Wie geht Bürgerregierung? Beobachtungen im grün-roten Baden-Württemberg
Am 4. September fand zum Thema Baden-Württemberg eine zweite Veranstaltung der Freundinnen und Freunde in Kooperation mit der Grünen Akademie statt. Moderiert wurde die Veranstaltung von Anne Ulrich, Koordinatorin der Grünen Akademie in der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Journalistin Elisabeth Kiderlen und Helga Metzner, Vorstandsmitglied Landesfreiwilligenagentur Berlin, begleiten Gisela Erler, grüne Staatsministerin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, bei ihrer Arbeit. Sie führen mit ihr Interviews zu dem Versuch der Regierung von Baden-Württemberg, Bürgerbeteiligung in allen Bereichen der Gesellschaft einzuführen und nachhaltig zu verankern. Diese Beobachtungen werden von der Heinrich-Böll-Stiftung 2013 publiziert. In der Veranstaltung wurde der Zwischenstand beschrieben.Für die Regierung in Baden-Württemberg ist Bürgerbeteiligung von zentraler Bedeutung. Helga Metzner betonte, dass hier derzeit ein Experiment stattfinde, auf das die Grünen bundesweit gewartet haben. Im Vergleich zu anderen Bundesländern wird Bürgerbeteiligung hier nicht hauptsächlich aus der Erkenntnis gefördert, dass dadurch die Durchsetzung bestimmter politischer Vorhaben wie der Energiewende oder der Schulreform erleichtert wird. Durch die Installierung einer eigenen Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und zivilgesellschaftlichem Engagement in der Staatskanzlei selbst versucht die grün-rote Regierung darüber hinaus, bei den Bürgern ein emphatisches Bewusstsein für Demokratie zu wecken. Ministerpräsident Kretschmann versuche mit einer Politik des Gehörtwerdens, der Stärkung und des Empowerments der Bürger vor Ort in Zeiten der Verlagerung von Entscheidungsgewalt weg von den Nationalregierungen hin zu Brüssel, wachsender Politikverdrossenheit entgegenzuwirken und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Politik wieder herzustellen.
Bürgerbeteiligung soll in Baden-Württemberg kein verzierendes Beiwerk sein. Und in der Tat lasse sich ein wachsendes Interesse der Bürger und Bürgerinnen an Beteiligungsprozessen beobachten, wobei das Versprechen dieses Paradigmenwechsels in der Beteiligungskultur das positive Wahlergebnis für die Grünen mitunter erst ermöglicht habe, so Helga Metzner. In Baden-Württemberg hat bürgerschaftliches Engagement eine gute Tradition, wodurch das Bundesland prädestiniert ist für ein solches Experiment. Der Anspruch der Regierung Kretschmann sei allerdings, gerade diejenigen einzubeziehen, die bislang nicht in Beteiligungsprozessen integriert waren: Gisela Erler versuche gerade diese Bürgerinnen und Bürger tatsächlich zu hören. Hierzu hat sie Formate der Gesprächskultur etabliert, wie z.B. das Kamingespräch, die diesem Anspruch gerecht werden wollen.
Elisabeth Kiderlen und Helga Metzner konzentrierten sich bei ihrer Darstellung der Auswirkungen einer solchen Beteiligungspolitik vor allem auf die Entwicklungen in der Schulpolitik, der allgemeinen Beteiligungsbeförderung sowie der Energiewende. Dabei wiesen sie auf die Bedeutung der Ergebnisoffenheit bei Beteiligungsprozessen gerade bei Fragen im Bereich der Umsetzung von Energiewende und Naturschutz hin. Auch die Größe eines Projekts und damit seine Auswirkungen und Überschaubarkeit, spielten eine entscheidende Rolle. Erfolge von Beteiligungsprozessen bei kleineren Projekten z.B. in Gaildorf und Atdorf, wurden denjenigen von Großprojekten wie in Fildern (Nationalpark Nordschwarzwald) gegenübergestellt. Hierbei sei die Herausforderung, neben den Bürgerinnen und Bürgern eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren zu integrieren. Das messe dem standardisierten Einsatz z.B. von Mediationsverfahren eine große Bedeutung bei, um sich bestehenden Konflikten zumindest anzunähern. Im Herbst sollte ein neuer Leitfaden für Planungs- und Beteiligungsprozesse im Parlament abgestimmt werden, der den Anspruch hat, auch auf Bundesebene zu funktionieren.
Bleibende Herausforderung ist die Beteiligung der „stimmlosen“ Gruppen der Frauen, Jugendlichen und Migrantinnen. Methoden, die dies gewährleisten sollen, sind z.B. die an bislang „stimmlose“ Bevölkerungsgruppen adressierten Kamingespräche mit der „Staatsrätin vor Ort“ oder auch das Prinzip der zufällig aus verschiedenen Interessengruppen ausgewählten Bürger und Bürgerinnen, die zu Anhörungen eingeladen werden. Damit soll der negativen Entwicklungsmöglichkeit der Partizipationsdemokratie, auf die der Politikwissenschaftler Franz Walter jüngst hinwies, entgegengewirkt werden, „eine brutale Gruppengesellschaft“ derjenigen zu werden, die über höhere Ressourcen für die Durchsetzung ihrer Interessen verfügen.
In der sich anschließenden Diskussion wurden die Probleme der zeitlichen Dimension und der Finanzierbarkeit aufgeworfen: Bürgerbeteiligungsprozesse brauchen Zeit und können sehr aufwändig sein, z.B. durch schriftliche Benachrichtigungen, und sind so zumeist hochgradig kostenintensiv. Vor allem Letzteres sei von vielen Kommunen ein kaum zu bewältigendes Problem. Insgesamt wurde das grüne Experiment in Baden-Württemberg als wichtiger Beitrag im Rahmen der Revitalisierung bzw. Weiterentwicklung von demokratischer Kultur bewertet und gewürdigt.
Journalistische Arbeit in Syrien. Ein Gespräch mit Rula Asad und Amer Mattar am 5. Juni in Berlin.
Eine Veranstaltung der Freundinnen und Freunde in Kooperation mit dem Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich.
