Atomkraft nach Tschernobyl und Fukushima

Rebecca Harms, Mitglied des Europäischen Parlaments für Die Grünen/EFA auf dem Symposium, 13. April 2011.
Foto: Stephan Röhl. Lizenz: Creative Commons BY-SA 2.0. Original: Flickr.

8. Juni 2011
Stefan Schaaf
Von Stefan Schaaf
Mitarbeit von Raphaela Geßele, Hernán Aguirre, Marina Khytinova

Es scheint, als würde sich die Chiffre 3/11 als Kurzbezeichnung für eine Katastrophe, die weltweit den Lauf der Dinge ändert, ebenso einprägen wie 9/11 für die fast zehn Jahre zurückliegenden Terroranschläge in den USA. 3/11, der 11. März, war der Tag des Jahrhundertbebens vor der japanischen Küste und des Tsunami, der weite Landstriche im Norden Japans überspülte und die Kühlung des Atomkraftwerks Fukushima ausfallen ließ.

Bis dahin galt die Nuklearenergie in vielen Ländern als Möglichkeit, den mit ihrem Lebensstandard wachsenden Energiehunger zu stillen. Bei uns in Deutschland wurde auch mit dem Argument, Atomkraft sei klimafreundlich, der Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung gekippt und eine Laufzeitverlängerung für die existierenden Nuklearkraftwerke beschlossen.

Nun, nach der teilweisen Kernschmelze in mehreren Blöcken des AKW Fukushima und der radioaktiven Verseuchung an Land und im Pazifischen Ozean, steht die Atomkraft als Risikotechnologie zur Disposition. Zur Disposition steht auch die Laufzeitverlängerung in Deutschland – dies sei „vielleicht auch ein Signal für eine Trendwende international“, wie Ralf Fücks vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung zu Beginn sagte.

Fukushima als Warnsignal

Zum 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl lud die Heinrich-Böll-Stiftung Expert/innen aus der ganzen Welt zu einem Symposium ein, auf dem Probleme und Perspektiven dieser Technologie von allen Seiten bewertet wurden. Den Anfang machte mit seiner Eröffnungsrede ein energiepolitischer Experte aus Japan, der dort schon länger die Energiewende propagiert: Testunari Iida, der Direktor des Instituts für Nachhaltige Energiepolitik in Tokio, schilderte detailliert und mit zahlreichen Grafiken die Lage rund um das zerstörte AKW Fukushima. Nach dem schwersten Erdbeben in der Geschichte Japans erschütterten nahezu täglich Nachbeben das Land, die die beschädigten Reaktorgebäude weiter gefährdeten. Aber auch der bestehende Schaden sei gewaltig und in seinem Ausmaß noch nicht klar abzusehen. Daten über die Strahlung in den Reaktorblöcken und auf dem Gelände seien lückenhaft, aber alarmierend. Die Reaktion des Betreibers und der Regierung auf die Katastrophe sei verspätet und chaotisch gewesen, die Nuklearexperten hätten stets ein zu optimistisches Bild gezeichnet.

Erforderlich sei nun ein internationales Konsortium, das mit der Sicherung der Reaktoren und der Bewältigung des Unglücks betraut werden müsse, forderte Iida. Diese Aufgabe werde Jahre in Anspruch nehmen, ist er überzeugt. Sein Institut habe von der Regierung gefordert, ein strategisches Katastrophen-Management aufzubauen, eine genaue Untersuchung des Unglücks einzuleiten und die Sicherheitsbestimmungen in der Nuklearindustrie zu verschärfen.

Zwar komme es in Japan in der Folge des Unglücks nun zu Stromengpässen, aber es gebe die Chance, in den kommenden Jahrzehnten die Zahl der AKWs deutlich zu verringern und spätestens bis 2050 ganz auf Nuklearenergie zu verzichten. Mit dem nötigen politischen Willen sei dies aber auch früher möglich. Die politische Kultur Japans und die institutionellen Probleme der Nuklearindustrie machten dies jedoch eher schwierig.

Weltweites Umdenken

In der anschließenden Podiumsdiskussion ging es um die Frage, inwieweit die Katastrophe von Fukushima ein „Menetekel für andere Länder darstellt“, wie es Ralf Fücks formulierte. Mycle Schneider ergänzte zunächst Iidas Ausführungen. Er sprach von einer schleichenden Katastrophe in Fukushima, denn es könne weiterhin zu schweren Komplikationen kommen, zu Bränden oder Explosionen. Es sei unklar, wo das Abklingbecken aus Block drei nach der Explosion des Gebäudes geblieben sei. Durch die Kühlung der Brennstäbe mit Meerwasser hätten sich in jedem der Druckbehälter etwa 45 Tonnen Salz angesammelt, das stark korrosiv wirke. Täglich komme es zu neuen, unerwarteten Problemen, und das bei einer unklaren Informationslage. „Man rät herum“, sagte er.

