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Politik auf dem Prüfstand: Befördert oder bremst sie Integration?

30. März 2011
Corina Weber

Den goldenen Schlüssel für eine erfolgreiche Integration von Migrantinnen und Migranten präsentierte Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, gleich zum Auftakt der zweitägigen Konferenz „Migration - Integration - Soziale Mobilität“: „Der soziale Fahrstuhl nach oben muss funktionieren. Das ist der Dreh- und Angelpunkt gelungener Einwanderung.“ Die Frage, welche Rolle die Politik dabei spielen kann und muss, damit dieser Fahrstuhl sich für Zuwanderer nach oben statt nach unten bewegt und zudem allen offen steht, bestimmte die Vorträge und Diskussionen auf der Konferenz. Im Mittelpunkt der Debatte stand auch das Dilemma der Kluft, die zwischen den Maßnahmen der Politik und der tatsächlichen Lebenswirklichkeit von Zuwanderern im Alltag besteht. Jan Niessen, einer der Verantwortlichen der MIPEX-Studie und Direktor der Migration Policy Group, wies eingangs darauf hin: „Wir messen nicht die tatsächliche Integration von Individuen, sondern das Engagement und die Maßnahmen von Regierungen, damit Integration möglich wird.“ Die Benchmark-Studie MIPEX III (Migrant Integration Policy Index) sei ein Instrument, um anhand von sieben für Integration relevanten Themengebieten die Politiken von 31 Ländern zu analysieren, zu vergleichen und zu zeigen, wo Verbesserungen notwendig seien. Die Diskussion dieser Konferenz solle identifizieren, wie gut die Integrationsergebnisse in den Ländern tatsächlich seien, wünschte sich Niessen zum Auftakt.

Wie Bildung Aufsteiger und Versager schafft

Zum ersten Mal hat der Integrationspolitikbarometer die Bildungspolitik von 31 Ländern in Europa und Nordamerika unter die Lupe genommen und dort „große Schwächen“ erkannt: Nur wenige Bildungssysteme passten sich in Europa an die Realität der Immigration an. Dass Bildung im Kampf um Integration elementar, aber zugleich ein zweischneidiges Schwert ist, machte Alistair Ross, Professor am Institut for Policy Studies in Education der University of London, klar. Bildung kann ein wichtiges Vehikel sein für soziale Mobilität, aber sie kann auch Unterschiede reproduzieren und ganze Gruppen von Verlierern schaffen. Ross, der an der MIPEX III-Studie zum Thema Bildung beratend mitgearbeitet hatte, verwies dabei auf die „heimtückische“ Waffe des Meritokratie-Diskurses. Dieser proklamiere, dass je nach Bildungsleistung die Besten an die Spitze kommen würden, aber: „dadurch werden in vielen Ländern soziale Gruppen geschaffen, die bei Bildung versagen und damit die Diskriminierung von Migranten gerechtfertigt“, analysierte Ross. Solche Vorurteile bestimmten dann den Diskurs der Einheimischen über Zuwanderung.

Als eines von vielen Beispielen für strukturelle Hindernisse nannte der Bildungsexperte Großbritannien. Dort gingen sieben Prozent der Kinder auf Privatschulen, für die deren Eltern rund 20.000 Euro Gebühren im Jahr zahlten, 40 Prozent dieser Kinder besuchen später Eliteunis, während der Anteil von Kinder aus armen Familien auf den Eliteunis nur bei zwei Prozent liege. Ross fand deutliche Worte: „Das ist institutioneller Rassismus“. Bildung erweise sich als Spiegel der Gesellschaft, der in Referenz auf Bourdieu ihre Strukturen reproduziere.

