Gerd Rosenkranz: "Weltweit werden Reaktoren älter und störanfälliger"

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Der vom Erdbeben und Tsunami betroffene Atomkraftkomplex Fukushima, 250 km nördlich der japanischen Hauptstadt Tokio.

Foto: KEI (Quelle: Wikipedia). Dieses Foto steht unter einer Creative Commons Lizenz. Teaserfoto: Gerd Rosenkranz

14. März 2011
Heinrich-Böll-Stiftung: Sie warnen seit vielen Jahren vor den Gefahren der Atomkraft. Was empfinden Sie angesichts der Ereignisse in Japan?
 
Gerd Rosenkranz: Ich war immer überzeugt, dass sich in meiner Lebensspanne noch weitere katastrophale Atomunfälle ereignen werden – weil weltweit die Reaktoren immer älter und störanfälliger werden, weil effektiver Schutz gegen Terrorangriffe nirgends in Reichweite ist, weil Atomkraftwerke im Kriegsfall zu Zielen der gegnerischen Luftwaffe werden können usw. usf. Aber bei jedem dieser Ereignisse lernen wir neu, dass unsere Phantasie für die Vielfalt der realen Möglichkeiten nicht ausreicht. Erdbeben plus Tsunami hatte niemand auf dem Schirm, leider auch nicht die Japaner, sonst hätten sie ihre Reaktoren nicht an die Küste gebaut.     


In Japan wurde die nukleare Katastrophe durch eine Verkettung von zwei Naturkatastrophen ausgelöst. Eine solche Verkettung ist für Deutschland schwer vorstellbar. Bedeutet das, dass die Atomkraftwerke in Deutschland sicher sind?
 
Nein. Das bedeutet, dass es in Deutschland, wenn es passiert, sehr wahrscheinlich anders passiert als in Japan. Nicht mehr und nicht weniger. Deshalb ist die Forderung der Deutschen Umwelthilfe, die ältesten sieben Reaktoren sofort stillzulegen, weil sie besonders störanfällig sind, weil sie nur über hoffnungslos veraltete Notstromsysteme verfügen oder weil sie selbst den Angriff mit vergleichsweise kleinen Privatflugzeugen oder Militärjets nicht überstehen, eine Forderung zur Risikominderung. Die Forderung ist insofern halbherzig, als sie reale Machtverhältnisse in unserem Land anerkennt. Denn tatsächlich kann es auch in den jüngsten Reaktoren der so genannten Baureihe 89 geschehen, die ja auch schon über zwanzig Jahre alt sind.     


Sind die deutschen Atomkraftwerke vor Erdbeben sicher?

 
Die japanischen Atomkraftwerke waren auf die in Japan erwartbaren Erdbeben ausgelegt. Die deutschen sind es auf die in Deutschland erwartbaren. Es hat Japan nicht geholfen. Niemand weiß, ob uns nicht morgen ein Erdbeben ereilt, das schwerer ist, als die, die Menschen in unserer Region in den vergangenen hundert Jahren erlebt haben. So war es jetzt in Japan. Warum sollte es im Rheingraben nicht passieren?  


Was ist in Deutschland vorgesehen für den Fall, dass die Stromversorgung sowie die Notstromdieselgeneratoren ausfallen und die Notstromakkumulatoren leer sind?

Man wird versuchen, die Stromversorgung wieder in Gang zu setzen, bevor die Batterien leer sind. Manche Reaktoren verfügen über eigene kleine Kraftwerke – zum Beispiel Gasturbinen – die im Notfall unabhängig vom umgebenden Stromnetz die Eigenversorgung mit Strom und damit die Kühlung sicherstellen sollen. Sie müssen dann nur funktionieren. Sollte das nicht so sein, gibt es noch den so genannten anlageninternen Notfallschutz, wo die Betriebsmannschaften auch jenseits der normalen Sicherungssysteme Rettungsmaßnahmen sozusagen nach Lage durchführen können. Etwas salopp gesprochen: Dann kommt die Werksfeuerwehr und versucht zu retten, was zu retten ist.    


Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält "nach Maßgabe dessen, was wir wissen" die deutschen Kernkraftwerke weiterhin für sicher - auch nach der unerwarteten Kernschmelze in einem japanischen AKW. Sie will lediglich im Lichte der Ereignisse in Japan die deutsche Sicherheitsfrage mit den Ministerpräsidenten der Länder neu beraten. Reicht das aus Ihrer Sicht aus?

 
Das ist auch eine Art von Werksfeuerwehr, die da seit der Eskalation in Japan unterwegs ist, mit Frau Merkel, Herrn Röttgen und Herrn Mappus an der Spitze. Nicht an der Spritze. Denn alle drei haben nicht Wasser, sondern Berge von Sand dabei, die sie den Leuten in die Augen streuen wollen. Frau Merkel will erst nach einer erneuten Sicherheitsüberprüfung zur Tagesordnung übergehen. Die sollen die Bundesländer durchführen, in denen heute Reaktoren betrieben werden und die praktischerweise alle unionsgeführt sind. Deshalb macht ein Treffen mit den Ministerpräsidenten sicherlich Sinn. Man wird sehen, welche gemeinsame Sprachregelung herauskommt und dann bis zu den anstehenden Wahlen durchgehalten wird. Vermutlich wird sie die Reaktoren nicht sicherer machen. Röttgen findet es unanständig angesichts der unerwarteten Zuspitzung in Japan, in Deutschland weiter auf ausgetretenen Pfaden über die Sinnhaftigkeit von Laufzeitverlängerungen zu diskutieren. Es gebe jetzt „weltweit“ eine neue Situation, die müsse deshalb auch ganz grundsätzlich neu diskutiert werden. Man fragt sich mit welchem Ziel? Mit dem Ziel, alles beim alten zu belassen? Oder mit dem Ziel noch längerer Laufzeiten? Um kürzere soll es ja nicht gehen. Und der famose Ministerpräsident Stefan Mappus will jetzt gar keine Atomdebatte („Das ist daneben und nicht der richtige Zeitpunkt“). Der GAU in Japan mit Tendenz zum Super-GAU ist für Mappus das Zeichen, jetzt eine Debatte zu beenden, die dieses Land seit fast zwei Jahren wieder ununterbrochen führt.                


Was kann jeder einzelne tun, damit die Verlängerung der Laufzeiten rückgängig gemacht wird?

 
Jeder Einzelne muss offensiv jedem Versuch der Laufzeitverlängerer widersprechen, die Debatte über die Großrisiken der Atomenergie angesichts des manifesten Leids in Japan zu beenden, statt sie endlich zu einem Ergebnis zu führen, dass dieses Ereignis angemessen reflektiert. Wer hierzulande im Zeichen der Zeitenwende, die sich mit den glühenden oder schmelzenden Reaktoren in Fernost anbahnt, keinen Jota von seiner Position der Laufzeitverlängerung abweicht, beweist nicht höhere Moral sondern ideologische Verbohrtheit. Und große, große Sorgen vor dem nächsten Urnengang. Deshalb sollte auch jeder Einzelne zu den anstehenden Wahlen gehen und in der Kabine sein Kreuz bei Kandidatinnen und Kandidaten machen, die aus eindeutigen aktuellen Ereignissen eindeutige Schlüsse ziehen. Und danach: Stromversorger-Wechsel nicht schon wieder vergessen!


Das Interview führte Dorothee Landgrebe

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Dr. Gerd Rosenkranz, Autor "Mythen der Atomkraft: Wie uns die Energielobby hinter das Licht führt".
Promovierter Werkstoffwissenschaftler und Diplom-Ingenieur mit Fachrichtung Metallkunde, arbeitete nach einem Aufbaustudium der Kommunikationswissenschaften etwa 20 Jahre als Journalist für überregionale Tages- und Wochenzeitungen; zuletzt bis 2004 fünf Jahre als Redakteur im Hauptstadtbüro des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" mit dem Themenschwerpunkt Umwelt- und Energiepolitik. Seit Oktober 2004 ist er Leiter Politik der Deutschen Umwelthilfe e.V. in Berlin.

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