Es sei auch nicht sicher, dass das Atomunglück durch den Tsunami verursacht wurde, und nicht doch schon zuvor durch das Erdbeben. Auch Schneider befürwortete eine Task Force der besten Köpfen aus der ganzen Welt, die auch mittel- und langfristige Strategien für die Unglücksreaktoren entwickle. Er hätte dies als Initiative der europäischen Regierungen erwartet.

Wie haben die beiden großen asiatischen Länder Indien und China auf die Katastrophe reagiert? Ist auch dort die Öffentlichkeit skeptischer gegenüber der Atomenergie geworden? Praful Bidwai ist in der indischen Koalition für nukleare Abrüstung und Frieden aktiv. Er berichtete, Indien habe den Plänen von 2008 zufolge vorgehabt, die Erzeugung von Nuklearstrom von 2010 bis 2020 auf 20.000 Megawatt zu vervierfachen, bis 2030 dann noch weiter auf 66.000 MW zu steigern. Schon früher seien aber die jährlichen Planziele stets zu optimistisch gewesen, nie wurden sie erreicht. Es gab Verzögerungen, eine Verdreifachung bis Verfünffachung der Kosten für die einzelnen Projekte. Heute sind 20 Atomreaktoren am Netz, die drei Prozent des Elektrizitätsbedarfs in Indien decken. Einen Schub erfuhr die Nuklearwirtschaft in Indien 2008 durch das Abkommen mit den USA über die Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomenergie. Es hob die Beschränkungen beim Import nuklearer Technologie auf, die von der Staatengemeinschaft wegen der indischen Atomwaffentests verhängt worden waren. Gegenwärtig werden fünf „Atomkraftparks“ – so die offizielle Bezeichnung – in Meeresnähe und zwei weitere im Inland geplant. Proteste gibt es vor allem gegen das Projekt Jaitapur im Bundesstaat Maharashtra südlich von Mumbai, wo mitten in einem ökologisch sensiblen Gebiet, in dem auch noch ein moderates Erdbebenrisiko und die Gefahr von Flutwellen besteht, gegen den Widerstand der Bevölkerung sechs Reaktoren mit insgesamt 10.000 MW Leistung gebaut werden sollen.

Bidwai erläuterte, dass Indien über ein gewaltiges Potenzial an erneuerbaren Energien verfüge. Auch seien dezentrale Lösungen den Realitäten des löchrigen indischen Stromnetzes viel angemessener als Großprojekte wie in Jaitapur. Schließlich sind 100.000 Dörfer des Subkontinents überhaupt nicht ans Elektrizitätsnetz angeschlossen

Li Bo von den Friends of Nature in China sagte über die Lage in seinem Land, dass es sich „auf den Weg in eine Konsumwirtschaft von titanischen Ausmaßen“ aufgemacht habe, und dass niemand eine Idee habe, wie man diese Reise verlangsamen könne. Die schmerzhaften und tragischen Ereignisse in Japan hätten Chinas Öffentlichkeit aufgerüttelt, aber noch sei nicht klar, welche Lehren daraus gezogen werden sollten. Viele Chinesen hätten nach dem 11. März sogar Salz gehortet, da sie seinen Verzehr für einen Schutz vor Radioaktivität hielten. Immerhin: Chinas Regierung verkündete am 16. März, dass die im Bau befindlichen Nuklearprojekte überprüft werden müssten. Alle, die nicht den aktuellen Sicherheitsstandards entsprechen, sollten gestoppt werden. Auch die bestehenden Sicherheitsregeln müssten überprüft werden, und es würden keine neuen Bauanträge mehr genehmigt. Doch es halte sich die Ansicht, dass Wirtschaftsaufschwung und Armutsbekämpfung in China ohne Atomenergie nicht fortgesetzt werden könnten, trotz eines forcierten Ausbaus der erneuerbaren Energien.

