Vom Einwanderungsland zur Aufsteigerrepublik? Integration, Chancengerechtigkeit und Teilhabe in Deutschland

CDU-Politiker Armin Laschet, Moderator Harald Asel, Theatermacherin Shermin Langhoff, Grünen-Bundesvorsitzender Cem Özdemir (v.l.n.r.) Foto: Stephan Röhl

1. Februar 2010
Von Tina Hüttl

Drei erfolgreiche Aufsteiger, drei abweichende Biografien und ein gemeinsames Ziel. Das war die Besetzung des Podiums in der Heinrich-Böll-Stiftung, die sich zum Auftakt ihrer neuen Veranstaltungsreihe „Was ist der deutsche Traum?“ mit der Frage der Aufstiegschancen von Migrantinnen und Migranten beschäftigte. Vor vollen Zuschauerreihen saßen der CDU-Politiker Armin Laschet, die deutsch-türkische Theatermacherin Shermin Langhoff und der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir auf leuchtend grünen Sesseln - und insofern bildeten ihre individuellen Herkunftsgeschichten selbst die hoffungsvolle Hintergrundfolie für eine wieder in Konjunktur gekommene Debatte. Sie lautet: Wie steht es heute um die Integration in Deutschland? Und wie kann sie besser gelingen? 


Integration - die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts

Bundesweit machen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte fast 20 Prozent der Bevölkerung aus und in manchen Großstädten bereits die Hälfte eines Geburtsjahrgangs. Armin Laschet, CDU-Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW), nannte die Integration daher die Gretchenfrage, gar die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts. So hat er es auch in seinem von allen Podiumsteilnehmern einstimmig gelobten Buch geschrieben. Es trägt den Titel: „Die Aufsteiger-Republik“, und zu Beginn der Veranstaltung gab er die wichtigsten Gedanken daraus wieder.

Nicht nur verwies der Bergarbeitersohn auf seine eigene Aufstiegsgeschichte, sondern auch die von zwölf Millionen Flüchtlingen nach dem Krieg, die dank einem gewaltigen Solidaritätsakt, einem Bundesvertriebenenminister und einem Lastenausgleich sowie eigenem Ansporn gelungen sei. Laschet bezeichnete sie als die „erste deutsche Einheit“. Er plädierte nun, 20 Jahre nach der zweiten deutschen Einheit und der Integration von 17 Millionen Ostdeutschen, dafür, endlich die „Einheit aller zu vollenden, die in Deutschland leben".

Warum ist die von ihm genannte dritte deutsche Einheit bisher nicht geglückt? Laschet führte vielerlei Gründe an: die fehlende Förderung von Deutschkenntnissen bei Zuwanderern, das selektive Bildungssystem, islamophobe Schreckensbilder, das jahrhundertelang vorherrschende Denken vom „Ius Sanguinis“, also dem Deutschsein qua Abstammung, verbunden mit dem Mythos vom Gastarbeiter, der wieder in seine Heimat zurückkehrt  – alles in allem also strukturelle Blockaden und nicht persönliche Versäumnisse seitens der Zuwanderer, die nun nach 50 Jahren Einwanderungsgeschichte eine rückwirkende Integration erfordern.    

Wie diese nun konkret aussehen könne, blieb bei Laschet jenseits der Sprachförderung für Kleinkinder in NRW allerdings weniger konkret. Er lobte die rot-grüne Staatsbürgerschaftsreform als einen Umdenkprozess, der begonnen habe und seine Zeit brauche. Sein Buch sei jedoch „kein Migrationsbuch“, sondern es gehe um den Aufstieg, der für alle gesellschaftlichen Gruppen möglich sein müsse. Auch die bildungsferne, deutsche Schicht leide unter betonierten Zugängen, Elitismus und Netzwerken. Ihr fehlten ebenso wie den Migranten positive Identifikationsmodelle, der richtige Habitus und ein Aufstiegsglaube. Eine Aufstiegsrepublik brauche auch außerhalb des Fußballs mehr Erfolgsgeschichten von Menschen mit Zuwanderungshintergrund in Parlamenten, Medien und Unternehmen, die nicht auf glücklichen Zufällen, sondern auf gleichen Chancen beruhten.


Integration – eine Frage der Bildungschancen

Mit Cem Özdemir und Shermin Langhoff saßen zwei prominente Aufsteiger als Diskutanten auf dem von Harald Asel moderierten Podium, die ihre positiven Integrationskarrieren eher dem Zufall verdanken – einem engagierten Lehrer, einem Bücherbus, einer Nachbarin. Özdemir, in dessen „Wohnzimmer die Bücherwand mit Brockhaus fehlte“, und der 1994 als erster Abgeordneter türkischer Herkunft in den Bundestag gewählt wurde, konnte dem CDU-Politiker daher in der Problemanalyse nur zustimmen.

