine institutionelle Erneuerung in Richtung einer Stabilitäts- und Solidarunion. Eine gemeinsame Währung kann auf Dauer nicht funktionieren ohne eine konzertierte Finanz- und Wirtschaftspolitik, die auch Elemente eines europäischen Finanzausgleichs enthält.
Damit Griechenland wieder auf die Füße kommen kann, braucht es dazu erstens mehr Zeit für die nötigen Reformen. Man kann nicht im Ernst ein ganzes Land und seine Institutionen innerhalb von zwei Jahren umkrempeln. Zweitens braucht es mehr Investitionen, um eine nachhaltige Wachstumsdynamik in Gang zu setzen. Ein Schlüsselbereich dafür ist der Energiesektor: Griechenland importiert Öl und Kohle in großem Stil. Eine Politik, die auf mehr Energieeffizienz, auf Solar- und Windenergie setzt, wird mehr Wertschöpfung und zukunftsfähige Jobs im eigenen Land hervorbringen.
Auch die bisherigen Mechanismen, mit denen eine verstärkte wirtschaftliche, soziale und politische Konvergenz in der EU gefördert werden sollen, müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Nicht nur im Fall Griechenlands haben sie ihre Ziele nicht erreicht. Weder wurde damit eine gute, gleichermaßen demokratische und effiziente Regierungsführung erreicht noch ein Anschluss der griechischen Wirtschaft an internationale Wettbewerbsfähigkeit. Das lag nicht – oder jedenfalls nicht in erster Linie - daran, dass die Unterstützungsleistungen für Griechenland zu gering ausgefallen wären. Vielmehr dienten die umfangreichen finanziellen Mittel, die aus europäischen Fonds nach Griechenland geflossen sind, zur Subventionierung von Strukturen, die weder politisch noch wirtschaftlich nachhaltig waren. Mit Hilfe europäischer Transferzahlungen und billiger Kredite wurden die sich aus der ungleichen Vermögensverteilung ergebenden sozialen Disparitäten abgemildert. Das entlastete die nationalen Regierungen davon, die Oberschichten, die sich der Besteuerung weitgehend entzogen und bis heute entziehen, zur Verantwortung zu ziehen. Griechenland konnte sich den Verzicht auf ein effektives und sozial ausgewogenes Steuersystem durch die Vorteile des Euro und die europäischen Transferzahlungen leisten, bis die Verschuldung völlig aus dem Ruder gelaufen war.
Wenn wir von „mehr Europa wagen“ als Ausweg aus der aktuellen Krise sprechen, geht es also nicht nur um eine Ausweitung der finanziellen Garantien, um einen europäischen Schuldentilgungsfonds und Eurobonds. Es geht auch um eine gemeinsame Verpflichtung auf gutes Regieren, auf eine verantwortliche Finanzpolitik, ein tragfähiges und sozial gerechtes Steuersystem, eine zukunftsorientierte Investitionspolitik und eine ebenso effiziente wie transparente Verwaltung.
Das sind bedeutsame politische Weichenstellungen, die in den kommenden Monaten zur Stabilisierung Griechenlands und des ganzen Euroraums vorgenommen werden müssen. Aber letztlich werden sie nur Erfolg haben, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger unser Länder, wenn wir alle uns als Europäer fühlen und als Europäer handeln. Man bekommt ein Gefühl für das, was Europa war, ist und sein kann, wenn man auf der Akropolis steht und auf Athen sieht: dies war der Ort, an dem die europäische Philosophie und eine frühe Praxis der Demokratie ihren Ausgang nahmen, an die Idee des politischen Gemeinwesens als Assoziation von Freien geboren wurde.
Es spricht für das gute politische Gespür aller Beteiligten, dass der Zeitpunkt dieser Konferenz mit einer Initiative der deutschen Bundesregierung zusammenfällt, ein auf drei Jahre angelegtes Sonderprogramm Griechenland für die deutschen politischen Stiftungen aufzulegen. An diesem Programm wird sich auch die Heinrich-Böll-Stiftung beteiligen.
Wir werden im Laufe der nächsten Monate in Athen eine kleine Dependance eröffnen und dort ein Programm umsetzen, das von dieser Konferenz mit Sicherheit viele Anregungen aufgreifen kann.
Es gilt das gesprochene Wort.