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Afghanistan: Viel gewagt, aber noch lange nicht gewonnen

Afghanische Frauen bei der Wahl.
Foto: bbcworldservice (Quelle: Flickr.com). Dieses Foto steht unter einer Creative Commons Lizenz.

8. März 2010
Von Renate Wilke-Launer
Von Renate Wilke-Launer

Die Menschen Afghanistans wollen Frieden. Sie wollen Sicherheit, und sie wollen zumindest an den technischen Segnungen der Moderne teilhaben – aber teilen sie auch die Wunschvorstellungen der internationalen Gemeinschaft zur künftigen Regierungsform und zu gesellschaftlichen Umwälzungen? Der Wiederaufbau Afghanistans stellt die gesamte internationale Gemeinschaft vor eine enorme Herausforderung. Von vornherein war klar, dass die gegebenen Strukturen in vielen Bereichen nicht mit westlichen Idealen übereinstimmen. Dennoch setzte man sich das ehrgeizige Ziel, das Land von der Taliban-Herrschaft zu befreien, es gänzlich umzukrempeln und gleichzeitig zu stabilisieren. Auch für die Heinrich-Böll-Stiftung stellte sich die Frage, wie sich unsere eigenen Wertvorstellungen mit den lokalen Gegebenheiten vereinbaren lassen, was besonders in der Zusammenarbeit mit The Liaison Office (TLO, vormals Tribal Liaison Office) deutlich wird. Die Organisation kann insbesondere bei der Demokratisierung und im Bereich der Konfliktlösung auf beachtliche Erfolge verweisen – was indirekt auch eine Verbesserung der Situation der Frauen in ihrem Einflussbereich bedeutet. Derweil scheint es, als könnten wir dem Ziel der Geschlechterdemokratie und Gleichberechtigung mit Hilfe von TLO nur mühsam näher kommen.


Der Südosten gilt aufgrund seiner konservativen Prägung als schwer zugänglich, Militante nutzen die Grenzlage mit Pakistan und die Zentralregierung übt hier kaum Kontrolle aus – dieser Landesteil ist mithin ein Pulverfass, nicht nur für Afghanistan sondern auch Pakistan. Insofern war es geradezu ein Glücksfall, als im Jahr 2003 Älteste der Ahmadzai- und Mangal-Stämme aus der südostafghanischen Provinz Paktia nach Möglichkeiten suchten, am Friedens- und Wiederaufbauprozess teilzunehmen. Schon im Dezember 2003 entstand hieraus das TLO. Finanziert durch die Heinrich-Böll-Stiftung und Swisspeace gewann das Pilotprojekt rasch an Schwung. Neben der Zentrale in Kabul wurden im Februar 2004 Büros in Paktia, Paktika und Khost eingerichtet; 2008 hat ein zusätzliches Büro in Jalalabad seine Arbeit aufgenommen. Seither engagiert sich TLO erfolgreich als gefragter Vermittler zwischen der Regierung und internationalen Organisationen einerseits, traditionellen lokalen Strukturen andererseits. Für uns war das ein Sprung ins kalte Wasser, mit Akteuren zusammenzuarbeiten, deren Wertvorstellungen wenig mit unseren grundlegenden Interessen harmonieren. Gerade aus diesem Grund erschien es jedoch besonders wichtig, einen Zugang zu diesen gesellschaftlichen Gruppen zu finden. So stark, wie sie der afghanischen Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken, kann ein Wandel nur mit ihnen, nicht gegen sie erreicht werden. Dass dies eine Gratwanderung sein würde, war uns klar. Ein intensives Begleiten der Kooperation mit TLO wurde deshalb von vornherein vereinbart.

In einem Land, in dem unter Umständen mit dem Tode geahndet wird, wenn jemand Tabubrüche begeht oder männliches moralisches Empfinden verletzt, kann man auf dem Wege zur Emanzipation nicht riskieren, die Männer zurückzulassen. Insofern war eine Strategie des TLO, Männern Anreize für eine stärkere Beteiligung von Frauen zu schaffen – oder ihnen deutlich zu machen, wie sie von der Einbindung von Frauen profitieren können. Die Zusicherung eines Clans, auch Mädchen den Schulbesuch zu ermöglichen, wurde beispielsweise mit dem Bau von mehr Schulen für deren Gebiet honoriert. Auch im Zusammenhang mit den Wahlen setzte TLO ebenfalls auf eine pragmatisch orientierte Argumentation, in dem es deutlich machte, wie mit den Stimmen der Frauen der Wahlkreis insgesamt gestärkt werde. Nach einer entsprechenden Kampagne und mit Unterstützung der Ältesten haben sich im paschtunischen Südosten immerhin 40 Prozent der Frauen an diesen Wahlen beteiligt, hebt Swisspeace in seiner Bilanz hervor.

Schritt für Schritt versucht die Heinrich-Böll-Stiftung, verstärkt Gender-Komponenten in die Arbeit des TLO einzubringen. Hierbei ist jedoch Fingerspitzengefühl gefragt: Stammesälteste sind nur bis zu einem bestimmten Grad bereit, dies zuzulassen. Neuerungen sind nur willkommen, solange sie nicht die Macht der Dorfältesten in Frage stellen oder einschränken. Auch in den Dörfern ist eine Beteiligung von Frauen nur dort möglich, wo es direkt um sie geht. Allzu plakative Förderung von Frauen könnte hier genau das Gegenteil des eigentlich beabsichtigten bewirken: dass Frauenrechte nicht als universeller und auch für Afghanistan positiver Wert begriffen, sondern als westliches Konstrukt verächtlich gemacht werden.