Angesichts der Entwicklungen in Syrien hochaktuell und brisant widmete sich der Abend der Berichterstattung aus Syrien und der grundlegenden Frage nach Quelle, Wahrheitsgehalt und Überprüfbarkeit der Informationen, die ausländische Medien aus Syrien erhalten. Mit Rula Asad, Amer Mattar und dem deutschen Fotojournalisten Marcel Mettelsiefen saßen drei tatsächliche Augenzeugen des syrischen Aufstands auf dem Podium. Es moderierte die langjährige Leiterin des Büros Mittlerer Osten der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, Layla Al-Zubaidi.
Bereits vor den Protesten gab es in Syrien keine bzw. nur sehr eingeschränkte Pressefreiheit und bekanntermaßen hat sich die Situation für Berichterstatter/innen nicht verbessert. Ausländische Journalisten kommen nur sehr schwer ins Land und noch schwerer an ihre Informationen – Marcel Mettelsiefen wies darauf hin, dass viele ihm zugänglichen Informationen, Bilder, Gesprächspartner, Orte von anderen ausgesucht worden seien. Im Grunde sei freier ausländischer Journalismus häufig „embedded by the opposition“ und damit ebenfalls gelenkt. Die Berichterstattung aus Syrien ist schon für Ausländer/innen ein gefährlicher Job - lokale Berichterstatter/innen müssen zudem noch mit Inhaftierung und Folter rechnen. So werden die meisten Informationen über neue Medien wie Facebook, YouTube und Blogs bereit gestellt, die sich gefahrloser und schneller nutzen lassen. Doch diese Nachrichten aus der Anonymität werden zunehmend im Ausland hinterfragt, wenn auch nicht generell angezweifelt. Mettelsiefen selbst konnte auch von Situationen berichten, in denen er selbst nicht ganz sicher war, was ihm in Wahrheit vor die Augen kam. Seiner Beobachtung einer religiösen Umdeutung des Konflikts auch auf Seiten der Opposition wurde allerdings durch die beiden Syrer vehement widersprochen.Amer Mattar und Rula Asad versuchten in der lebhaften Diskussion, Mettelsiefens kritischen Blick zu kontern: Die Berichterstattung des staatlichen Fernsehsenders Dunya-TV kehre die grauenhaften Ereignisse durch Umdeutungen oftmals in Lächerliche und Absurde, wenn z.B. über Protestierende als über eine Menge von Menschen berichtet wird, die Gott für den Regen danken. Beide hoben die volksverdummende Berichterstattung von Dunya-TV hervor. Der Kritik an den „Volksberichterstatter/innen“ via Facebook hielten sie die zunehmende Professionalisierung der zivilen Journalist/innen entgegen. Ausländische Medien übernähmen ihrer Ansicht nach noch zu häufig das vom Assad-Regime gezeichnete Negativ-Bild der Revolutionäre. Amer Matter war der Meinung, dass der Einfluss der Freien Syrischen Armee in den ausländischen Medien überbewertet würde – in der Berichterstattung fehle häufig der friedliche und auch kreative Protest, der seiner Ansicht nach den Charakter der Oppositionsbewegung ausmache.
Insgesamt wurde im Rahmen dieser sehr konfrontativ geführten Diskussion aber die große Hochachtung des Publikums und des gesamten Podiums für die über lange Zeit überwiegend friedliche Demokratiebewegung der Syrischen Opposition deutlich. Einigkeit bestand im Bedauern darüber, dass das Assad-Regime dem zunächst friedlichen und sehr künstlerisch-subversiven Protest seine Methoden der Auseinandersetzung aufzwingen konnte – wenn auch die Bedeutung der bewaffneten Teile der Opposition umstritten blieb.
Rula Asad hat sich in Syrien in einem privaten Hilfsprojekt für Dürreflüchtlinge engagiert. Eine ihrer Fotoreportagen über die Situation der Flüchtlinge, die im Magazin Syria Today publiziert werden sollte, wurde verboten. Auf Grund dessen und weiterer Repressalien reiste Rula Asad im September 2011 nach Deutschland aus. Zum Zeitpunkt der Veranstaltung war sie Stipendiatin des Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich. Für sie ist die Revolution in Syrien keine Überraschung, sondern beruht auf der jahrelangen Unterdrückung großer Bevölkerungskreise durch das Assad-Regime.
Amer Mattar, einst Kunstredakteur der überregionalen Tageszeitung Al Hayat, arbeitete gemeinsam mit Rula Asad an der Kampagne für syrische Dürreflüchtlinge. Dabei begnügte er sich nicht mit Facebook-Aktivismus, sondern fuhr persönlich in die Lager, finanzierte Hilfe und legte sich wegen Kindesmisshandlungen mit Schuldirektoren an. Mattar wurde auf Grund seiner Aktivitäten im März 2011 15 Tage nach Beginn der Revolution vom Assad-Regime zweimal inhaftiert. Er wurde gefoltert und aus der Haft ohne Papiere entlassen, bevor er über Jordanien floh. Auch er ist Stipendiat im Haus Langenbroich.
Der Fotojournalist Marcel Mettelsiefen war bereits mehrfach undercover und mit Touristenvisum in Syrien unterwegs und hat über die Situation im Land in ZEIT und u.a. Spiegel berichtete. Er filmte heimlich in Homs, zum Teil embedded durch die Revolutionäre, aber auch bei Assad-Anhängern und erlebte so das Land und die Auseinandersetzungen auf sehr unterschiedliche Weise.
Journalistische Arbeit in Syrien. Ein Gespräch mit Rula Asad und Amer Mattar
Schneller als gedacht, konnten die Regionalgruppe Köln - in Kooperation mit dem Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich - mit einer ersten Veranstaltung am 20. Juni 2012 an die Öffentlichkeit gehen. Die Veranstaltung hatte unter demselben Titel, aber in anderer Besetzung zuvor in Berlin stattgefunden. Obwohl das Thema „Journalistische Arbeit in Syrien“ lautete, wurde die Gesamtsituation Syriens beleuchtet. In dem vollbesetzten „anderen Buchladen“ in Sülz diskutierten Rula Asad, Journalistin aus Damaskus/Syrien, Stipendiatin des Heinrich-Böll-Hauses in Langenbroich und Larissa Bender, Syrienkennerin, Islamwissenschaftlerin, Ethnologien und Arabischübersetzerin, die dankenswerterweise kurzfristig für Amer Mattar einsprang, der verhindert war.Einfühlsam führte Dr. Karin Clark (Schriftstellerin, Übersetzerin, langjährige Writers-in-Prison-Beauftrage des Deutschen und Internationalen PEN) durch die Diskussion. Kamiran Hudsch von der Uni Bochum übersetzte von deutsch ins arabische und wieder zurück.
