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Auf dem Weg zu 100 Prozent erneuerbaren Energien?

5. März 2010
Von Dr. Christian Hey
Von Dr. Christian Hey

100 Prozent erneuerbare Energien sind technisch und ökonomisch möglich, ein europäischer Verbund anzustreben.

Eine vollständige Stromversorgung mit erneuerbaren Energien ist bis 2050 technisch und ökonomisch möglich. Eine solche Wende lässt sich vereinbaren mit der Sicherheit der Versorgung, sie ist wirtschaftlich und umweltverträglich. Eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien ist zwar auch national erreichbar, ein regionaler oder europäischer Verbund (insbesondere mit Skandinavien) würde jedoch erhebliche Kostenvorteile schaffen.

Kostenvorteile im Verbund

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) lässt zurzeit verschiedene Szenarien einer vollständigen Stromversorgung mit dem regional disaggregierten Energiemodell ReMix durch die deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft und Raumfahrt (DLR) berechnen. Die bisherigen Ergebnisse:

  • Eine vollständig nationale Versorgung mit regenerativer Energie kann auf der Basis von vor allem Wind- und Sonnenenergie unter Einbeziehung moderater Speicherkapazitäten (Pumpspeicher und Druckluft) gewährleistet werden.
  • Das Potential an erneuerbaren Energien übersteigt in Deutschland und vor allem in Europa die voraussichtliche Nachfrage bei weitem: Im europäisch-nordafrikanischen Raum steht einer Nachfrage von maximal 6.000 Terrawattstunden (TWh) ein Potenzial von etwa 140.000 TWh gegenüber. Bei Erzeugungskosten von weniger als 5 Cent pro Kilowattstunde (kWh) lassen sich bereits über 70.000 TWh erzeugen. Am kostengünstigsten ist die Erzeugung von Windenergie auf den Meeren sowie die Fotovoltaik in Regionen mit hoher Sonneneinstrahlung.
  • Einsparungen erleichtern den Übergang zur regenerativen Vollversorgung: Je geringer die Nachfrage nach Elektrizität ist, desto kostengünstiger ist erneuerbare Energie.
  • Je größer der Verbund der Erzeuger ist, desto günstiger wird eine regenerative Vollversorgung: Nach bisherigen Modellen wird für eine Nachfrage von 500 bis 700 TWh eine rein deutsche Versorgung (Autarkie) relativ teuer. Bereits durch einen regional begrenzten Verbund (Deutschland, Skandinavien) können die Kosten der Vollversorgung auf etwa sieben Cent/kWh gesenkt werden. Ein europäischer Verbund verspricht weitere moderate Kostensenkungen. Verbundlösungen senken insbesondere die Kosten für Speicherenergie.
  • Insgesamt liegen die Kosten einer regenerativen Vollversorgung im Jahre 2050 unter denen eines Energiemixes (Atomkraft, CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS), erneuerbare Energien).

Politische Strukturen für erneuerbare Energien

Die EU bietet Chancen für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Es sind aber erhebliche verfassungsrechtliche und politische Hürden zu überwinden.

Das Energie- und Klimaschutzpaket vom Dezember 2008 markiert – trotz vieler berechtigter Kritik im Detail – einen Sprung in der Europäisierung dieser Fragen. Neuere Strategiepapiere der Europäischen Kommission, die eine europäische Dekarbonisierung bis 2050 ankündigen, versuchen diesen Ansatz weiter zu vertiefen. In der Richtlinie für erneuerbare Energien von 2009 ist vorgesehen, dass bis 2020 den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung auf etwa 35 Prozent zu steigt.

Hürden im EU-Vertrag

Zugleich sind aber die Hürden nicht zu übersehen. Der Lissabon-Vertrag enthält zwar erstmals ein Energiekapitel, dieses bekräftigt aber eher noch die geringen Kompetenzen der EU in Fragen der Energiepolitik. Auch in Zukunft müssen umweltpolitische Maßnahmen, die die Energieträgerwahl der Mitgliedsstaaten erheblich beeinflussen, einstimmig beschlossen werden. Die Umwelt- und Klimapolitik wird weiterhin ein wesentlicher Treiber der energiepolitischen Integration der EU bleiben müssen. Auf den Umwelttitel (Artikel 192, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) gestützte Maßnahmen sind dabei grundsätzlich auch möglich, wenn sie die nationale Energieträgerstruktur erheblich beeinflussen. Hier sind die Schranken des neuen Energietitels nach Artikel 194 AEUV strenger gefasst.

