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Kanada: Großer Erfolg - kleiner Einfluss

19. April 2011
Jörg Michel
Von Jörg Michel

Jetzt laufen sie also doch auf. Der Streik ist abgeblasen. Spielführerin Christine Sinclair und ihre 24 Mannschaftskolleginnen werden sich im Juni das Trikot mit dem roten Ahornblatt überstreifen und Fußballfans aus aller Welt beweisen, dass man auch im Land des ewigen Winters guten Fußball spielen kann. Für die Kanadierinnen ist das Eröffnungsspiel der WM gegen Deutschland der voräufige Höhepunkt eines noch nie dagewesenen Booms im Frauenfußball.

Dabei sah es noch vor wenigen Wochen nicht danach aus, als würden Sinclair & Co. den Rasen des Berliner Olympiastadtions je betreten. Wegen Querelen mit dem nationalen Verband hatten die Fußballerinnen mit einem Boykott aller Länderspiele gedroht und lange war unklar, ob das Team zur WM überhaupt antreten würde. Erst nach zähen Verhandlungen ließen die Kanadierinnen von ihrer Drohung ab. Ihre Geduld sei am Ende gewesen, berichtete Redordnationalspielerin Sinclair. "Wir wollen nur, dass es die jungen Spielerinnen einmal besser haben als wir."

Was war geschehen? Eigentlich sind die kanadischen Fußballerinnen so erfolgreich wie nie. Unter der Anleitung ihrer italienischen Trainering Carolina Morace hat das kanadische Team ein Spiel nach dem anderen gewonnen und sich als bestes Team ihrer Gruppe für die WM in Deutschland qualifiziert. In der Weltrangliste haben sie sich auf den sechsten Platz vorgearbeitet. Zum Vergleich: Die kanadischen Männer dümpeln auf dem 80. Platz vor sich hin.

Auch an der Basis wird der Frauenfußball immer populärer. Nach den letzten verfügbaren Zahlen des kanadischen Verbandes haben sich in den Vereinen zwischen Halifax und Vancouver mittlerweile fast 380.000 Frauen und Mädchen registriert - so viele wie noch nie. Es ist in Punkto Frauenfußball die dritthöchste Zahl weltweit. Noch im Jahr 1996 waren nur 31 Prozent der kanadischen "Soccer Player" auf dem Rasen Frauen. Jetzt sind es mehr als 43 Prozent.  

Doch der Erfolg der Nationalmannschaft und der Boom im Breitensport führt nicht automatisch zu mehr Einfluss. Im Exekutivkommitee des Verbandes, dem höchsten Entscheidungsgremium im kanadischen Fußball, findet sich bislang keine einzige Frau - dafür sieben Männer. Ins erweiterte Direktorium haben es gerade einmal zwei Frauen geschafft - bei zehn Männern. Eine jüngst beschlossene Verbandseform soll das Mißverhältnis zukünftig wenigstens etwas mildern.

Erfolgstrainerin Carolina Morace wollte offenbar nicht so lange warten. Nach Berichten kanadischer Medien hatte sie vom Verband angeblich mehr Entscheidungsgewalt über ihr Frauenteam verlangt. Der Streit war so heftig, dass Morace den Trainerjob gleich nach der WM hinschmeißen wollte. Aus Solidarität drohten Sinclair und mit ihr das ganze Team wenige Monate vor der WM mit dem Ausstand.
Auch die kanadischen Spielerinnen fühlen sich unter Wert behandelt. Sie sehen sich vom Verband gegenüber ihren männlichen Kollegen benachteiligt, bei der Entlohung, aber auch was die Anerkennung betrifft. Mittlerweile haben sie einen Anwalt eingeschaltet, um mehr Gleicheit zu erzwingen. "Wir wollen eine Vereinbarung mit dem Verband, die uns mehr Sicherheit und Unabhängigkeit bietet ", berichtete Christine Sinclair im März während des WM-Trainingslagers in Italien.

So bekommen die kanadischen Nationalspielerinnen nach eigenen Angaben nur bei einigen Spielen Prämien. Dazu kommen bescheidene 1500 Dollar von der Sporthilfe. Dagegen erhalten ihre männlichen Kollegen angeblich für jedes Länderspiel gesonderte Geld und haben langfristige Verträge, die sie finanziell absichern. Die genauen Konditionen der Verträge sind allerdings geheim. Der Verband hat sie bislang nicht öffentlich gemacht.
Die Zeiten der ad-hoc Behandlung müssten vorbei sein, verlangte Sinclair - auch im Namen ihrer 24 Mannschaftskolleginnen. Die Mittelfeldspielerin Carmelina Moscato meinte: "Viele von uns haben auf lukrative Angebote von ausländischen Vereinen verzichtet, um für die Nationalmannschaft spielen zu können." Nun wolle man gleich gut behandelt werden wie die Männer. Das sei auch eine Frage des Respekts.

Doch wie in vielen anderen westlichen Ländern gibt es auch in Kanada noch ein Mentalitätsproblem. "Der Fußball hier ist noch immer sehr männlich geprägt", berichtet Karin Lofstrom von der "Canadian Association for the Advancement of Women in Sport ans Physical Activity". Nicht nur die meisten Funktionäre sondern auch die meisten Trainer seien noch immer Männer. Lofstrom hofft, dass die WM im eigenen Land dazu beitragen wird, dass mehr Frauen in Leitungspositionen kommen. Im Jahr 2015 wird Kanada der nächste Gastgeber der Frauenfußballweltmeisterschaft sein.