Als Einstieg schilderte Rula Asad ihre und Amer Mattars persönlichen Erfahrungen mit dem Regime Assad. Als Folge der jahrelangen Dürre im Norden und Nordosten ihres Landes flüchteten über 1 Millionen Menschen in den Westen Syriens, in den Umkreis von Damaskus und Hama. Gegen die Missstände in den Lagern und das Vergessen der Flüchtlinge engagierten sich sowohl Rula Asad als Amer Mattar in einer Kampagne. Rula Asads Reportage wurde verboten und sie geriet verstärkt unter Druck, Amer Mattar wurde verhaftet und inhaftiert. Ihnen blieb letztlich nur die Ausreise nach Deutschland. Larissa Bender ergänzte die persönlichen Schicksale mit einen Blick von außen: Bislang spielten religiöse Konflikte in diesem Aufstand keine Rolle. Doch das Regime versuche zunehmend, unter der alawitischen Minderheit in Syrien Angst vor den Sunniten und den Muslimbrüdern zu schüren. Natürlich sei nicht auszuschließen, dass kriminelle und fanatische Elemente versuchten, den Aufstand für sich zu nutzen – doch wolle die Mehrheit des Volkes keinen Religionskrieg, sondern weiterhin friedlich miteinander in Freiheit leben. Dem westlichen Ansatz, dass nur eine homogene Opposition ein Garant für die Erreichung der Ziele des Aufstandes sein kann, wurde heftig widersprochen: die Menschen in Syrien hätten lange genug unter der Diktatur einer Familie, einer politischen Partei gelebt, nun wollten sie Meinungsvielfalt und somit das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit erkämpfen.
Prof. Sadek Jalal Al-Azm, der im Publikum saß, griff diesen Gedanken ebenfalls auf. Darüber hinaus forderte er den Westen auf, die Auseinandersetzung in Syrien nicht als Bürgerkrieg zu bezeichnen, denn hier kämpfe ein Volk gegen ein diktatorisches System, das mit aller Macht und brutaler Gewalt seinen Sturz verhindern will, hier kämpfe ein Volk für Menschenrechte, Freiheit und Meinungsvielfalt, somit handele es sich um einen Freiheitskampf, der weiterhin Unterstützung aus dem Westen bedarf. Wenn auch viele Fragen auch aus Zeitmangel offen bleiben mussten, war dies ein äußerst erkenntnisreicher und anrührender Abend.
Ein Bericht von Ingrid Töteberg
Pınar Selek: „Halbierte Hoffnungen“ (Lesung und Gespräch)
Die Beletage der Stiftung ist am Abend des 8. Dezember von ungewöhnlich melancholisch anmutende Klängen erfüllt: Die Musik rührt von der Duduk, einer Rohrflöte, deren Musik sich auch durch den ersten Roman von Pınar Selek zieht. „Halbierte Hoffnungen“, so der Titel, entstand in Teilen während des Aufenthalts der türkischen Menschenrechtsaktivistin, Autorin und Soziologin im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich.
Leitmotiv des von Musik durchzogenen Romans ist Liebe, Freundschaft und Solidarität. Selek beschreibt anhand der Schicksale ihrer Hauptfiguren Hasan und Elif, Sema und Salih, die sie über einen Zeitraum von zwanzig Jahren, von 1980 (der Zeit des Militärputsches) bis 2000, porträtiert, eine sich im Umbruch befindende türkische Gesellschaft. Alltagsnahe Charaktere brechen aus den tradierten Gesellschaftsnormen aus und beschreiten neue unkonventionelle Wege. Der Roman behandelt ihre Orientierungssuche: Während sich einer der Protagonisten für ein Intellektuellen- und Künstlerdasein entscheidet, beschließt der Andere, in den bewaffneten Kampf zu ziehen.
Den hat die Soziologin Selek auch zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht: Die Autorin, die sich in ihren Studien und Büchern immer wieder Tabuthemen der türkischen Gesellschaft und Politik widmet, führte für ein soziologisches Forschungsprojekt zum Krieg des türkischen Staates gegen die Kurden Interviews mit Angehörigen und Aktivisten/innen der PKK. Das Manuskript steht, doch bevor sie ihre Studie zu Ende bringen kann, wird es beschlagnahmt. Selek wird 1998 verhaftet und sitzt für 2 ½ Jahre im Gefängnis. Um die Nennung der Namen ihrer Kontaktpersonen zu erzwingen, wird Selek während der Untersuchungshaft immer wieder gefoltert. Sie schwieg. Ungebrochen schweigt sie bis heute. Die Schikane von staatlicher Seite hat jedoch Bestand: Nach drei ergangenen Freisprüchen wegen einer vermeintlichen Beteiligung an einem Bombenattentat ging die Staatsanwaltschaft erneut in Revision. Sie fordert eine lebenslange Haft unter verschärften Bedingungen. Im Laufe des Jahres 2012 steht eine erneute Verhandlung an.
Ihr Optimismus scheint jedoch ungebrochen: Auf dem Podium erleben wir eine junge und fröhliche Frau, die sich unermüdlich für Gerechtigkeit einsetzt. Und Pınar Selek blickt hoffnungsvoll auf die türkische Opposition: Auch wenn zehntausende Oppositionelle als politische Häftlinge im Gefängnis sitzen, so Selek, gibt es zehn- vielleicht hunderttausende, die unermüdlich Widerstand leisten.