Es sei deshalb sehr wichtig, die alternativen Energiestrategien anderer Länder wie Deutschland kennenzulernen, schloss Li Bo. Ralf Fücks fragte, was trotz der Risiken die Atomenergie in vielen Ländern attraktiv mache. Iida beobachtet in Japan bei der Atomenergie eine Faszination mit Hochtechnologie, die Atomexperten verhielten sich „wie Kinder mit ihren Spielzeugen“. In Indien, so Praful Bidwai, sei es hingegen ein „vulgärer Nationalstolz“, der die heimische Nuklearindustrie antreibe. Die dort dafür Verantwortlichen lebten in einer völligen Scheinwelt, wie ihre ersten Reaktionen auf Fukushima zeigten. Mycle Schneider wertete als Indiz für eine Trendwende, dass die Finanzinstitute Zweifel an der Nuklearenergie bekommen. Die Schweizer Investmentbank UBS schrieb am 4. April in einer Analyse, es sei nach Fukushima „zweifelhaft, dass selbst eine fortgeschrittene Industriegesellschaft die Sicherheit von Atomkraftwerken gewährleisten kann. Der Unfall ist der bisher schwerste Schlag für die Glaubwürdigkeit der Atomkraft.“

Panel 1a: Das Risiko der nuklearen Proliferation

Abrüstungsexperten, die sich mit den Gefahren der Weitergabe von Atomwaffentechnologie befassen, sehen die Atomenergie-Pläne sich industrialisierender Staaten mit einer gewissen Sorge, auch wenn der Atomwaffensperrvertrag (NPT) eigentlich jeder Proliferation einen Riegel vorschieben sollte. Er hat nicht verhindert, dass Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel heute Atomwaffen besitzen und der Iran sie sich möglicherweise beschaffen will. Sharon Squassoni vom Center for Strategic and International Studies setzte sich deshalb für eine Stärkung und bessere finanzielle Ausstattung der Internationalen Atomenergiebehörde ein. Auch hoffte sie, dass die ergänzenden Vertragswerke wie die über einen Atomteststopp (CTBT) und ein Ende der Produktion spaltbaren Materials für Atomwaffen (FMCT) möglichst bald in Kraft treten könnten. Trotz aller Bekenntnisse werde es daher noch Jahrzehnte dauern, bis alle Atomwaffen verschwunden sind, meinte sie. Ihre Sorge gilt den 65 Staaten, die Atomkraftwerke und zum Teil auch weitere Stufen eines Brennstoffkreislaufs (Anreicherung und Wiederaufbereitung) bauen wollen und damit die Voraussetzungen schaffen, dass weltweit mehr spaltbares Material entsteht – ohne dass es ein Endlager gäbe. Diese Länder glauben der Atomindustrie, dass Atomstrom „sauber, grün und sicher“ sei und ihre Energieversorgung verlässlich mache – in Squassonis Worten „ein Mythos“.

Otfried Nassauer kritisierte US-Präsident Obama, weil er die Proliferationsrisiken durch zivile Atomenergie erst an dritter Stelle sehe – nach der Gefahr, dass Nuklearwaffen in die Hände von Terroristen geraten und der, dass weitere Staaten sich solche Waffen beschaffen. Der Atomwaffensperrvertrag trage den Widerspruch in sich, dass man zivile Nutzung der Atomenergie nicht fördern könne, ohne die Gefahr des Baus von Atomwaffen zu erhöhen. Beides seien „siamesische Zwillinge“: Da Uran ein endlicher Rohstoff sei, habe Atomenergie auf lange Sicht nur eine Zukunft, wenn die benutzten Brennstäbe wieder aufbereitet werden, sagte Nassauer. Technisch sei zwar eigentlich mehr Sicherheit bei der Nutzung der Atomenergie und bei Atomwaffen möglich, aber die stoße auf finanzielle Schranken und die Neigung der Menschen, unangenehme Aufgaben auf später zu vertagen.

Henning Riecke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik glaubte, dass noch auf Jahrzehnte Atomkraftwerke am Netz bleiben. Er war aber nicht überzeugt, dass damit das Risiko für Proliferation dramatisch steige. Atommächte wie Indien und Pakistan seien eher durch internationale Bedrohung zu dem Entschluss gekommen, nuklear aufzurüsten. Der im NPT eingeschlagene Weg sei der einzig machbare. Es sei indes sinnvoll, die aus dem Brennstoffkreislauf herrührenden Gefahren mittels internationaler Kooperation und Kontrolle möglichst klein zu halten.

Panel 1b: Wie sicher ist sicher?

Die „verhinderbare Katastrophe“ von Fukushima – so Linda Gunter von der atomkritischen US-amerikanischen Organisation „Beyond Nuclear“ – hat viele erstmals veranlasst, sich mit der Technik eines Atomreaktors zu befassen und sich die Frage zu stellen, worin die potentiellen Gefahren seines Betriebes bestehen. Die Unfallquelle sei „schon im Konzept eines Spaltreaktors festgeschrieben“, sagte der Physiker und Philosoph Wolfgang Liebert. Ein Atomreaktor nutzt schließlich denselben Prozess wie eine Atombombe, er wird lediglich mit technischen Mitteln, durch die Steuerstäbe und eine nie unterbrochene Kühlung, so weit abgebremst, dass die Wärmeabgabe genutzt werden kann und beherrschbar bleibt. Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe formulierte es so: „Atomkraft ist die aufwendigste und gefährlichste Methode, Wasser zu kochen“. Die Welt habe seit 1972 gewusst, dass das Reaktordesign von Fukushima ein hohes Risiko des Versagens in sich trage, sagte Gunter. Auch neuere Bauweisen von Atomreaktoren ändern nicht grundsätzlich etwas an diesem Risiko, schloss Liebert. „Ich kenne kein Konzept, das völlige Sicherheit garantieren kann. Der menschliche Irrtum ist hier die Technologie selbst“.

