Mythos reloaded – von uneingelösten Erwartungen und den neuen Mythen der Kernenergie

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24. September 2009
Von Dr. Felix Matthes
Von Dr. Felix Chr. Matthes

Seitdem am 26. Juni 1954 im russischen Obninsk erstmals Strom aus einem Kernkraftwerk in das Stromnetz geliefert wurde, gehören hohe Erwartungen an diese Form der Energiegewinnung zum Standard der Energiepolitik. Und auch fünf Dekaden später haben sich die Versprechungsmuster kaum geändert, die angebotenen Problemlösungen haben sich sogar noch verbreitert. So könnten große Strommengen zu niedrigsten Kosten und mit geringen Treibhausgasemissionen erzeugt werden und einen erheblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten.

Die ganz überwiegend durch massive staatliche Flankierungen errichtete Reaktorflotte erbringt einen begrenzten Anteil am Stromaufkommen: global 15 Prozent, in der OECD etwa 20 Prozent und in der Tendenz stagnierend bis rückläufig. Dem stehen gravierende Risiken gegenüber. Herausragend ist die Gefahr nuklearer Katastrophen. Ein einziger großer Unfall in Deutschland – verursacht durch technisches oder menschliches Versagen oder terroristische Attacken – würde volkswirtschaftliche Kosten von 2.000 bis 3.000 Milliarden verursachen.

Bei einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 2.500 Milliarden würde dies nicht nur unendliches Leid, sondern auch den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Bundesrepublik bewirken. Solche Risiken sind unakzeptabel, selbst bei geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten. Die riesigen und letztlich insgesamt nicht ansatzweise gelösten Probleme bei der sicheren Entsorgung der wachsenden Atommüll-Mengen haben sich als weiteres Großproblem erwiesen. Zumal sie eng verbunden sind mit den erheblichen Gefährdungen für die globale Sicherheit, die mit der unkontrollierten Verbreitung von radioaktivem Material, aber auch nuklearen Technologien und kerntechnischem Know how entstehen. Gerade die aktuellen Entwicklungen z.B. in Iran, Nordkorea oder Pakistan verdeutlichen eindrücklich, wie sich diese Probleme verschärfen können.

Die jüngsten Vorfälle in deutschen, schwedischen und anderen Kernkraftwerken unterstreichen die Komplexität des Gefahrenpotenzials. Sicherheit von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische Herausforderung – es ist beunruhigend, dass es für einige  Störfallabläufe der Vergangenheit noch keine befriedigenden technischen Erklärungen gibt – sondern hat auch eine starke soziale und kulturelle Dimension. Wenn es möglich ist, dass trotz aller Prozeduren und Zertifizierungen bestimmte Sicherheitskomponenten schlicht vergessen werden (und sei es nur in periphere Anlagen wie Transformatoren), dann stellt dies doch ein sehr deutliches Indiz für die gravierenden Sicherheitsprobleme der Kernenergie dar.

Mehrwert versus Risiken der Kernenergie

Dies sind fundamentale Gründe gegen die Kernenergie. Aber wie sieht es mit ihrem Mehrwert aus? Ist sie wirklich eine so billige Energiequelle, die langfristig ohne nennenswerte Ressourcenprobleme genutzt werden kann und darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur weltweiten Minderung der Kohlendioxid-Emissionen leisten kann? Und wie ist die Debatte um die Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke einzuordnen?

Kernenergie ist zweifelsohne eine CO2-arme Stromerzeugungsoption, ihr Beitrag zur weltweiten Senkung der CO2-Emissionen bleibt jedoch gering. Um nur 10 Prozent der bis zur Mitte des Jahrhunderts notwendigen Emissionsminderungen zu erzielen, müsste die installierte Leistung an Kernkraftwerken in den nächsten Dekaden verdreifacht werden. Angesichts des überalterten Kernkraftwerksbestandes und der auch langfristig fehlenden industriellen Basis für Neubauten bedürfte es bereits riesiger Anstrengungen, um den heutigen Bestand langfristig zu sichern. Für einige Großkomponenten sind heute und für die nächsten Jahre und Jahrzehnte die Produktionskapazitäten so begrenzt, dass eine breite Renaissance der Kernenergie schon an den Herstellerkapazitäten scheitern würde.

Vor diesem Hintergrund werden die entscheidenden Beiträge zur Überführung der weltweiten Energieerzeugung in ein CO2-freies System über eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz und einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, ergänzt eventuell um Kraftwerke mit CO2-Abscheidung und -Ablagerung, erbracht werden müssen. Die dafür notwendigen bzw. absehbaren technologischen Fortschritte und Kostensenkungen sind so groß, dass sie auch die Kernenergie obsolet werden lassen. Im Gegenteil: Eine weitere Fixierung auf die Kernenergie würde den Durchbruch der wirklichen Alternativenergien (Stichworte Infrastruktur und Kapitalbindung) eher behindern.

In der kurz- bis mittelfristigen Perspektive bleibt aber auch darauf hinzuweisen, dass der regulative Rahmen der Klimaschutzpolitik zusätzliche Klimaschutzbeiträge der Kernenergie illusorisch werden lässt. Mit der (in Europa bereits vollzogenen und in anderen OECD-Staaten bevorstehenden) Einführung von Emissionshandelssystemen wird die Gesamtmenge der zulässigen Emissionen verbindlich begrenzt. Ein Längerbetrieb oder ein Ausbau von Kernkraftwerken würde es anderen Emittenten erlauben, entsprechend mehr Treibhausgase in die Atmosphäre freizusetzen. Dies ist insbesondere dann ein Problem, wenn man die Kernenergie als „Übergangsoption“ betrachtet und ihr langfristig keine Rolle mehr einräumt. Mit dem (Weiter-)Betrieb von Kernkraftwerken können für diesen Fall im Rahmen eines Emissionshandelssystems sogar klimapolitisch kontraproduktive Anreizwirkungen ausgehen (kurzfristige Senkung der CO2-Preise und damit Minderung der Anreize zur Entwicklung alternativer Klimaschutzoptionen).