Kreative Wege sind gefragt, um unsere Interessen hier einbringen zu können. Weibliche Mitarbeiter können im Südosten als Kernregion des TLO -Engagements wenig bewirken, es könnte dem Ansehen der Organisation sogar schaden, dies zu versuchen. Um hier den Boden zu bereiten, wird es weiterer Arbeit mit Männern bedürfen. Wenn sie dieses Thema mit mehr Offenheit angehen, wenn es uns mittels TLO gelingt, eine « mentale Demokratisierung» zu erreichen, wird die Arbeit im Genderbereich deutlich leichter werden. Eine weitere Idee ist, afghanische Fachfrauen im Hauptbüro von TLO in Kabul einzustellen, damit diese sozusagen hinter den Kulissen eine ausgewogenere Gender-Perspektive in die Projekte einbringen können.


Hier zeigt sich jedoch, wie eng die Grenzen der Emanzipation selbst in der Hauptstadt noch gezogen sind. Eine Organisation, die in einem weitgehend konservativen Umfeld agiert und fest in der Hand von Männern ist, hat große Schwierigkeiten, afghanische Frauen für ihr Team zu gewinnen. Ganz abgesehen davon, dass auch im vergleichsweise fortschrittlichen Kabul die meisten Frauen Wert auf die Zustimmung ihrer Familie zu ihrer Tätigkeit legen, die für eine konservativ konnotierte, männerdominierte Organisation weitaus schwerer zu erhalten ist. Diesen Problemen kommt man weder mit Anreizen noch mit Druck bei. Die Herausforderungen werden in Afghanistan nicht kleiner, die Gratwanderung geht weiter. Wir meinen immer noch: Es lohnt sich!

2001 wurde auf dem Bonner Petersberg vereinbart, wie die zukünftige afghanische Regierung aussehen sollte: für Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter sensibel, multiethnisch und in vollem Umfang repräsentativ – auf breiter Basis dem Land verpflichtet. Seither ist zwar formal einiges erreicht worden: In den beiden Häusern des Parlaments sitzen zusammen 91 Frauen, mehr als je zuvor in der Geschichte des Landes. Aber im Kabinett gibt es nur eine – für Frauen zuständige – Ministerin, und dass die Regierung «gender sensitive» sei, wie im Petersberger Abkommen formuliert, kann man ihr nicht gerade nachsagen. Die Verfassung, 2004 verabschiedet, legt zwar fest, dass Männer und Frauen gleiche Rechten und Pflichten haben; wer sich in Afghanistan aber für die Rechte von Frauen einsetzt, lebt gefährlich. Ob Frauen Rechte in Anspruch nehmen können, was sie zu tun und zu lassen haben, das erregt die Gemüter wie in kaum einem anderen Land. Inwieweit Frauen wirklich Rechte eingeräumt werden, muss sich erst noch bei den dazu notwendigen Reformen im Straf- und Zivilrecht zeigen, sowie bei der Regelung von Scheidung, Sorge-, Versorgungs- und Erbrecht und schließlich durch Schutzmechanismen vor Zwangsverheiratung, Frauentausch und Gewalt in der Familie.

Eine der Organisationen, die dafür wichtige Vorarbeiten leisten, ist die Women and Children Legal Research Foundation (WCLRF), eine Gruppe von Richterinnen, Anwältinnen und Aktivistinnen (mit auch einigen männlichen Mitarbeitern). Zu den ersten Aktivitäten der 2003 gegründeten Stiftung gehörte eine Dokumentation (und später ein Film) über « Bad » – die Übergabe eines Mädchens der Familie des Täters an die des Opfers. Diese Art des Ausgleichs gehe nicht nur auf Kosten der jungen Frauen, sondern belastet auch beide Familien und letztlich auch die Gesellschaft.

Hangama Anwari, die Gründerin von WCLRF, setzt darauf, dass erst einmal offen über die sozialen Auswirkungen solcher Praktiken gesprochen wird und dann bei manchen Afghanen auch die Einsicht wächst, dass es bessere Verfahren gibt, um ein Verbrechen zu sühnen. Sie erzählt gern, dass nach der Vorstellung der Studie ein Mann aus der Provinz Khost aufgestanden sei und sich dazu bekannt habe, an solchen Entscheidungen eines Dorfrates (Schura) mitgewirkt zu haben. Jetzt aber seien ihm die Augen geöffnet worden, wie schmerzhaft und schädlich diese Praxis sei. Und tatsächlich hätten einige Dörfer nach seiner Rückkehr begonnen, in solchen Fällen lieber Geldstrafen zu verhängen. Ein wichtiges Ziel von WCLRF ist, dass die bestehendem Zivil- und Familiengerichte Konfliktfälle nicht mehr zurückdelegieren an die Familien und Stämme. Häufig verbergen sich hinter der Aktennotiz « einvernehmliche Lösung » Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen.

WCLRF wird bei Parlamentariern und Regierungsbeamten vorstellig, etwa wenn es um ein Gesetz zur Registrierung von Eheschließungen geht. Die Stiftung nutzt auch sehr kreativ die verschiedenen Medienformate, um aufzuklären und für Veränderungen zu werben: Radiodramen, Folksongs, Filmbeiträge. Das zweimonatlich erscheinende Rechts- und Informationsmagazin Waqeyat («Wirklichkeiten») kommt gut an, weil es eine ansprechende Mischung aus feministischen und «Hausfrauenthemen» bietet. Wer auf Aufklärung und Einsicht setzt, hat es in Afghanistan aber weiterhin schwer: Die Regierung ist schwach, und im Machtpoker zählen nicht die Rechte von Frauen. Im Gegenteil: Die Verfügung über sie gehört zur Verhandlungsmasse, und sie werden dazu weder gefragt noch gehört.