Lofstroms Organisation, die von der kanadischen Regierung unterstützt wird, setzt sich seit 30 Jahren dafür ein, die Sichtbarkeit der Frauen im Sport zu verbessern. Die Organisation leistet Aufklärungsarbeit, veranstaltet Führungsworkshops für Frauen, vergibt Stipendien für Sportlerinnen und unterstützt talentierte Athletinnen, die aus benachteiligten Familen kommen. Zwar gilt Kanada in Sachen gesellschaftlicher Gleichbereichtigung und Teilhabe von Frauen international generell als Vorbild. Doch beim Sport sieht es oft noch nicht so gut aus.
"Während die meisten Sportler nach ihrer Leistung beurteilt werden, spielt bei den Frauen das Aussehen immer noch eine große Rolle", meint Lofstrom. An den Kiosken in Nordamerika ist das gut zu beobachten. Dort finden sich regelmäßig auflagenstarke Hochglanzmagazine, die Sportlerinnen vorzugsweise in knappen Bikinis zeigen. Die Etats der großen Sportmarketing-Agenturen des Landes richten sich ebenfalls vorwiegend an den Interessen der männlichen Konsumenten aus, ebenso die Medien.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Fußball in Kanada generell im Schatten der großen Profi-Sportarten wie Eishockey, Football oder Baseball steht. Die kanadischen Medien berichten zudem oft mehr über den europäischen Fußball als über die Sportler im eigenen Land. Den Trend können auch die Frauen nicht durchbrechen. Trotz ihrer Erfolge. So gibt es in den Colleges und Universitäten zwar immer mehr Frauenteams. Doch eine Profiliga hat sich in Kanada anders als bei den Männern noch nicht etabliert.  
Liz Herbert arbeitet daran, dass sich das ändert. Die 35-Jährige hat selbst vier Jahre als Mittelfeldspielerin im kanadischen Nationalteam gespielt. Heute ist sie Projektleiterin von "InMotion Network", einer Organisation aus Edmonton, die Frauen und Mädchen ermutigen will, sich für klassische von Männern dominierte Sportarten wie Fußball oder Eishockey zu begeistern. Regelmäßig besucht Herbert dazu Schulen und Vereine, nicht zuletzt um bei den Männern Vorurteile abzubauen.

Herbert ist optimistisch. Sie glaubt, dass sich der Boom im Breitensport langfristig auch auf den Profilevel durchschlagen wird. Zwar sei dies ein langsamer Prozess, sagt sie. Die Fortschritte in Schulen und Vereinen seien aber nicht mehr zu leugnen. In den neunziger Jahren etwa hätten einige Eltern noch gezögert, ihre Töchter überhaupt zum Fußball zu schicken. Dies sei in Kanada mittlerweile nur noch selten der Fall.
"Immer mehr Eltern begreifen, wie nützlich Mannschaftssportarten wie Fußball für den Erfolg und Aufstiegsmöglichkeiten ihrer Kinder sein können", sagt sie. "Gerade auch für Frauen." Herbert nennt Fähigkeiten wie Durchsetzungsvermögen und Teamgeist, die Frauen später auch in der Berufskarriere voranbringen können.
Dabei hat Herbert besonders auch Einwandererfamilien im Blick. Kanada nimmt jedes Jahr über 250.000 Immigranten auf und hat damit pro Kopf eine der höchsten Zuwanderungsraten der Welt. Für viele Neuankömmlinge ist der Sport - auch der Fußball - Hilfe bei der Integration. "In Motion" geht mit seinem Programmen auch gezielt in muslimische Communities, um Mädchen zum Sport zu ermutigen.

Dabei kann Herbert nicht zuletzt auf das Nationalteam der Frauen verweisen: Einige der kanadischen Spitzenspielerinnen stammen aus Einwandererfamilien oder kommen aus aus Metropolen wie Toronto, die für ihre Völkervielfalt bekannt sind. In den italienischen oder südamerikanischen Communities in Toronto etwa spielt der Fußball traditionell eine große Rolle. Einige der kanadischen Nationalspielerinnen wurden auch im Ausland geboren: In der Türkei, in Jamaika oder Trinidad zum Beispiel. Ihr sportlicher Erfolg ist Ansporn für eine neue Generation von Fußballerinnen.
"Erfolgreiche Spielerinnen wie Christine Sinclair sind für viele junge Mädchen unabhängig von ihrer Herkunft und Religion mittlerweile ein Vorbild", sagt Herbert. Vielleicht haben Sinclair und ihr Nationalteam am Ende auch deswegen ihren Streik abgeblasen. Auch wenn längst noch nicht alle Streitfragen geklärt sind. Und Kanadas Fußballfrauen von einer echten Gleichberechtigung noch ein Stück entfernt sind.

Jörg Michel lebt in Kanada und arbeitet dort als Auslandskorrespondent und freier Journalist für mehrere deutsche Tages- und Wochenzeitungen sowie Magazine. 

Zur Fußball-WM der Frauen sind wir mit am Ball und erkunden die Fußballkultur der teilnehmenden Länder: Was kosten Eintritt und Stadion-Wurst? Wie viele Fans gibt es in Rio, Abuja und London? Wer hat das Zeug zur Torschützenkönigin? Gleichzeitig schauen wir auch über den Stadionrand hinaus und fragen: Wo birgt der Fußball Potenzial für gesellschaftliche Veränderungen? Wie wird Fußball für Frauen ein Emanzipationskick? Wir gehen auf Tour in die WM-Austragungsorte und laden ein in die Böll-Arena.