Das Schreiben eines Romans bedeutet für Selek keine Abkehr von gesellschaftspolitischem Engagement. In „Halbierte Hoffnungen“ nähert sie sich politischen Fragestellungen nur von einer anderen Seite. Während sie als Soziologin und mittlerweile Doktorandin für Politologie an der Universität in Strasbourg sonst aus akademischer Perspektive schreibt, analysiert sie hier mit künstlerischem Blick die türkische Gesellschaft nicht weniger stilsicher. Mit dem Perspektivwechsel, erwähnt Pınar Selek, will sie einen anderen Einblick in Themen gewinnen und neue Antworten auf Fragen finden, die sie sich während der wissenschaftlichen Arbeit gestellt hat.
Ein Abend voll der Hoffnungen, die nicht, wie der deutsche Titel fälschlicherweise suggeriert, nur noch halb bestehen, sondern deren Bestandteile sich immer wieder neu zusammen setzen, um sich neu und immer wieder anders zu erfinden.
Ein Bericht von Belgin Alakus.
Pionier auf Minensuche: Lesung und Gespräch mit dem chinesischen Dichter Yu Jian am 24. Oktober 2011
Auf Initiative der Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung kam der chinesische Dichter Yu Jian zu einer Lesung nach Berlin. Moderiert von Peter Schneckmann, einem langjährigen Mitglied der Freundinnen und Freunde, trug Yu Jian Kurzgedichte aus seinem aktuell im Horlemann Verlag (Berlin) auf Deutsch erschienen Buch „Akte 0“ vor und stellte sich anschließend einem anregenden Gespräch über Lyrik, Literatur und Politik im allgemeinen und der chinesischen Lyrik im Zusammenhang der Kulturrevolution im Besonderen.
Es war ein kurzweiliger und amüsanter Abend, an dem das Publikum nicht wie bei Lyriklesungen üblich in die labyrinthischen Sehnsuchtsräume eines Dichters geführt wurde. Im Gegenteil. Yu Jian schaffte es, mit seinem Witz die Zuhörer in unangefochten unterhaltsamer Weise mitzunehmen auf eine Lyrikreise in den Humor und detailreiche Beobachtungen des chinesischen Alltags. Dass er auch einen humorvollen Blick auf sich selbst hat, zeigt das Eingangsgedicht. Kompakt und sparsam ist die Sprache des „Pioniers auf Minensuche“, der die Zuhörer auf weniger wohlgeordnete Lebensverhältnisse in China stoßen lässt, auch wenn seine Lyrikpräsentation selbst keine vordergründig politische Lesung war.
Die Lesung fand auf Chinesisch statt, in deutscher Übersetzung wurden sie kongenial von der Berliner Schauspielerin Mai Horlemann vorgetragen. Die Gedichte im Original zu hören war bereichernd, da Klang und Melodie der Worte und Zeilen auch ohne inhaltliches Verständnis faszinierten.
Yu Jians unprätentiöse Sprache ist auch, wie er im anschließenden Gespräch dem Publikum mitteilte, als eine subversive Handlung gegen die lange Jahre von oben verordnete Rhetorik zu verstehen. Yu möchte zurück finden zum Reichtum der chinesischen Sprache, die durch die Kulturrevolution verarmt ist: Durch Parolen und Schlagworte einerseits und die Angst vor dem „falschen“ Wort andererseits hat sich die chinesische Alltagsprache von ihren ironischen und humorvollen Elementen gelöst. Yu Jian mit seiner betont klaren und bemerkenswert deutlichen Sprache hält hier dagegen. So zeichnen seine Gedichte, angefüllt mit Ironie und feiner Wahrnehmungsgabe in raffinierten und doch einfachen sprachlichen Arrangements die facettenreichen Farben des Daseins ab. Stimmungslagen, Naturbilder, Gedanken oder Beobachtungen von Alltagsphänomenen verwandelt Yu in Aphorismen, die irgendwo zwischen Witz, politischer Reflexion und Philosophie liegen. Dabei lässt sich leicht Zugang finden zu seiner Kunst, und Yu vermag seinen Lesern und Zuhörern zeigen, dass die nüchterne Wahrnehmung des Alltäglichen eine viel komplexere Handlung ist, als es zunächst scheint.
Zehn Jahre 9/11 - Politische Matinee der Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung
10. September 2011, Köln, Alte FeuerwacheEine Kooperation mit der hbs NRW
Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, im Gespräch mit Kerstin Müller, MdB und Prof. Dr. Katajun Amirpur
Vor dem Hintergrund des zehnjährigen Jahrestages des 11. September diskutierten Ralf Fücks (Vorstand hbs, Berlin), Kerstin Müller (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) und Prof. Dr. Katajun Amirpur (Islamwissenschaftlerin, Uni Köln) über Veränderungen der gesellschafts- und weltpolitischen Rahmenbedingungen durch die Anschläge. In der Folge des 11. September kam es nicht nur zu tiefgreifenden Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik; - die Einzigartigkeit des Attentats, das sich im kollektiven Bewusstsein festsetzte, beeinflusste ferner die aktuellen innerpolitischen Diskurse zum Islam in der westlichen Gesellschaft, die mit einer Zunahme des antiislamischen Ressentiments einhergingen, das bis heute anhält.
Fücks leitete die Matinee mit der Frage ein, ob zehn Jahre später von einem epochalen Umbruch gesprochen werden kann oder ob der Anschlag nach den Worten von Fischer die „westliche Politik veränderte, aber nicht die Welt.“ Amirpur führte aus, dass der Kampf gegen den Terror den Potentaten in jenen diktatorisch geführten Staaten der islamischen Welt wirkungsmächtige Argumente lieferte, um gegen demokratische Kräfte in ihren Ländern vorzugehen. Eine Folge war, dass Oppositionskräfte mit dem Verweis auf den radikalen Islam unterdrückt wurden und über keinen Rückhalt in der westlichen Politik verfügten. Im Hinblick auf den arabischen Frühling merkte Amirpur an, dass 9/11 den Prozess der Zivilgesellschaft, sich gegen ihre Regime zu stellen, verzögerte.
Müller erwähnte, dass die Anschläge vom 11. September 2001, bei denen Passagierflugzeuge zu Waffen umfunktioniert wurden, eine Form der Kriegserklärung darstellten. Die damalige Rot-Grüne Koalition erklärte aus dieser Situation heraus ihre uneingeschränkte Solidarität mit den USA. Die nachfolgenden kostspieligen und verheerenden Kriege führten, so Müller, zu einem Ansehensverlust der USA. Mit der Politik des „coalition of the unwilling“ wurde der Unilateralismus der USA unter Bush gegen den „war on terror“ vorangetrieben.