Lehrer als Scharnier für Integration

Ross zeigte einen Ausweg aus diesem Dilemma des Bildungssystems: „Ich behaupte, die Lehrer haben hier die Möglichkeit, die gesellschaftliche Struktur zu verändern und zu verbessern. Denn Bildung kann eine Gesellschaft auch transformieren“. Dies erfordere jedoch eine Bildungspolitik, die Lehrern eine interkulturelle Ausbildung ermögliche, in der Diversität als wichtig und positiv anerkannt und im Unterricht berücksichtigt würde. Zudem brauchten Kinder von Zuwanderern eventuell aufgrund ihrer anderen Tradition in Bereichen wie Spracherwerb anfangs besondere Unterstützung. Dies führte Ross zu der scheinbar paradoxen Forderung: „Um Gleichheit zu erreichen, muss es vielleicht eine unterschiedliche Politik geben für bestimmte Gruppen“. Dass die Lehrer eine relevante Kategorie für gleiche Bildungschancen in pluralen Gesellschaften sind, wurde auch in den folgenden Diskussionen betont.

Der Traum vom sozialen Aufstieg

„Wir denken zwar, Bildung ist ein gutes Instrument für die Integration, aber die Kluft ist hier immer noch groß zwischen Einheimischen und Zuwanderern“, stimmte auch der Soziologe Han Entzinger, Professor für Migration an der Erasmus Universität Rotterdam, Alistair Ross zu. Entzinger analysierte in seinem Vortrag, welche Hürden die Aufstiegswünsche der Einwanderer blockieren. Dabei schickte er voraus: „Der Integrationsprozess existiert nicht. Integration hat viele Gesichter“. Neben der kulturellen Barriere im Bildungsbereich diagnostizierte Entzinger rechtliche Hürden wie den Zugang zu Wahlrecht und Staatsbürgerschaft sowie konjunkturelle, die den sozialen Aufstieg blockierten: „Noch immer sind Migranten auf dem Arbeitsmarkt die Letzten, die reinkommen und die Ersten, die rausfliegen.“ Er nutze das Bild von der „gläsernen Decke“, die hochqualifizierte Zuwanderer selbst bei vergleichbarer Ausbildung stoppe und zu Enttäuschung führe. Denn: „Die geografische Mobilität der Migranten ist mit einem großen Wunsch nach sozialem Aufstieg verbunden“, identifizierte Entzinger das vorherrschende Motiv für Zuwanderung. Doch oft habe erst die zweite Generation echte Partizipationschancen in der Gesellschaft und erst die dritte Generation schulische Erfolge. In seinem Fazit zeichnete Entzinger ein gemischtes Bild: „Es gibt soziale Mobilität nach oben, aber auch zugleich viele kulturelle und strukturelle Hürden, die überwunden werden müssen.“

Der politische Wille zählt mehr als Erfahrung

Mit dieser Diagnose lag Entzinger in Übereinstimmung mit dem Ergebnis der MIPEX III -Studie, die bei der Bewertung der Integrationspolitiken aller EU-Mitgliedsstaaten, sowie von Norwegen, der Schweiz, Kanada und den USA ebenfalls das Fazit zog: „Chancen und Hürden gehen oft Hand in Hand. Das ist ein Paradox.“ Dies sagte Thomas Huddleston von der Migration Policy Group. Als wissenschaftlicher Koordinator der Studie präsentierte er die Ergebnisse der Benchmark-Studie, die auch als interaktives Onlinetool genutzt werden kann. Huddleston verkündete eingeschränkt gute Nachrichten: Im Vergleich zu den beiden früheren MIPEX-Studien seien bei vielen Ländern nun Fortschritte zu erkennen. Aber: „Sie gehen nur langsam voran. Bei der Integrationspolitik Rechte zu ändern, das ist ein langer Prozess.“ Das Gesamtranking zeige, dass skandinavische Länder insgesamt besser abschneiden, aber auch ein neues Einwanderungsland wie Portugal liege mit Platz zwei weit oben. Daraus schloss Huddleston: „Erfahrung und Tradition der Einwanderung sind weniger relevant als der politische Wille zur Gleichstellung.“