Rosenkranz billigte den Betreibern in Deutschland grundsätzlich zu, dass sie durchaus auf Sicherheit bedacht seien. Aber es wäre mehr möglich: Er erwähnte das mehrere hundert Seiten dicke „Kerntechnische Regelwerk“ mit Sicherheitsbestimmungen, das aus den 70er-Jahren stammt. Es wurde nach dem Atomkonsens von 2002 überarbeitet, aber die neue Fassung wurde bisher nicht in Kraft gesetzt. Neu sei auch ein ganzer Wissenschaftszweig, die Probabilistik, die versucht, die Risiken von u.a. Atomunfällen in Zahlen zu fassen. Das jedoch sei „Hokuspokus“, da es immer wieder Fehlerquellen gebe, die niemand vorher in Betracht genommen hatte, wie 2007 bei dem Trafobrand im AKW Krümmel, als Rauch die Schaltwarte des Reaktors fast lahmgelegt hätte. Es gebe auch neue, früher nicht berücksichtigte Risiken, etwa die eines terroristischen Anschlags. Problematisch sei auch die durch den höheren und schwankenden Anteil an erneuerbaren Energien im Stromnetz entstehende Notwendigkeit, die Reaktoren häufiger hoch- und herunterzufahren. Dafür seien Atomkraftwerke eigentlich nicht ausgelegt, sagte Rosenkranz.

Mit 104 Atomreaktoren sind die USA das weltweit führende Land bei der Zahl der Meiler. Linda Gunter beschrieb die dortigen Kontrollmechanismen, die sich erstaunlicherweise seit 9/11 kaum geändert hätten. Die Nuklearaufsichtsbehörde NRC habe danach die Ansicht vertreten, ein Schutz der Meiler vor abstürzenden Flugzeugen sei nicht erforderlich, da ein solcher Fall einfach zu unwahrscheinlich sei. Dabei liegen in 23 US-Atomkraftwerken die Abklingbecken im oberen Teil des Gebäudes – wie in Fukushima – und könnten schon durch den Aufprall einer zweimotorigen Propellermaschine zerstört werden. Die NRC sorge sich einfach mehr um die Profitabilität der Energiekonzerne als um die Sicherheit der Bürger. Die Behörde habe als Test mehrfach angekündigte Scheinattacken von Terroristen auf Nuklearanlagen durchgespielt, wobei es in knapp der Hälfte der Versuche den Terroristen tatsächlich gelungen wäre, in die Anlage einzudringen und eine Kernschmelze herbeizuführen. Dazu komme die ganz neue Gefahr einer Cyberattacke wie durch den Computerwurm Stuxnet.

Auch in Konfliktregionen wie dem Nahen Osten verbiete sich der Einsatz von Atomkraft, sagte Gerd Rosenkranz. „Wenn dort Atomkraftwerke gebaut werden, braucht niemand mehr eine Atombombe. Dann reicht die Artillerie“, um eine Katastrophe auszulösen.

Panel 1c: Ist Atomstrom wirtschaftlich zu erzeugen?

Die Kosten für die Produktion von Atomstrom sind nicht leicht zu ermitteln, denn viele Kostenfaktoren werden in der Regel von den Betreibern nicht berücksichtigt. Der britische Nuklearexperte Stephen Thomas sagte, gewöhnlich bestimmten nur die Aufwendungen für Bau und Finanzierung sowie die Zuverlässigkeit des Betriebs, wie viel eine Kilowattstunde Strom aus einem AKW den Betreiber kosten. Die Aufwendungen für den Rückbau und die Endlagerung der Meiler und Brennstäbe fallen erst in der fernen Zukunft an und spielen deshalb in der Buchhaltung des Betreibers keine wesentliche Rolle, umso mehr aber für die öffentliche Hand. In Großbritannien müssen die Steuerzahler für den Rückbau der heimischen Meiler insgesamt bereits mit Kosten von 100 Milliarden Euro rechnen. Ungewiss sei, ob Uran bei knapper werdenden Vorräten nicht auch teurer werden wird.