Kernkraft ist zudem auch keine robuste Klimaschutzoption. Ein größerer Unfall irgendwo auf der Welt würde die Option Kernenergie zweifelsohne und sehr kurzfristig aus dem Portfolio der Emissionsminderungsmaßnahmen herausfallen lassen.

Auch die Frage der Ressourcenbasis für die Kernenergie bildet eine entscheidende Größe. Die Diskussion um die sicher verfügbaren bzw. bei verschiedenen Kostenniveaus erwartbaren Rohstoffvorräte ist vielschichtig und komplex. Für die Entwicklung der nächsten Reaktorgenerationen (der sogenannten Generation IV) wird unterstellt, dass eine Wiederaufarbeitung von Reaktorbrennstoffen und damit der Einstieg in eine umfassende Plutoniumwirtschaft aus Gründen der Rohstoffverfügbarkeit bzw. der Rohstoffkosten unausweichlich werden. Die Komplexität, die Risikopotenziale und vor allem die Proliferationsgefahren der Kernenergie würden auf einem solchen Entwicklungspfad gravierend zunehmend.

Zur Kostenfrage der Kernenergie

Die Kosten der Kernenergie sind seit Beginn ihrer kommerziellen Nutzung ständig gestiegen, gerade mit Blick darauf ist die Kernenergie eine „Ausnahmeerscheinung“. In den Wirtschaftsregionen mit halbwegs transparenten Märkten werden fünf Dekaden nach Beginn der Kernkraft-Ära bereits wieder eine Vielzahl verschiedenster Subventionen für Kernkraftwerke diskutiert und geplant. Und das auch vor dem Hintergrund, dass viele Staaten mit der Einführung von Klimaschutzpolitiken (z.B. über den Emissionshandel) die Strompreise nicht unerheblich erhöht haben bzw. dieses planen. Damit verbessert sich die wirtschaftliche Situation der CO2-armen Kernenergie nicht unerheblich. Die Kernenergie profitiert schließlich auch von der Tatsache, dass selbst im besten Fall die Betreiber der Kernkraftwerke nur mit vergleichsweise geringen Geldbeträgen (in Deutschland 2,5 Milliarden Euro, in vielen anderen Staaten eher im Bereich von Millionen) Vorsorge für die Folgen schwerer Unfälle treffen müssen. Sie würden damit maximal ein Tausendstel der erwartbaren Schäden abdecken.
Gerade in den wettbewerblich organisierten Strommärkten zeigt sich zudem, dass die Größenordnung und die Dynamik der Strompreise keineswegs vom Anteil der Stromerzeugung in Kernkraftwerken dominiert werden. Sowohl die praktischen Erfahrungen aus den letzten Monaten und Jahren als auch Modellanalysen zeigen sehr deutlich, dass z.B. Laufzeitverlängerungen für Kernkraftwerke keine bzw. nur marginale und teilweise nicht einmal richtungssichere Effekte auf die Strompreisniveaus haben. Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken dienen damit vor allem den Zusatzprofiten der Betreiber und kommen gerade nicht den Stromkunden zugute. Die erheblichen Summen, um die es geht, ein bis zwei Millionen Euro Reingewinn für jeden zusätzlichen Betriebstag, erklären dann auch die Interessen hinter den aktuellen Kampagnen zur Laufzeitverlängerung in Deutschland.

Zur angeblichen Untersetzbarkeit der Kernenergie

Schließlich bleibt auf die Wechselwirkungen zwischen der klimapolitisch notwendigen, grundlegenden Umgestaltung des Energiesystems und der Wirtschaftlichkeit der Kernenergie hinzuweisen. Hier wird der letzte Mythos der Kernenergie deutlich, ihre angebliche Unersetzbarkeit zur Deckung des „Grundlastbedarfs“. Eine klimafreundliche Umgestaltung des Energiesystems macht – unabhängig von der Kernenergiefrage – erhebliche Anteile fluktuierender Stromerzeugungsoptionen wie Wind- oder Sonnenenergie notwendig. Betrachtet man den Verlauf des Stromverbrauchs und die Erzeugung aus fluktuierenden Energiequellen zusammen, so wird zukünftig die Rolle von rund um die Uhr betriebenen Grundlastkraftwerken massiv zurückgehen – ein Trend, der bereits deutlich zu beobachten ist. Alte Kernkraftwerke werden im Jahresverlauf kürzer betrieben, für neue Kernkraftwerke gestaltet sich die Wirtschaftlichkeit aus diesem Grund noch fraglicher (was wiederum der Ruf nach Subventionen lauter werden lässt).
Kernenergie hat mehr als 50 Jahre nach Beginn ihrer kommerziellen Nutzung keine der hoch gesteckten Erwartungen erfüllt und zu einer Vielzahl von Gefährdungen und problematischen Hinterlassenschaften geführt. Verantwortungsvolle Energie- und Klimapolitik wird sich stets an der energiepolitischen Variante des kategorischen Imperativs „Nutze nur die Energieoptionen, von denen du wollen kannst, dass die gesamte Welt sie im großen Maßstab nutzt“ orientieren müssen. Die alten und neuen Mythen der Kernenergie sollten den Blick nicht darauf verstellen, dass die Entwicklung ohne Kernenergie die wirklich nachhaltige sein wird.

Dr. Felix Christian Matthes ist Forschungskoordinator Energie- und Klimapolitik beim Öko Institut e.V.

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