In der Diskussionsrunde stellte Fücks – auf die innerarabischen und innermuslimischen Differenzen hinweisend – die zunehmenden Spannungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt heraus. Amirpur verwies auf den politischen Antagonismus des Westens, einerseits für demokratische Werte zu plädieren, andererseits aber diese im Namen der Bekämpfung des Terrorismus zu verletzen.
Übereinkommend stellten die Diskutanten fest, dass der Iran von den Kriegen der USA profitiert habe. Seitdem Irans ärgste Gegner im Irak – Saddam Hussein – und in Afghanistan – Taliban – ausgeschaltet worden sind, hat der Staat in der Region an Macht dazugewonnen.
Ein Bericht von Belgin Alakus
Was heißt heute Konservatismus? Gesprächsrunde der Freundinnen und Freunde am 24. Mai 2011
Konservativ zu sein erfährt eine neue Renaissance. War es vor nicht allzu langer Zeit in „linken“ Kreisen verpönt, sich von anderen als konservativ bezeichnen zu lassen, lassen sich derzeit Vertreter fast aller Parteien – vielleicht abgesehen von der Linkspartei – ganz gern mit dem Begriff in Verbindung bringen. Klassische Grenzen werden dabei überschritten, längst ist nicht mehr klar, dass ein „konservativer“ Gedanke auch nur aus den Reihen der Unionsparteien kommt.Das Beharrende, Bewahrende, Wertorientierte findet sich inzwischen auch bei SPD und Grünen, wobei letztere ganz gern insbesondere von den Unionsparteien als Nein-Sager und Verhinderer tituliert werden. Sind die Grünen konservativ und dabei nicht nur wert-, sondern auch strukturkonservativ? Diesen Fragen stellten sich Katrin Göring-Eckardt, MdB (Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland), Prof. Dr. Gerd Langguth (Universität Bonn) und Susanne Höll (Süddeutsche Zeitung). Die Moderation der Veranstaltung übernahm Dr. Anne Ulrich (Grüne Akademie in der Heinrich-Böll-Stiftung)
In der lebhaften Runde war der Begriff des Konservatismus und dessen Zuordnung und Bewertung naturgemäß strittig. Gerd Langguth definierte Konservatismus als die Betonung des „Nation-Gedankens" und als ein Weltbild, in dem Heimat, die Bindung an westliche Werte, die Bundeswehr und eine „europäische Leitkultur“ tragende Säulen seien. Begleitet von einer tiefen Sehnsucht nach einem „starken Staat“, woraus sich eine starke Betonung der Sicherheitsfrage auch nach innen ergebe. Langguth sah in letztem Punkt starke Parallelen zwischen Union und SPD, die seiner Meinung nach Tendenzen zu einer Law-and-Order-Partei entwickelt habe.
Katrin Göring-Eckardt wollte Konservatismus mehr als „Bewahrendes“ verstanden wissen, als Konsequenz in der politischen Meinung. Die Grünen werden ihrer Ansicht nach gerade wegen dieser „beharrenden“ Standhaftigkeit gewählt, zu ihren Überzeugungen unabhängig von der politischen Wetterlage zu stehen. Den Grünen stehe der Begriff des Konservativen gut an, seit dieser nicht mehr automatisch schwarz-grüne Koalitions-Assoziationen hervorrufe.
Die Union sei derzeit wenig konservativ dahingehend, dass sie gerade nicht ihre Positionen bewahre, was der Wähler aber zumindest bisher nicht honoriere. Hier war sie sich mit Gerd Langguth einig, der Angela Merkel vorwarf, in vielen Punkten zu wenig konservativ zu sein, weshalb ihr zunehmend misstraut werde. Auch Susanne Höll vermisste „echte“ Konservative in den Unionsparteien, wie Missfelder, Mappus oder Söder. Diese hätten in der jüngeren Vergangenheit deutlich an Einfluss verloren. Sie plädierte für den Konservatismus im Sinne einer Renaissance der Bürgerlichkeit, die sich in Deutschland etabliert habe. Nur die Union als „bürgerliche Partei“ zu bezeichnen, sei inakzeptabel in der Sache.
Zusammenfassend war sich das Podium in einem Punkt einig: Der Konservatismus als Idee ist so schlecht nicht, es fehlen ihm aber junge Theoretiker, die ihn zeitgemäß mit Inhalten füllen. Gerd Langguth erwartet solche aber nicht aus den Reihen der Union, sondern aus denen der Grünen.
Es folgte eine lebhafte Diskussion mit dem Publikum, die im Anschluss in informellen Gesprächen noch lange fortgesetzt wurde.
"(Über-)Leben im Nordkaukasus - Berichte aus einer europäischen Krisenregion" am 19. Januar 2011
Auf großes Interesse stieß die Gesprächsrunde über die Krisenregion an Europas Peripherie, in der Gewalt und Islamisierung seit Jahren zunehmen und längst weit über Tschetschenien hinausgreifen. Vor internationalem Publikum diskutierten Dr. Uwe Halbach von der SWP und Magomed Toriev, Journalist aus Inguschetien, mit der osteuropapolitischen Sprecherin der Grünen, Marieluise Beck. Halbach skizzierte zunächst die Entwicklung der Region seit 2009 und betonte die schwer zu analysierende Mixtur unterschiedlicher Gewaltakteure und -motive wie staatlicher Organe und islamistischer Kräfte, mafiöser Strukturen, Korruption und Verknüpfung von politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Die verstärkte Wahrnehmung der Region in ihrer Gesamtheit habe zu Änderungen in der Nordkaukasus-Strategie Russlands geführt, einer Verwaltungsreform und Entwicklungsanstößen auf der wirtschaftlichen und sozialen Ebene. Toriev sieht allerdings keine Ergebnisse dieser Reformen und hob hervor, dass die Schere zwischen Verlautbarungen der Regierung und den tatsächlichen Ereignissen auch in Inguschetien, wo in Präsident Jewkurow große Erwartungen gesetzt wurden, weit auseinanderklaffe.Konsens bestand auf dem Podium darüber, dass im Nordkaukasus keine starken separatistischen nationalen Dynamiken existieren; die tschetschenische Sezessionsbewegung war auch aufgrund der sehr unterschiedlichen ethnischen Zusammensetzung der sieben Teilrepubliken nie auf andere Republiken übertragbar. Einen weiteren Diskussionspunkt stellte der Islamismus dar - für Toriev ist der Einfluss islamistischer Bewegungen auf die Bevölkerung sehr begrenzt, da diesem starke Traditionen der Bergvölker entgegenstehen. Halbach verwies auf die Problematik, dass im Nordkaukasus eine sehr unterschiedliche Nutzung des Islam durch verschiedene Kräfte existiere, in Russland jedoch ein völlig undifferenzierter Umgang damit bestehe: Gläubige Muslime, nicht aggressive Islamisten und islamistische Terroristen würden vielfach gleichgesetzt, was letztlich neben der Korruption und wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit den Nährboden für eine radikale Islamisierung bereite. Angesichts des begrenzten europäischen Einflusses in der Region schlussfolgerten die Podiumsteilnehmer, Europa müsse die russischen Ansätze einer neuen Sicht auf den Nordkaukasus und einer selbstkritische Haltung unterstützen - und die Schnittstellen zwischen den Konfliktlandschaften des Nord- und des Südkaukasus stärker in den Fokus nehmen.