Noch vor zehn Jahren wollten Betreiber AKWs für 1.000 Dollar pro Kilowatt Leistung bauen. Aktuell rechnen Experten jedoch mit 6.000 Dollar. Wegen dieser Kostenüberziehungen wurden Verträge über die schlüsselfertige Übergabe zu einem Festpreis vereinbart. Bei dem finnischen AKW-Projekt Olkiluoto-3 hat sich das als sehr schlechtes Geschäft erwiesen, denn die Kosten liegen bereits 50 Prozent über dem vereinbarten Erstellungspreis. In den USA will die Obama-Regierung den Neubau von AKWs durch Kreditgarantien in Milliardenhöhe fördern – anders werde sie niemand bauen. Auch die Hoffnung auf ein neues Design, das der Reaktoren der sogenannten „dritten Generation“, haben nicht die erhofften Kostensenkungen gebracht, sagte Thomas.

Dem widersprach der indische Energieexperte Pradeep Kumar Dadhich. Die in seinem Land errichteten AKWs würden für maximal 2.000 Dollar pro Kilowatt Leistung gebaut, und falls man mehrere baugleiche Reaktoren habe, ließen sich die Kosten noch weiter reduzieren. Thomas entgegnete, dass in Frankreich die Baukosten sich in 20 Jahren verdreifacht haben, obwohl es keine großen Unterschiede bei den dortigen 58 Reaktoren gebe. Er bezeichnete die Nuklearenergie als einzige moderne Technologie, deren Kosten mit der Zeit nicht gesunken seien. Man müsse nur die Mobiltelefonie, deren Kosten in wenigen Jahren auf einen Bruchteil gefallen seien, zum Vergleich heranziehen, um einzusehen, dass Atomkraft eine technologische Sackgasse sei. Nur mit Buchhaltungstricks und einer wesentlichen staatlichen Unterstützung sei sie überhaupt weiter wirtschaftlich zu begründen.

Dass es auch für weniger entwickelte Länder alternative Wege gibt, stellte der Thailänder Jamai Jai-In dar. 71 Prozent des thailändischen Energiebedarfs wird mit Gas gedeckt, etwa 20 Prozent mit Kohle, dazu entwickelt das Land Biomasse, vor allem Reisspreu, sowie Bioethanol als nachhaltige Energiequellen. Die Regierung plante, bis 2020 in die Atomenergie einzusteigen, hat aber nun doch Zweifel bekommen.

Panel 2a: Uran als Energiequelle

„Der Brennstoff ist das Problem“, hatte Linda Gunter in einem anderen Panel gesagt, „von dem Moment, an dem man ihn aus dem Boden holt, bis zu dem Moment, an dem er verbraucht ist und man nicht weiß, was man damit anfangen soll“. Den Risiken des Uranbergbaus war dann eine eigene Diskussionsrunde gewidmet. Seltsamerweise kommt der Wunsch nach Unabhängigkeit von Importen in der Energiedebatte immer nur beim Erdöl zur Debatte, aber nie bei der Atomkraft. Uran wird nur in wenigen Ländern der Erde kommerziell von einer kleinen Zahl weltweit operierender Unternehmen abgebaut, und zwar vor allem in Kanada, Australien, Kasachstan, Niger, Russland, Namibia und Südafrika, und oft sind die Abbaugebiete Lebensräume der indigenen Bevölkerung.

Fleur Scheele vom World Information Service on Energy Uranium Project beschäftigt sich seit langem mit den Folgen des Uranabbaus in Afrika. Der Prozess der Urangewinnung erfordert große Mengen Wasser und Energie sowie den Einsatz von umweltschädlicher Schwefelsäure. In Afrika ist für die Unternehmen vorteilhaft, dass die Arbeitskosten gering sind und Umweltvorschriften selten existieren oder leicht umgangen werden können. Zwar profitieren diese Länder ökonomisch von der Tätigkeit der Uran abbauenden Unternehmen, aber dem stehen große Umwelt- und Gesundheitsprobleme entgegen: Verseuchung des Trinkwassers oder radioaktive Verstrahlung der Minenarbeiter sowie des Bodens. Zudem bleiben am Ende riesige Schlamm- und Abraumhalden mit giftigen Stoffen zurück, die vom Wind über weite Flächen verbreitet werden. In Ländern wie Namibia, wo die größte Uranmine der Welt ist, seien die Regierungsstellen den internationalen Unternehmen einfach hoffnungslos unterlegen, wenn sie versuchen, Kontrollen durchzusetzen.

