Mr. Cowboy und Ms. Gangsterbraut

Foto: horizontal.integration/flickr.com. Dieses Bild ist lizensiert unter einer Creative-Commons-Lizenz.

18. Februar 2011
Von Marie-Christine Heinze

Bei dem Amoklauf einer Frau im baden-württembergischen Lörrach verloren im September 2010 vier Menschen  (darunter die Täterin selbst) ihr Leben. Nur wenige Tage darauf erschoss eine Großmutter im US-amerikanischen Seattle ihren Schwiegersohn sowie zwei Enkeltöchter und verletzte ihre Tochter schwer, bevor sie die Waffe gegen sich selbst richtete.

Diese beiden Ereignisse stellen das gängige Bild des männlichen bewaffneten Attentäters infrage und richten den Blick auf die Geschlechterdimension von Waffenbesitz, bewaffneter Gewalt und Kleinwaffenkontrolle auch jenseits kriegerischer Konflikte. Wer Gewalt eindämmen möchte – dies hat die UN-Resolution 1325 bereits vor zehn Jahren betont –, muss notwendigerweise eine Geschlechterperspektive in seine Arbeit mit einbeziehen. Dennoch ist der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit/Weiblichkeit und Kleinwaffenbesitz bislang nicht ausreichend untersucht worden. Vorstellungen von legitimer Gewalt, gesellschaftlicher Organisation und kollektiver Identität sind für die Fragen von Kleinwaffenbesitz und -kontrolle und deren Geschlechterdimension von zentraler Bedeutung. Dies zeigt sich im Blick auf die USA, welche die weltweite Rangliste zivilen Kleinwaffenbesitzes anführen.

Dimensionen von Gewalt

In der Kleinwaffenfrage verschwimmen die Grenzen zwischen physischer und symbolischer Gewalt. Eine Waffe ermöglicht die Ausübung unmittelbarer physischer Gewalt auf andere und verleiht auch symbolisch Macht, selbst wenn kein Gebrauch von ihr gemacht wird. Dies gilt im häuslichen Bereich ebenso wie im bewaffneten Konflikt. Der stetig wiederholte Satz der Waffenlobby, „Nicht Waffen töten Menschen, Menschen töten Menschen“, ist im Kern sicherlich unstrittig – der Besitz einer Schusswaffe verleiht dem Menschen jedoch zweifellos ein höheres Gewaltpotential. Sie gibt einem Menschen aber auch die Fähigkeit zur Selbstverteidigung und wird bei gefühlter und/oder tatsächlicher Unsicherheit als Schutz und Empowerment empfunden. Statistiken über bewaffnete Kriminalität sind in diesem Zusammenhang nur bedingt aussagekräftig und in den USA bereits seit Jahrzehnten Gegenstand diametral entgegengesetzter Auslegungen: Während Befürworter strengerer Kleinwaffenkontrollen auf die hohe Anzahl bewaffneter Straftaten in den USA im Vergleich zu anderen Industrienationen verweisen und hierfür vor allem die weite Verbreitung von Waffen im Lande verantwortlich machen, argumentieren Gegner solcher Kontrollen, dass die Anzahl an bewaffneten Verbrechen sicherlich noch viel höher wäre, würden die Bürger sich nicht selbst mit Waffengewalt verteidigen. Die Ursache bewaffneter Kriminalität sei vielmehr in sozialen Verwerfungen und kulturellen Mustern  (il) legitimer Gewaltanwendung zu suchen.

Waffen und Männlichkeit – Historische und gesellschaftliche Grundlagen der bewaffneten Norm

Für viele US-Amerikaner/innen repräsentiert Waffenbesitz zentrale – gleichzeitig mit Männlichkeit verbundene – amerikanische Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit, Individualismus und Gleichheit. Eine Waffe zu besitzen bedeutet demnach, ein guter Amerikaner zu sein. Die Verbindung von Waffenbesitz und Männlichkeit hat sich nach Cox  (2007) historisch entwickelt: In der Amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts zogen Männer in den Krieg, um die amerikanische Nation und  (männliche) Werte wie Freiheit und Unabhängigkeit gegen die „britischen Aggressoren“ zu verteidigen. Aus diesem Konflikt heraus begann sich eine kollektive amerikanische Identität zu entwickeln, die eng mit dem Bild des bewaffneten Mannes verbunden war. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lösten individualistisch beeinflusste Vorstellungen von Männlichkeit kommunal beeinflusste ab: Das Bild des einsamen Jägers und Cowboys dominiert bis heute die Erzählungen über den anglo-amerikanischen Krieg  (1812) sowie die amerikanische Frontier und die „Zivilisierung“ des „wilden Westens“ und prägt so das Selbstbild vieler männlicher Waffenbesitzer. Ein aufrechter amerikanischer Bürger nimmt Recht und Ordnung in die eigene Hand und verteidigt Haus und Besitz, notfalls aber auch die amerikanische Nation, gegen innere und äußere Feinde. Aus dieser historischen Entwicklung einer kollektiven amerikanischen Identität heraus sind Waffenbesitz, Männlichkeit und Bürgerlichkeit in den USA eng miteinander verbunden.