"1989 – Abgehakt! Was von der friedlichen Revolution bleibt" Podiumsdiskussion am 14. Dezember 2009
Es ist eine gemischte Bilanz, die der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, Abteilungsleiter bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, in seiner Bewertung des Erinnerungsjahres zieht. 20 Jahre nach dem Mauerfall sei endlich die Einsicht erreicht, dass 1989 nur zustande kam durch ein Bündel von Ursachen und dass Massenflüchtlingsströme und Bürgerrechtsbewegung zwei komplementäre Bestandteile der Bewegung bildeten. Dennoch spielten im zentralen öffentlichen Gedenken die „großen Männer“ eine zu dominante Rolle. Gleichzeitig sei positiv zu vermerken, dass die Erinnerung in diesem Jahr auch dezentral und eigeninitiativ in den Kommunen stattgefunden habe. Defizite in der Erinnerungskultur bestünden auf verschiedenen Ebenen: zum einen in der Schieflage, dass die Geschichten aus dem Westen im Osten nicht gleichermaßen gehört würden wie umgekehrt, zum anderen in der Tatsache, dass ein Fünftel der Bevölkerung – Menschen mit Migrationshintergrund – im Erinnerungsdiskurs ausgeklammert seien.Auf dem Podium besteht Konsens, dass die historische und politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und der DDR weitergehen müsse und die Täterintegration nicht weiter vor der Opferintegration stehen dürfe. Die im Personal symbolisierte Kontinuität der SED in der Linkspartei sowie die Debatte um die Bezeichnung der DDR als Unrechtsstaat zeige, dass die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung noch ausstehe und bisher nur institutionell und von einigen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen vorangetrieben wurde.
Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, vermisst eine stärkere Würdigung der Ereignisse im Vorfeld des Mauerfalls – das Gedenken sei zu sehr auf den 9. November 1989 konzentriert, doch müsse das Erbe der Bürgerbewegung bewahrt werden.
Der ehemalige Abgeordnete des Europaparlaments Milan Horáček betont, dass die europäische Dimension der politischen Wende in diesem Erinnerungsjahr immer noch zu wenig präsent sei.
Die Diskussion mündet in die Frage, ob sich im kollektiven Gedächtnis ein Mythos 1989 konstituiert, was letztlich erst im historischen Rückblick zu beantworten sein wird. Bedeutsam sei vor allem, den Revolutionsbegriff und damit die Rolle der Bürgerbewegung für 1989 zu etablieren und dies als Grundlage einer gemeinsamen europäischen Identität im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
Kinder von Sodom und Gomorrha - Warum afrikanische Jugendliche nach Europa flüchten - Feature und Podiumsgespräch am 18.10.09
Jens Jarischs Hörfunk-Feature gibt Einblicke in die biografischen Hintergründe derjenigen, die in den Nachrichtenmeldungen über Flüchtlinge ausgeklammert sind: Kinder und Jugendliche aus Afrika, die die Flucht noch nicht angetreten haben oder daran scheitern. Es sei nicht die Sehnsucht nach dem Reichtum, so Jarisch, die die Menschen zur Flucht bewege, sondern der Traum von Europa sei mit dem Wunsch verbunden, den eigenen Horizont zu erweitern und mehr aus seinem Leben zu machen, als es die gegebenen Umstände in der Heimat zulassen.Durch die Figur des Reporters im Feature markiert der Autor die eigene Subjektivität des europäischen Blicks auf Afrika. Das Feature macht einen bewussten Spagat zwischen den Biografien der Jugendlichen und einem Umweltskandal, um der verbreiteten Haltung etwas entgegenzusetzen, dass „wir“ Europäer mit der Lebensrealität in Afrika nichts zu tun hätten. Denn der im Feature aufgedeckte Umweltskandal offenbart beispielhaft die unmittelbare Verwicklung Europas in die porträtierten Lebensgeschichten und zeigt die Verantwortung Europas für den Preis der Globalisierung, den vor allem die Afrikaner zahlen müssen.
In der anschließenden Gesprächsrunde erzählte Umeswaran Arunagirinathan seine eigene Geschichte. Er flüchtete als Zwölfjähriger von Sri Lanka über Singapur, Dubai und Westafrika nach Deutschland. Dabei wurde die zwiespältige Rolle seiner Schlepperorganisation deutlich, die an ihm verdiente und ihre Macht gegenüber den Flüchtlingen ausnutzte. Der Organisation verdankte er aber zugleich sein Leben, weil sie ihn wie vereinbart nach Deutschland brachte. Virginia Wangare-Greiner führte aus, dass die Fluchtwege von Mädchen meist andere sind: Sie kommen schneller nach Europa. Menschenhändler verdienen an ihnen weit mehr, indem sie die jungen Frauen zur Prostitution zwingen. Mädchen, wie im Feature porträtiert, die von ihrer Familie aus wirtschaftlicher Not allein zum Geldverdienen in die Stadt geschickt werden, leiden fast zwangsläufig unter sexueller Gewalt. Ihre Schicksale werden in den afrikanischen Gesellschaften meist tabuisiert. Damit bleibt für sie die Rückkehr in die familiäre Gemeinschaft verschlossen.