Hohe Schwellen zur Staatsbürgerschaft

Bei der Bewertung der Rolle von EU-Richtlinien zu Antidiskriminierung und Gleichstellung von Zuwanderern kam Huddleston zu einem ambivalenten Ergebnis: Sie beschleunigen zwar fehlende nationale Gesetzgebung, andererseits legen sie oft nur Mindeststandards fest, diese wiederum könnten allerdings von nationalen Regierungen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Prinzipiell kritisierte er die Regierungen: „Sie stützen ihre Politik nicht auf aktuelle Fakten und prüfen oft die Wirkungen ihrer Gesetze nicht.“ Genau da erhofft sich die Benchmark-Studie durch ihre Analyse der politischen Instrumente eine Verbesserung der Integrationspolitiken. Große Defizite hat MIPEX III bei den Regelungen zur Staatsbürgerschaft und zum Wahlrecht für Zuwanderer aus Drittstaaten gefunden: Nur in 15 Prozent der Ländern haben Migranten das Recht zu wählen und dann nur – mit Ausnahme von Großbritannien – auf kommunaler Ebene. Die doppelte Staatsbürgerschaft für Zuwanderer aus Drittstaaten sei nur in 18 Ländern möglich. Die Hälfte der Länder verknüpften zudem den Zugang zur Staatsbürgerschaft mit einem bestimmten Einkommen, Beruf oder Sprachniveau. Inwiefern zum Beispiel die Sprachtests eher darauf zielten, Integration zu fördern oder Zuwanderer abzuschrecken, stellte Huddleston zur Diskussion.

Partizipation statt Integration

Die Migrationsexpertin Naika Foroutan von der HU Berlin widersprach in der Podiumsdiskussion dem Ergebnis von MIPEX III, dass es Verbesserungen gebe. „Ich habe nicht das Gefühl, dass es Fortschritte gibt. Die letzten zehn Jahre sind meiner Meinung nach von einem Abgrenzungsdiskurs der Politik geprägt.“ Aufgrund der zuvor angesprochenen Komplexität des Begriffs Integration, schlug Foroutan vor, Partizipation als neuen Leitbegriff zu nutzen. Die Zuwanderer selbst reagierten auf den Begriff Integration oft mit Abwehr, erklärte sie: „Er impliziert, dass jemand außerhalb steht und erst nach innen geholt werden muss, dazu habe er bestimmte Stufen zu erklimmen.“ Selbst wenn er das geschafft habe, werde immer noch seine Loyalität in Frage gestellt, wie Entzinger es auch dargestellt habe. Dagegen ermögliche der Begriff Partizipation für Zuwanderer, sich zwischen verschiedenen Kulturen zu bewegen, was ihrer Lebensrealität entspreche.

Keine Wahl in der Demokratie?

Welche zentrale Rolle politische Partizipation für die Gleichstellung der Zuwanderer spielt, diskutierte die „Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaft“ im Rahmen der Konferenz. Hier gab es Einigkeit darüber, dass die vielen rechtlichen Hürden und komplizierten Regelungen für die Staatsbürgerschaft gerade für Zuwanderer aus Drittstaaten ihre Gleichstellung innerhalb der Gesellschaft blockierten. Der Benefit von Staatsbürgerschaft sei groß, die Migranten gewinnen Wahlrecht, das Reiserecht innerhalb der EU sowie mehr Rechte auf dem Arbeitsmarkt. Sie seien nicht länger Bürger zweiter Klasse. Durch das Wahlrecht würden sie endlich für Politiker als Zielgruppe relevant. Ulrich Raiser vom Büro des Berliner Integrationsbeauftragten kritisierte, dass in Berliner Innenstadtbezirken bis zu 25 Prozent der Bewohner, die aus Drittstaaten wie der Türkei kommen und keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, kein Wahlrecht haben. Dieser Ausschluss eines Viertels der Wohnbevölkerung werfe ein Legitimitätsproblem für die Demokratie auf, argumentierte Raiser. Die Ungleichbehandlung von EU-Bürger und Nicht-EU-Bürgern stelle eine institutionelle Diskriminierung da und blockiere die Teilhabe an der Gesellschaft, in der sie leben. „Prinzipiell müssen wir weg von der rein kulturell bedingten Integration und hin zu gleichen Rechten bei der politischen Partizipation“, forderte Raiser wie auch die Migrationsexperten in den weiteren Diskussionen.