In der EU gibt es noch keine mehrheitsfähige Koalition, die das Fernziel einer regenerativen Vollversorgung unterstützt. In der Kommission und bei vielen Mitgliedsstaaten herrscht die Vorstellung eines Energiemix vor, der aus emissionsarmen Energieträgern (Atomkraft, Kohlekraft mit CCS, erneuerbare Energien) bestehen soll. Momentan werden noch all diese Optionen gleichermaßen gefördert. Der Widerspruch zwischen einem flexiblen, auf erneuerbaren Energien aufbauenden Energiesystem und den relativ unflexiblen traditionellen Kraftwerksstrukturen wird in der EU bisher eher zu Ungunsten der erneuerbaren Energien ausgelegt.

Zum politischen Weg

Politisch sollte die EU, um 100 Prozent erneuerbare Energien zu erreichen, auf eine „sukzessive Selbstbindung“ setzen. Dadurch werden Ausbauziele, nicht aber notwendigerweise die Instrumente festgelegt. Europaweit vorangetrieben werden muss der Ausbau der Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ).

Eine Politik der sukzessiven Selbstbindung formuliert allgemeine Grundsätze und Ziele so, dass hieraus schrittweise bestimmte konkrete Maßnahmen folgen. So kann aus dem Ziel, bis 2050 eine kohlenstofffreie Energieversorgung zu erreichen, geschlossen werden, dass dazu ein hoher Anteil erneuerbarer Energien notwendig ist. Die Umsetzung kann schrittweise erfolgen, schließt aber spätere, radikalere Lösungen nicht aus.

Emissionshandel verbessern

Der Emissionshandel muss weiterentwickelt und strengere, langfristige Begrenzungen von Emissionen müssen erfolgen, damit  konventionelle Kraftwerke effektiver eingesetzt werden können. Der Emissionshandel alleine schafft keine hinreichenden Anreize, erneuerbare Energien auszubauen, und bremst auch nicht hinreichend den Neubau konventioneller Kraftwerke. Ein Instrumenten-Mix ist daher erforderlich.

Eine besondere Rolle kommt der EU beim Aufbau von hochleistungsfähigen Fernverbindungen (HGÜ) zu. Diese Fernverbindungen bilden eine technisch neue Infrastruktur und werden die vorhandenen Netze und Schnittstellen überlagern. Eine vorrangige Bedeutung wird dabei dem Ausbau der Netze im Nordseeraum zukommen, insbesondere auch um die norwegisch-schwedischen Kapazitäten an Pumpspeichern zu nutzen.

Von großer Bedeutung ist es, die Rolle staatlicher Akteure zu stärken, besser zu planen und angemessene Investitionsanreize zu schaffen. Eine vorrangige Bedeutung als zukünftiges "europäisches Power House" wird dabei dem Ausbau der Netze im Nordseeraum zukommen, insbesondere auch um die norwegisch-schwedischen Potenziale an Pumpspeicherkapazitäten nutzen zu können.

Strategische Planung der Stromnetze 

Die Netzplanung spielt dabei eine Schlüsselrolle. In Zukunft werden die Zehn-Jahrespläne von ENTSO-E (European Transmission System Operators) die nationalen Pläne der Netzbetreiber koordinieren. Es wird darauf ankommen, diesen Planungsprozess strategischer, das heißt stärker ihn stärker auf erneuerbare Energien auszurichten. Pionier eines solchen Ansatzes ist die regionale Vereinigung der skandinavischen Netzbetreiber NORDEL.

Der Ausbau der Stromnetze findet vor allem in regulierten nationalen Märkten statt. In Deutschland gibt es dabei Konflikte zwischen den rechtlich geregelten Anpassungs- und Anschlusspflichten für den Ausbau der erneuerbaren Energien und einer primär auf Kostenminimierung ausgerichteten Regulierung der Netze. Dies führt zu Verzögerungen und macht Investitionen unsicher. Solche Probleme verstärken sich noch auf Ebene der EU.

Mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien wird es unausweichlich werden, die Möglichkeiten der direkten Mitgestaltung durch die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die neue Agentur der Regulierungsbehörden zu stärken. Es muss hier strategischer geplant und stärker öffentlich finanziert werden. Dies alles sollte in eine Neugestaltung des Trans-Europäisches Energienetzes (TEN-E) münden, das eine Form bekommen muss, die auf das hohe Wachstum der erneuerbaren Energien ausgelegt ist.

Dr. Christian Hey, SRU/EEAC, Generalsekretär, Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)

Das Webdossier versammelt zum Teil kontroverse Beiträge von Expertinnen und Experten, die an der Konferenz teilnahmen. Die in den Beiträgen vertretenen Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Sicht der Heinrich-Böll-Stiftung wider.

Dossier

Europäische Energiepolitik

Der Abschied von Kohle, Öl, Gas und Atomkraft ist machbar. Der Übergang ins Zeitalter der Erneuerbaren Energien muss politisch vorangetrieben werden. Es geht um Investitionsanreize und Zukunftsmärkte, um Energiesicherheit und Machtfragen, um technische Innovationen und gesellschaftliches Umdenken.



Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert.
Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.


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