Die Diskussion mit dem Publikum verdeutlichte, wie sehr das Feature die Frage aufwirft, welchen Anteil die Europäer an diesen Lebensrealitäten haben und was Europa und jeder Einzelne dazu beitragen kann, dass sich die dargestellten Hintergründe von Migration und Flucht verändern.
- Hörfunk-Feature von Jens Jarisch als Download (mp3, 53 Minuten, 62 MB)
Eine Coproduktion von rbb / SWR / NDR / WDR. Länge: 53 Minuten. - Zum Autor: Jens Jarisch ist mehrfach ausgezeichneter Autor, Regisseur und Produzent von Radiofeatures und Hörspielen.1969 geboren, wuchs er in Berlin, Teheran und Lima auf.
"öko + links + feministisch = DIE GRÜNEN 1980? - 2 Generationen im Gespräch" am 6. Juli 2009
70 Veranstaltungen an sechs Tagen: in der ersten Juli-Woche beherbergte das Berliner Stiftungshaus ein Gender Happening. Organisiert vom Gunda-Werner-Institut beteiligten sich viele Abteilungen der Stiftung, viele Projekte und Initiativen der Stadt am Programm. Die Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten eine Podiumsdiskussion am ersten Happening-Tag.Dreißig Jahre nach der Gründung der Grünen in NRW wurden die Gründungsmitglieder Christa Nickels und Edith Müller von zwei Stipendiat_innen der Stiftung, von Katrin Purschke und Julius Heinicke, befragt, die heute so alt sind, wie die beiden Politikerinnen damals.
Wenn die zwei sich an ihre erste Begegnung Ende der 70er Jahre erinnern, wähnt man sich in die Zeit zurückversetzt, als die Katholikin Christa Nickels auf das KPD-Mitglied Edith Müller trifft und die Fetzen fliegen bei einer Diskussion über die Doppelmitgliedschaft. Linkes, feministisches und wertkonservativ ökologisches Spektrum mussten sich damals zusammenraufen, Grenzen ziehen, neue Begrifflichkeiten finden und bei allen Auseinandersetzungen ein mehrheitsfähiges Programm entwickeln, das die Grünen 1983 in den Bundestag brachte.
Lebhaft und äußerst unterhaltsam erzählen die beiden Zeitzeuginnen von den Kinderschritten der Grünen, von Bürgerbewegungen und Initiativen von unten und von Persönlichkeiten wie Petra Kelly. Wie Ideale und Realität in der politischen Praxis aufeinanderprallten, wird deutlich, als Christa Nickels vom Rotationsprinzip bei den grünen Bundestagsabgeordneten berichtet. Durch fehlende Planung und Festhalten an der Macht misslang der Versuch, möglichst viele an der politischen Verantwortung und Gestaltung teilhaben zu lassen. Als die Situation in der Fraktion ganz verfahren war, kam es zum Feminat - einem rein weiblichen Fraktionsvorstand und einer Sensation zur damaligen Zeit, auch bei den Grünen.
Gefragt nach den Chancen von Frauen in der grünen Politik von heute, stellen Christa Nickels und Edith Müller fest, dass Frauen mit dem Willen politische Verantwortung zu übernehmen es noch immer schwerer haben als Männer und gerade die Entscheidungen hinter den Kulissen oft Frauen ausgrenzen.
"Bürgerschaftliches Engagement in der Bildung" am 11. Februar 2009
Gut fünfzig im Bildungsbereich Engagierte und an der ehrenamtlichen Arbeit Interessierte besuchten die Gesprächsreihe der Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung mit Sybille Volkholz und Helga Metzner. Die Heinrich-Böll-Stiftung setzt sich für demokratische Teilhabe, gesellschaftliches Engagement und Bildungsgerechtigkeit ein und viele Mitglieder des Freundeskreises sind in verschiedenen Kontexten ehrenamtlich tätig oder suchen nach Möglichkeiten, sich gerade im Bildungsbereich zu engagieren, der in den letzten Jahren eine Konjunktur in der Freiwilligenarbeit erfahren hat. Daher zielte die Veranstaltung darauf ab, die Diskussion über die Rolle bürgerschaftlichen Engagements im Bildungssektor mit der Darstellung seiner Organisationsstruktur und einiger konkreten Projekte zu koppeln. Helga Metzner als Vorstandsmitglied im Treffpunkt Hilfsbereitschaft – Berliner Freiwilligenagentur stellte Entwicklungslinien der Freiwilligenarbeit und ihrer Bedeutungszuschreibungen im öffentlichen Diskurs vor. Sybille Volkholz ging der Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bildung und der Verteilung von Verantwortlichkeiten nach. Als Gründerin des Bürgernetzwerks Bildung, das bereits etwa 1800 LesepatInnen vermittelt, stellte sie dessen Zielrichtung und Arbeitsweise vor. Einen kurzen Einblick in das Nachhilfeprojekt des Stadteilmanagements der Werner-Düttmann-Siedlung in Berlin Kreuzberg aus der Perspektive einer Freiwilligen vermittelte uns Kerstin Meißner, Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.Die Diskussion machte deutlich, wie wichtig die Verzahnung von ehrenamtlichem Engagement und hauptamtlicher Arbeit ist und welche noch unausgeschöpften Potenziale in diesem Bereich liegen. Wenn das Denken in Zuständigkeiten abgelöst wird von einem Denken in Verantwortlichkeiten, kann im Bildungsbereich viel gewonnen werden. Bei dem informellen Austausch im Anschluss nutzten viele die Gelegenheit, sich über zwei weitere Projekte zu informieren, die das Engagement von Jugendlichen fördern und sie zur Übernahme von Verantwortung anregen: ASHOKA Jugendinitiative und das Projekt Verantwortung der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Bis in die späten Abendstunden setzte sich das angeregte Gespräch vieler Akteure und Interessierten über Formen des Engagements in der Bildung fort.