Ähnliches berichtete der indische Journalist Praful Bidwai aus seinem Land, in dem ebenfalls Uran gefördert wird, wenn auch nur in kleinem Umfang wegen des sehr geringen Urangehalts im Erz. 99,9 Prozent blieben dabei als Abfall zurück, der eigentlich unter Wasser gelagert werden sollte. Doch die Abbaugegend in dem ostindischen Bundesstaat Jharkhand ist eine sehr arme Wüstengegend, die oft von Dürre, gelegentlich aber auch von Überschwemmungen heimgesucht wird. Wind und Wasser verbreiten den Abraum dann in die umliegenden Gegenden. Engagierte Ärzte haben höhere Krebsraten, mehr genetische Schäden bei Neugeborenen und eine um 15 Jahre niedrigere Lebenserwartung in der Abbaugegend registriert.

Was folgt daraus an politischen Konsequenzen? Die Bundestagsabgeordnete Ute Koczy von Bündnis 90/Die Grünen vermisst bislang die Sensibilisierung der Öffentlichkeit oder des Bundestages für diese Thematik, deshalb hat sie zwei Reisen nach Tansania organisiert, wo möglicherweise Uran abgebaut werden soll. Die Realität dort entspreche nicht den schönen Beschreibungen der Bergbaukonzerne. Die Bevölkerung in Tansania werde über die Pläne kaum unterrichtet, wenn jemand an den Plänen Kritik äußert werde er schikaniert, berichtete Koczy. Sie sei eigentlich für ein Verbot des Uranabbaus, auch wenn das in den Förderländern manchmal aus ökonomischen Gründen anders gesehen wird

Eine Initiative wie die Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft (EITI), hat sich der Frage des Urans bislang nicht angenommen. Aber an Transparenz mangelt es auch bei uns. Wer denkt, dass die Herkunft des in deutschen AKWs eingesetzten Urans nachzuvollziehen sei, irrt. Zum einen gibt es sehr viele Verarbeitungsschritte zwischen Mine und Kraftwerk, zum anderen wollen die Betreiber bzw. der Lieferant, in Deutschland vor allem der französische Konzern Areva, es nicht offenlegen. Eine Anfrage an die Bundesregierung ergab als Antwort, dass das Uran aus Frankreich und Großbritannien komme. „Und damit liegt der ganze Skandal auf dem Tisch. Wir wissen nicht, woher das Uran kommt!“, sagte Koczy, die bedauerte, dass das in Deutschland kein großes Thema sei.

Panel 2b: Wohin mit dem Atommüll?

Was ist die am wenigsten schlechte Lösung für die Entsorgung der vorhandenen hochradioaktiven nuklearen Abfälle? Diese Frage stand am Anfang dieses Panels, und nach den Worten von Dorothea Steiner, der umweltpolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, ist das die Frage, die wir uns tatsächlich stellen müssen, nachdem der Atommüll produziert wurde, aber ein Entsorgungskonzept nicht in Sicht ist. Vladimir Slivyak, Umweltexperte und Berater des russischen Parlaments, sagte: „Niemand in Russland hat eine Lösung“, wo und wie „Millionen Tonnen“ radioaktive Abfälle entsorgt werden könnten. Aber eine politische Debatte darüber habe zwischen der Regierung und Umweltgruppen begonnen.

Eigentlich sei die Frage ja, wie man den politischen Entscheidungsprozess über eine Lösung organisiere, meinte dagegen der britische Ökonom Gordon MacKerron, und zwar so, dass es politisch akzeptabel und zugleich wissenschaftlich glaubwürdig sei. Man müsse auch berücksichtigen, was man zukünftigen Generationen damit zumute. Schweden und Finnland nannte er als Beispiele für eine relativ weit vorangeschrittene Debatte.

Es wurde deutlich, wie unterschiedlich verschiedene Länder an das Problem des Atommülls herangehen. Gemeinsam ist ihnen nur, dass die Lösungsansätze unbefriedigend, kurzsichtig und allenfalls bruchstückhaft sind. Russland streitet noch um ein Gesetz, mit dem der Umgang mit gerade 30 Prozent des vorhandenen Abfalls aus sechs Jahrzehnten geregelt wird. Frankreich verlässt sich auf die Wiederaufarbeitung und hat die Frage eines Endlagers um Jahrzehnte hinausgeschoben. Die unterschiedlich hohe Abhängigkeit von Atomstrom in den Ländern der EU führt dazu, dass es beim Müll keine europäische Kooperation gibt. Selbst die Grünen sind hier dafür, dass jedes Land eine eigene Lösung für seinen Müll finden müsse. Umstritten ist auch, wie der Untergrund beschaffen sein muss, in dem der Müll sicher gelagert werden soll. Den deutschen Ansatz, ihn in Salzstöcken zu vergraben, haben andere Länder bereits wieder aufgegeben. Die katastrophalen Erfahrungen im Atommülllager Asse geben solchen Zweifeln Gewicht.