Memet Kilic, Bundestagsabgeordneter der Grünen, kritisierte in seinem Vortrag, dass Deutschland besonders schlecht dastehe beim Zugang zu Staatsbürgerschaft. Im EU-Vergleich habe es eine der niedrigsten Einbürgerungsraten. Sie liegt unter zwei Prozent.

Gute Politik, aber schlechte Ergebnisse?

Die auf der Konferenz viel diskutierte Lücke zwischen politischen Regelungen und tatsächlichen gleichen Chancen für Zuwanderer wurde bei der Mobilität des Arbeitsmarktes besonders deutlich. So schlossen laut MIPEX III die meisten Länder hier mit höheren Punktzahlen ab als auf den anderen Gebieten. Schweden erreichte den Maximalwert von hundert möglichen Punkten und sogar Deutschland schaffte es aus dem Mittelfeld auf Platz sechs. Jedoch markierte der Vortrag des OECD-Arbeitsmarktexperten Georges LeMaitre deutlich die Kluft zwischen verbesserter Arbeitsmarktunterstützung und der Tatsache, dass die Beschäftigungsrate der Zuwanderer im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung immer noch niedriger sei: „Es ist ein Mysterium“, urteilte LeMaitre vom OECD-Direktorat für Arbeit, Beschäftigung und Soziales. So gebe es in Kanada, das bei MIPEX III auf Platz fünf hochklettern konnte, eine hohe Arbeitslosigkeit unter gut ausgebildeten Zuwanderern. Eine Erklärung könne darin liegen, dass weiterhin viele Diskriminierungen existierten, dazu zählten unter anderem Vorurteile bei Arbeitgebern, die Bewerber mit ausländisch klingenden Namen benachteiligten, wie LeMaitre anhand einer Studie mit fiktiven Bewerbungen zeigte. Bessere Ergebnisse bei der Beschäftigungsrate der Zuwanderer hätten Länder mit einem hohen Anteil an Arbeitsmigration. Hier würden auch die südeuropäischen Länder gut abschneiden.

LeMaitre empfahl den Regierungen in seinem Schlusswort generell, ihre Priorität vor allem auf die Kinder der Zuwanderer zu legen: „Es gibt keinen Grund, weshalb in einem Land geborene Kinder nicht dieselben Chancen in diesem Land haben sollten“. Auch er postulierte Bildung als Schlüsselfaktor für gleiche Zugangschancen zum Arbeitsmarkt. Wenn allerdings die existierende Segregation in Schulen verbunden werde mit Benachteiligung der Migrantenkinder, „ist das tödlich und ein Drama.“ Er forderte, bevor die Politik handle, müsse sie in Zukunft genauer analysieren, wo die Probleme beim gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt überhaupt lägen.

Unsichtbare Hände, die aussortieren

Der Frage, ob nun die Politik eher Antrieb oder Hemmnis für die individuellen Erfolge der Zuwanderer seien, widmete sich die Abschlussdiskussion. Der Bundestagsabgeordnete Memet Kilic urteilte auch aus seiner Erfahrung als früherer Vorsitzender des Bundesausländerbeirats, dass die Politik vor allem Barrieren aufbaue, die Integration verhinderten: „Es sind unsichtbare Hände, die aussortieren und wir Migranten spüren nichts, wir haben uns ins künstliche Koma gelegt“, erklärte Kilic. Seda Rass-Turgut, die Leiterin von KAUSA, einem staatlichen Arbeitsmarktprogramm, das Unternehmer mit Migrationshintergrund zu Ausbildern machen will, betonte dagegen eher die Antriebsrolle der Politik: „Solange es in Deutschland noch so eklatante Unterschiede gibt, sind staatliche Regelungen notwendig.“ Aber ohne eine wirkliche Willkommenskultur und einen positiven Zuwanderungsdiskurs, der vor allem den Gewinn von Diversität betone, nutzten staatliche Programme nichts, befand sie im Einklang mit anderen Konferenzteilnehmern: „Wir brauchen mehr als Politik für gute Ergebnisse bei der Integration“, erklärte auch Jan Niessen von der Migration Policy Group in seinem Schlusswort. 

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Bilder der Konferenz