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Zum 20. Todestag Heinrich Bölls - Ein Nachruf

Lesedauer: 5 Minuten

»... leise und vernehmlich auf Menschlichkeit beharrend«

16. Juli 2005

Heinrich Böll 1917 - 1985

»Ich will kein Image haben und keins sein. Deutschland braucht keine Präzeptoren . . . es braucht kritische, aufmerksame Bürger, die nicht immer und unbedingt Autoren sein müssen. Was Autoren sind: auch Bürger, möglicherweise artikulierte; sonst nichts.«
(Heinrich Böll, "Der liberale Labberdreck stammt nicht von mir", offener Brief an Hilde Domin, 1971, Kölner Ausgabe, Bd. 18, S.10)


Heinrich Böll, dessen Todestag sich am 16. Juli 2005 zum zwanzigsten Male jährt, widerstrebte die ihm von der Öffentlichkeit zugewiesene Rolle des »repräsentativen Intellektuellen«. Die Funktion eines »moralischen Gewissens der Nation« mochte er nicht übernehmen. Es galt, die eigene Person nicht an diese Abstraktionen zu verlieren. Bölls eingangs zitierter Einspruch macht dies deutlich; ein Einspruch, der zum Plädoyer für das mündige Individuum wird, dessen Teilnahme an der »res publica« ihm der selbstverständliche Ausdruck seines  Mündigseins war.

Den Gedanken des Individuellen und der Individualität entfalten Bölls Werke  immer wieder auf neue Weise. So erzählen seine Veröffentlichungen in der frühen Nachkriegszeit denn auch nicht vom Krieg; sie rücken vielmehr Figuren in den Blick, an denen die Beschädigungen des Einzelnen durch den Krieg reflektiert werden.

Schon bevor Böll die verdrängungsgeladene Restauration deutscher Bürgerlichkeit, die personellen und gesellschaftlichen Kontinuitäten nach 1945 literarisch spiegelte und in Gestalten wie Hans Schnier in Ansichten eines Clowns oder Leni Gruyten in Gruppenbild mit Dame Partei für ihre Opponenten ergriff, stand seine Position fest: Es ging ihm darum, einer Mitmenschlichkeit Geltung zu verschaffen, die unter die Räder von Wirtschaftswunder und »Wir sind wieder wer« - Gesinnung zu geraten drohte. Gleichzeitig verweigerte er sich jeder Ideologisierung. Bereits die jüngst publizierten literarischen Ansätze der zweiten Hälfte der 1930er Jahre weisen hierauf hin. Sie dokumentieren Bölls früh artikuliertes Unbehagen an den die Nöte der täglichen Existenz zugunsten einer normierten sozialen und kirchlichen Ordnung übersehenden Institutionen, auf die er mit seinen literarischen Provokationen antworten wollte.

Die Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, die Böll als Person ebenso wie als Romancier und Publizist über sein nahezu vierzigjähriges Schriftstellerdasein auszeichnete, lag in der von ihm literarisch ebenso wie in öffentlichen Reden eingenommenen »moralischen« Position begründet: nicht »über« das Leben wie aus einer »höheren« Warte zu sprechen, nicht von den Kommandohöhen der Mächtigen in Politik, Wirtschaft oder Kirche die Welt zu betrachten, sondern aus der Perspektive alltäglichen Lebens und des um seine Würde kämpfenden Individuums. »Die ›absoluten Wahrheiten‹ sind das Werkzeug der Nivellierung«. Dieser Satz Nietzsches galt auch für Böll. Und an Böll wurde verstanden, dass es  ihm um »Reflexionen aus einem beschädigten Leben« (Adorno) ging - nicht um »absolute Wahrheiten« über dieses.

Er begann mit kleineren Arbeiten, die er ab 1947 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften unterbringen konnte, dann 1949 mit einem ersten größeren Erzähltext Der Zug war pünktlich, mit dem er als Verlagsautor debütierte. 1951 folgte Wo warst du, Adam?

Eine breite öffentliche Wirkung und zugleich die erste um ein Werk von ihm geführte Kontroverse erfuhr Böll 1953 anlässlich der Publikation des Romans Und sagte kein einziges Wort, mit dem sich darüber hinaus thematisch wie ästhetisch ein Wechsel vollzog. Bildeten bislang die Deformationen des Krieges den zentralen Erzählgegenstand der Texte, so rückte er mit seinen Arbeiten ab 1954 immer mehr an die Gegenwart heran, schrieb entlang der gesellschaftlichen Entwicklungslinien, die er mit seinen Romanen Billard um halb zehn (1959), Ansichten eines Clowns (1963), Gruppenbild mit Dame (1971) und Fürsorgliche Belagerung (1979) ebenso streitbar wie umstritten kenntlich machte. Auch sein letzter postum veröffentlichter Roman Frauen vor Flußlandschaft – Ein Roman in Dialogen und Selbstgesprächen – nimmt sich aus dieser Reihe nicht aus. In seiner konsequent auf die Optik der Figuren reduzierten Form ist dieser Text der vielleicht radikalste und von resignativen Zügen nicht freie Versuch, das Lebensthema noch einmal zu erfassen: den Beschädigungen des Lebens nachzugehen, sie aufzuspüren und  dabei stets auf der »Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land« zu bleiben.

Willy Brandt hat in seinen nach Bölls Tod publizierten Erinnerungen diese eigentümliche Mischung aus durchaus scharfer Kritik und Zurückhaltung als Grundzug von Bölls Auftreten angesprochen. »Unvergesslich: dieser wohltuende Mangel an Dämonie. Diese Stimme, das Gegenteil eines metallischen Organs, leise und vernehmlich auf Menschlichkeit beharrend, dem Spießertum in die Parade fahrend«.

1979, anlässlich der Europawahlen, und 1983, bei der Wahl zum 10. Deutschen Bundestag, deren Ergebnis für die Grünen erstmalig den Einzug in den Bundestag bedeutete, gehörte Böll zu den Unterstützern grüner Politik. »Ich glaube, dass die BRD mit den Grünen regierbarer wird als ohne sie.« Mit den Grünen verband Böll die Hoffnung auf einen korrigierenden politischen Eingriff, auf neue Perspektiven für den Ausbau der Demokratie wie dem Erhalt einer menschengerechten Umwelt.

Die Heinrich Böll Stiftung hat den 20. Todestag ihres Namensgebers bereits am 7. Juli dieses Jahres gemeinsam mit dem WDR  und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch mit einer Veranstaltung in Köln gewürdigt. Im Zentrum dieses Abends stand die Uraufführung einer Fernsehdokumentation von Wilhelm von Sternburg: Heinrich Böll, ein anderer Deutscher. Für das Frühjahr 2006 planen wir zusammen mit den Herausgebern der Kölner Ausgabe sowie dem Heinrich-Böll-Archiv eine Veranstaltungsreihe mit Vorträgen und Diskussionen zu Leben, Werk und Wirkung Heinrich Bölls. Darüber hinaus hat die Stiftung mit den editorischen Vorarbeiten für die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Heinrich Böll und Lew Kopelew begonnen.