Einige der schlimmsten Irrwege wurden immerhin aufgegeben, wie MacKerron darlegte: Bis 1983 habe Großbritannien Atommüll im Meer entsorgt, und in der Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield wurden gefährliche Stoffe über Jahre provisorisch gelagert. Dort haben sich inzwischen 110 Tonnen Plutonium angesammelt, zwei Drittel der weltweit aus ziviler Nutzung entstandenen Menge. Dort erwägt man, die größte Wiederaufarbeitungsanlage, THORP, für weitere zehn bis 15 Jahre fitzumachen, was nicht weniger als vier Milliarden Pfund kostet. Slivyak sagte, in Russland habe man inzwischen 20.000 Tonnen abgebrannte Brennstäbe angehäuft, die nicht aufbereitet werden können. Wie viele flüssige radioaktive Abfälle es gebe, wisse niemand, womöglich noch mehr.

Was hat man in Deutschland daraus gelernt? Für die Grüne Dorothea Steiner gibt es zwei Konsequenzen: Erstens – wir verzichten auf Wiederaufarbeitung, denn sie hat kaum Vorteile, sondern frisst ungeheuer viel Energie und hinterlässt noch gefährlichere Abfälle. Zweitens – ein Endlager kann nur nach sorgfältiger Prüfung und mit einem Maximum an Bürgerbeteiligung bestimmt werden. Für den Briten MacKerron wäre eine Lagerung tief unter dem Meeresboden eine interessante Möglichkeit. Für ihn ist generell die relative Sicherheit, die unterirdische Salz- oder Gesteinsformationen für den angehäuften Atommüll bietet, besser, als gar nichts zu tun und die provisorischen Deponien weiter wachsen zu lassen. Slivyak dagegen plädierte für Abwarten, bis es eine gute Lösung gebe.

Panel 2c: Ist Kernfusion eine realistische und saubere Alternative?

Wer kennt die Begriffe Stellarator und Tokamak? Kaum jemand. Die Bezeichnungen für das aus den USA stammende und das sowjetische Konzept eines Fusionsreaktors spielen in der Debatte um unsere Energieversorgung keine Rolle, denn die technischen Hürden sind auch nach sechs Jahrzehnten der Forschung nicht überwunden. Frühestens 2050 soll die kommerzielle Nutzung möglich sein. Immerhin, bis 2014 soll bei Greifswald ein experimenteller Fusionsreaktor namens Wendelstein 7-X fertiggestellt sein. In Garching bei München und im südfranzösischen Cadarache entstehen Fusionsreaktoren nach dem Tokamak-Konzept. Der ITER genannte französische Reaktor sei vielversprechend, sagte Günter Hasinger (Max-Planck-Institut für Plasmaphysik), der die Kernfusion für realistisch machbar hielt. Viele der Nachteile der bisherigen Nuklearenergie spielten bei der Kernfusion keine Rolle, stimmte auch Wolfgang Liebert zu, wandte aber ein, dass das radioaktive Tritium, das bei der Fusion entsteht, ein für den Menschen höchst gefährlicher Stoff sei. Schon zwei Gramm davon reichten für eine Nuklearwaffe aus. Bei der noch langen Vorlaufzeit bis zum kommerziellen Einsatz der Kernfusion stelle sich auch die Frage, ob bis dahin nicht erneuerbare Energien weit genug ausgebaut sein werden.

Abschlusspanel: Klimaschutz ja, Atomkraft nein danke – geht das?

Atomkraftbefürworter führen immer wieder in die Debatte, dass Atomkraft eine klimafreundliche Form der Energie sei. Gibt es auch Szenarien ohne Kohle und ohne Atomkraftwerke? Szenarien möglichst, die auch für sich entwickelnde Länder machbar sind? Tobias Münchmeyer von Greenpeace sagte, dass die Serie von drei schweren Nuklearunfällen seit 1979 sich keinesfalls fortsetzen dürfe. Er sprach von einer notwendigen technologischen Umwälzung, einer Revolution, um zu einer Wirtschaft mit 100 Prozent erneuerbaren Energien zu kommen. Greenpeace hat gerade seinen Plan veröffentlicht, wie in Deutschland ein Atomausstieg bis 2015 und ein Ausstieg aus der Kohle bis 2040 möglich wären. Dies sei „der Plan, und nicht mehr der Plan B“, sagte Münchmeyer. Möglich sei er, weil jetzt schon 62 Prozent der Investitionen im Energieanlagensektor in erneuerbare Energien fließen – möglich ist dies geworden dank politischem Willen und politischem Druck.