"Schreiben als Beruf" - Besuch bei René Böll und Vortrag über Heinrich Böll am 8. Dezember 2008
René Böll empfing Mitglieder des Freundeskreises, StipendiatInnen der Heinrich-Böll-Stiftung und andere Interessierte in seinem Atelier im Kunsthaus Rhenania in Köln. Zwischen hunderten von Bildern und Zeichnungen, Farbpigmenten und Pinseln hielt René Böll als Sohn und Vertreter der Erbengemeinschaft einen Vortrag über seinen Vater Heinrich Böll mit unveröffentlichten Dokumenten und Fotographien. Er stellte die Entwicklung Heinrich Bölls zum Schriftsteller während der Kriegsjahre und in der Nachkriegszeit dar, erzählte von den ausgedehnten Reisen der Familie in Länder wie Irland, Russland und die Tschechoslowakei und wie Heinrich Böll und mit ihm seine Familie tschechische und russische Künstler und Dissidenten unterstützte. Auch sprach er über die Bedeutung der Künstlerexistenz seines Vaters für die ganze Familie in den Nachkriegsjahren, als die Mutter Annemarie Böll als Lehrerin für den Unterhalt der Familie sorgte, und in den siebziger Jahren, als die Diffamierungen und Verleumdungen seitens der Springer-Presse einsetzten. Im Anschluss an den Vortrag bestand die Möglichkeit, sich im Atelier umzuschauen und Einblicke in die Arbeit von René Böll zu erhalten, der seit 40 Jahren freier Künstler ist und sich u.a. intensiv mit der chinesischen Tuschmalerei beschäftigt. In die Geheimnisse der "vier Schätze des Studierzimmers"- Tusche, Papier, Pinsel und Reibstein - führte René Böll bei einer Vorführung ein. In der besonderen Atmosphäre des Ateliers konnten an diesem Abend so Einblicke in die sehr persönlichen Erinnerungen an den Schriftsteller Heinrich Böll und zugleich in die künstlerische Arbeit seines Sohnes René Böll gewonnen werden.Weitere Informationen über Heinrich Böll und die Werke von René Böll finden sie hier: Atelier René Böll, Heinrich Böll, Irisches Tagebuch.
Filmpremiere und Podiumsdiskussion „Shortcut to justice“ am 2. September 2008
Der Freundeskreis begleitete die Premiere des Dokumentarfilms „Shortcut to justice“ von Sybille Fezer und Daniel Burkholz, einem ehemaligen Stipendiaten der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Filmvorführung fand im ausverkauften Saal des Kinos Central in Berlin Mitte statt. Gewalt gegen Frauen ist in Indien quer durch alle Schichten, Kasten und Religionen präsent und von der Justiz können die Frauen kaum Schutz oder Hilfe erhalten. Eigeninitiative ist die einzige Chance: In Gujarat, im Nordwesten Indiens, haben Frauen deshalb selbst Gerichte ins Leben gerufen. Der Dokumentarfilm zeichnet den Kampf der „Frauen für Gerechtigkeit“ nach und verfolgt die Verhandlungen vor dem Frauengericht. Vom Publikum wurde der Film sehr gut aufgenommen und als „Mut machend“ bezeichnet. Denn er zeigt die Kreativität, den Mut und die Freude an der Selbstbestimmung von Frauen, die für die Rechte anderer Frauen kämpfen. Im Anschluss an die Filmvorführung entspann sich eine lebhafte Diskussion und das Publikum nutzte ausgiebig die Gelegenheit, mit den FilmemacherInnen und der indischen Frauenrechtlerin Nimisha Desai, die auch im Film auftritt, ins Gespräch zu kommen. Von besonderem Interesse war die Frage, welche Anerkennung die Frauengerichte gesellschaftlich finden. Laut Nimisha Desai spielen dabei mehrere Faktoren ineinander: Die Erfolge der Frauengerichte vor dem Hintergrund des Versagens von Justiz und Polizei einerseits, gesellschaftlicher Druck durch den öffentlichen Aushandlungsprozess und spätere Kontrollen seitens der Frauengerichte andererseits führen dazu, dass ihre Anerkennung in der Region sehr hoch ist. Diskutiert wurde auch die Übertragbarkeit dieser Formen alternativer Gerechtigkeit und der kreativen Lösungsansätze der indischen Frauenbewegung auf andere Länder.Buchvorstellung „Verwirrte Väter - oder: Wann ist der Mann ein Mann“ am 6. Oktober 2008
Robert Habeck, Buchautor und grüner Landesvorsitzender in Schleswig-Holstein, stellte bei der gut besuchten Veranstaltung sein kürzlich erschienenes und viel besprochenes Buch vor. Der Vater von vier Söhnen erläuterte dabei seine These, nach der Männer heute emanzipierter leben wollen, als es ihnen die Gesellschaft ermöglicht. Er verwies auf das Spannungsverhältnis zwischen Beruf und Familie, zwischen Ernährerrolle und Vaterarbeit. Die Folge sei die Unsicherheit vieler Männer und nicht realisierte Kinderwünsche aus der Angst heraus, nicht den eigenen Anspruch erfüllen zu können. Nachdem sich ein konservativer Rollback seinen Weg bahne, sei es nun an den Vätern, die Emanzipation zu vollenden.In ihrem Kommentar zu den „Verwirrten Vätern“ würdigte Judith Strohm, Mitglied des Frauenrats der Heinrich-Böll-Stiftung, das Buch für den Anstoß einer neuen Debatte über egalitäre Familienarbeit aus Sicht der Väter. Zwei Aspekte beleuchtete sie kritisch, indem sie das dem Buch zugrundeliegende Bild des Feminismus hinterfragte und die These aufstellte, dass die im Buch behandelten Väter überwiegend einer dem Autor nahestehenden sozialen Gruppe entstammen, wodurch die Thesen des Buches nicht generalisierbar seien. Die sich anschließende rege Diskussion zeigte große Zustimmung der Anwesenden zu der von Robert Habeck entwickelten Perspektive und machte deutlich, wie fruchtbar die Einmischung aktiver Väter und gendersensibler Männer für die familienpolitische Debatte ist.