Allerdings verwies er darauf, dass Laschet in seiner Partei nur ein „interessanter Farbsprengsel“ sei und nur wenig von dem umgesetzt werde, was er sage. Das geeignete parteipolitische Feld zum Angriff fand Özdemir in den Versäumnissen der nordrhein-westfälischen Bildungspolitik, für ihn die entscheidendste Integrationsfrage. NRW halte am dreigliedrigen Schulsystem fest und trenne Kinder viel zu früh nach der vierten Klasse, was einer Selektion nicht nach Begabung, sondern nach ethnischer Herkunft gleichkomme.

Auch Shermin Langhoff, die seit 2008 das Ballhaus Naunynstraße leitet und es sich zum Ziel gesetzt hat, migrantische Regisseure, Autoren, Schauspieler und Choreographen zu fördern, wollte Laschets Buchthesen nicht widersprechen. Jedoch hinterfragte sie ebenfalls sein Gewicht innerhalb der CDU. Bei ihr seien viele Fragen offen geblieben: Das Eingeständnis, das Integrationsthema 50 Jahre lang verschlafen zu haben, mache sie schlicht wütend. Doch hinter der jetzigen Neuentdeckung der Migranten gerade im Kulturbetrieb, so vermutete die Theatermacherin, stehe nicht selten kosmopolitische Camouflage. Wichtige Themen wie das Kommunalwahlrecht für Migranten würden nicht angegangen. Auch die Frage, wie der „Königsweg der Verbürgerlichung“, nämlich Integration und Aufstieg durch Arbeit nach dem Ende der Vollbeschäftigung erreicht werden könne, bleibe unbeantwortet.   

Ihre fundamentalste Kritik äußerte sie aber an einem zu eindimensionalen Blick auf die migrantische Gesellschaft, der die vorhandene Vielfalt und Komplexität missachte. Um das zu unterstreichen, referierte Langhoff kurz die eigene Familiengeschichte: 1969 im türkischen Ort Bursa geboren, siedelt sie als Neunjährige zu ihrer Mutter nach Nürnberg, später nach Berlin, wurde Ehefrau eines Deutschen und Mutter eines Kindes mit Migrationshintergrund, um nur wenige von vielen Zugehörigkeiten zu nennen.

„Wer hier also wen und wohin integriert“, wurde im Anschluss daran zwar als Frage von rbb-Moderator Asel aufgegriffen, leider aber nicht wirklich erörtert. Laschet sprach davon, dass Integration natürlich auch die Mehrheitsgesellschaft verändere und plädierte für eine neue Leitkultur-Debatte zwischen Zuwanderern und Mehrheitsgesellschaft. Eine Perspektive, der jedoch wieder verebbte. Schnell verengte sich die Diskussion auf die Bildungspolitik, die vor allem zwischen Laschet und Özdemir geführt wurde.

Der CDU-Integrationsminister wies auf die Versäumnisse aller Parteien hin, auch der Grünen, die lange Zeit Deutschunterricht für Migrantenkinder als „Zwangsgermanisierung“ kritisiert hätten. In punkto Schulstruktur gab er sich offen: Es sei für ihn keine ideologische Frage. Wichtiger sei es, Kinder möglichst individuell zu fördern. Özdemir stimmte ihm zu, verwies jedoch auf die finanziellen Verteilungskämpfe, die mit der Schuldenbremse und der unsinnigen Steuerreform noch um ein Vielfaches verschärft würden. Auch Langhoff kritisierte die drastische Unterfinanzierung der Schulen und nannte Beispiele aus der Praxis für ein „Apartheidsystem an Berliner Grundschulen“, die „ausländische“ Kinder in eigene Klassen aussortierten.

Das letzte Drittel der Veranstaltung thematisierte, wie die Zivilgesellschaft zur Bekämpfung der Bildungsmisere und zur besseren Integration beitragen könne - eine Diskussion, an der sich auch viele Pädagogen, Quartiersmanager und Bildungspraktiker aus den Zuschauerreihen erhitzt beteiligten. Stiftungen und ihre Förderprogramme könnten nur ergänzend wirken, lautete der allgemeine Tenor, nicht jedoch staatliche Kernaufgaben ersetzen. Özdemir plädierte für einen „Grundkonsens der Politik über öffentliche Güter“, der aber, so seine Befürchtung, mit der FDP nicht zu machen sei.

Ein wichtiges Schlusswort nach knapp zweieinhalb Stunden fand Langhoff, die das Integrationsthema nicht auf Bildung und Sprachkurse verengt sehen wollte. Sie verwies auf den strukturellen Rassismus in der Gesellschaft, der ihrer Erfahrung nach auch für den Rückzug qualifizierter Migranten sorge. Dagegen helfe nur mehr Partizipation von Migranten auf allen Ebenen. Die Kultur könne dabei „Organisator und kritischer Begleiter“ eines Dialogs sein. Dieser, so prophezeite Langhoff abschließend, werde jedoch nicht schmerzfrei sein.

Tina Hüttl ist freie Redakteurin in Berlin.