Die individualistischen Werte beeinflussen darüber hinaus die Haltung vieler Waffenbesitzender gegenüber dem Staat; sie empfinden dessen Agieren oft als Einschränkung ihrer bürgerlichen Freiheiten. Der zweite Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung aus dem Jahr 1791, das Second Amendment, bildet die rechtliche Grundlage für das von Staat zu Staat unterschiedlich ausgestaltete Waffenrecht. Dort heißt es: „Da eine wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“ Nach individualistischer Lesart garantiert das Second Amendment das Recht des Einzelnen auf Waffenbesitz. Eine Entwaffnung der Bevölkerung käme für manch überzeugten Waffenbesitzer daher dem ersten Schritt zur Etablierung einer Diktatur gleich. Hinzu kommt, dass viele Amerikaner den Fähigkeiten staatlicher Sicherheitskräfte misstrauen. Daher sagen sich viele: „I am my first line of defense.“ Auf der anderen Seite der Kleinwaffenkontrolldebatte dominieren kollektivistischere Interpretationen des Second Amendment. Sie legen ein größeres Gewicht auf die Frage kollektiver Sicherheit und betonen die Aufgabe des Staates, diese herzustellen. Ihnen zufolge ist die „wohl organisierte Miliz“, die noch im 18. Jahrhundert die Sicherheit der Amerikaner garantierte, wegen des Aufbaus funktionierender Polizei- und Militärstrukturen im heutigen Amerika obsolet. Das Recht auf Waffenbesitz wird somit hinfällig. Ein bewaffneter Bürger ist nach dieser Lesart in einem modernen Staat nicht nur nicht notwendig, sondern aufgrund seines Gewaltpotentials gefährlich.

Waffen und Weiblichkeit – Emanzipation und Empowerment?

Frauen besaßen seit Beginn der Besiedlung der „Neuen Welt“ Waffen und nutzten diese zur Selbstverteidigung, zur Jagd und zum Freizeitvergnügen. Waffenbesitz bedeutet für viele Frauen in den USA heute zum einen Empowerment gegenüber physischen Bedrohungen – Frauen schützen sich selbst und sind nicht auf den Schutz durch Männer angewiesen. Zum anderen bedeutet Waffenbesitz für sie Gleichstellung und Emanzipation. Ein bekannter Slogan der Waffenlobby in den USA lautet daher: „God made man and God made woman, but Samuel Colt made them equal.“ Browder  (2006) zeigt jedoch, dass Waffenbesitz für Frauen in den USA niemals mit einer tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau einherging. Bewaffnete Frauen stellten zwar als Schützinnen, Soldatinnen und Gangerstbräute das Ideal des bewaffneten männlichen Amerikaners infrage, stärk (t) en es jedoch gleichzeitig oftmals durch den Rekurs auf weibliche Klischeebilder: Der Erfolg der bekannten Wildwest-Show-Schützin Annie Oakley Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel beruhte auf ihrer Fähigkeit, das Bild weißer Zivilisiertheit durch ihre untadelige Weiblichkeit und Weißheit aufrecht zu erhalten. Erst seit den 1970er Jahren ist Frauen in der US-amerikanischen Armee der Dienst an der Waffe erlaubt und so bleibt die Waffe in der Hand der Frau weiterhin ein wichtiges und umstrittenes Symbol für den Zugang zu vollwertiger amerikanischer Bürgerlichkeit, insofern diese vom martialischen Bild des bewaffneten Amerikaners getragen wird.

Fazit

Dieses Beispiel der USA zeigt, dass ein erfolgreiches Bemühen um die Eindämmung von Gewalt weltweit niemals ohne eingehende Analysen des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlichen Normen, Geschlechterkonzepten und Waffenbesitz auskommen wird. Die Resolution 1325 besitzt in ihrer Forderung nach einer Geschlechterperspektive daher nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit.

Literatur

Browder, Laura  (2006) : Her best shot. Women and guns in America, Chapel Hill: Univ. of North Carolina Pr.

Cox, Amy Ann  (2007) : „Aiming for manhood. The transformation of guns into objects of American masculinity“, in: Springwood, Charles Fruehling  (Hg.) : Open fire. Understanding global gun cultures, Oxford: Berg, S. 141-152.

 

Böll.Thema 1/2011: Wie Frauen und Männer gemeinsam Frieden schaffen

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