Eine globale Energierevolution brauche gleichfalls politischen Druck – und internationale Zusammenarbeit, sagte Pradeep Kumar Dadhich. Indien beweise, dass man mit relativ geringem Pro-Kopf-Ausstoß von Kohlendioxid (1,45 t pro Jahr gegen rund 10 t in Deutschland) hohe Wachstumsraten erzielen könne. Statt Kohle und Gas könnte in Indien Sonnenenergie und Biomasse einen großen Beitrag zur Energieversorgung leisten.

Auch die Europäische Union debattiert nach Fukushima über die Verantwortbarkeit der bislang überwiegend positiv beurteilten Nuklearenergie, sagte Rebecca Harms, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament. Sie wehrte sich gegen die These der Atomkonzerne, dass ein Atomausstieg die Klimaschutzziele gefährde. Eine ehrgeizige Klimapolitik sei in Brüssel schon in den letzten Jahren aufgegeben worden, stattdessen halte man am alten Energiemix fest. Erst ab 2030 seien die Technologien in ausreichendem Maß verfügbar, die eine kohlenstoffarme Energieversorgung ermöglichten, heißt es in der Energie-Roadmap der EU. Zu diesen Technologien gehören auch Atomkraft und saubere Kohle. Alle Szenarien aus dem Lager der Atomgegner zeichneten ein anderes Bild. Immerhin zwölf EU-Mitgliedsstaaten betreiben keine Atomkraftwerke. Die EU könnte ein klares Signal setzen, indem sie die strengsten aktuell möglichen Sicherheitsstandards als verpflichtend setzen würde, oder indem sie verlangt, AKW-Neubauten nur mit nachgewiesener Entsorgung der Abfälle zu genehmigen.

Der frühere tschechische Umweltminister nannte vier wesentliche Barrieren für eine sinnvolle Energiepolitik der EU: Es gebe 27 einzelne Energiepolitiken; das Stromnetz sei veraltet und müsste eigentlich bis 2020 für etwa 200 Milliarden Euro auf den heute nötigen Stadt gebracht werden; es sei noch nicht gelöst, wie die schwankende Stromerzeugung der erneuerbaren Energien aufgefangen werden könne; dazu brauche man Speichertechnologien und intelligente Stromnetze. Dadhich sagte, die in Europa gestellten Anforderungen an ein Stromnetz könnten auf sein Land, Indien, nicht übertragen werden. Es sei gar nicht sinnvoll, ein einheitliches Netz in ganz Indien zu haben. Dort seien lokale Netze oft viel sinnvoller. Außerdem brauche man Geräte, die mit starken Schwankungen der Volt- und Hertz-Zahlen umgehen können.

Münchmeyer sagte, Atomkraftwerke seien nicht mit erneuerbaren Energien kompatibel, da AKWs nicht auf häufig wechselnde Leistungen ausgelegt seien, sondern auf Dauervolllast. Es bringe enormen Verschleiß und auch Risiken, wenn man die Meiler häufig herauf- und herunterfahren wolle.

Rebecca Harms erinnerte an die Haltung des vorherigen EU-Energiekommissars Andris Piebalgs, der sehr viel stärker für eine Entflechtung von Netzbetreibern und Energieerzeugern eingetreten war als sein Nachfolger Günther Oettinger und die Bundesregierung. Die Entflechtung sei aber notwendig für die Energiewende, was auch der norddeutsche Energieversorger EWE, der größte nach den großen vier Stromkonzernen, beispielhaft fordere. Wie dann ein „intelligentes Netz“ aussehen könne, sei noch nicht klar und müsse vor Richtungsentscheidungen in Brüssel gründlich erforscht und diskutiert werden. Sie hofft, sagte sie zum Schluss der Debatte, dass es in Deutschland zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens über einen unumkehrbaren Atomausstieg in absehbarer Zeit komme. Das sei das wichtigste Signal, das Deutschland an seine Partner in der Europäischen Union senden könne. 

Dossier

Tschernobyl 25 – expeditionen

Am 26. April 1986 explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Nicht nur Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands wurden verstrahlt. Die radioaktive Wolke überzog halb Europa. Die Katastrophe war aber nicht nur eine ökologische. Die Entwicklung der Kultur einer ganzen Region wurde unwiderruflich gestoppt. Die Ausstellung „Straße der Enthusiasten“, Lesungen, Diskussionen und ein internationales Symposium erinnern an den GAU und fragen, ob eine weltweite Renaissance der Atomkraft tatsächlich Realität wird.

Dossier

Mythos Atomkraft

 Nach dem Atomunfall in Japan ist die Atomdebatte wieder aufgeflammt. Das Dossier liefert atomkritisches Know-How zu den großen Streitfragen um die Atomenergie.

Dieser Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz.