"Beim Ausstieg tut sich die Bundesregierung schon schwer, beim Einstieg versagt sie total"

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Anti-Atom-Demo, September 2010, Claudia Roth, Renate Künast und Jürgen Trittin (v.l.n.r.), Foto: Grüne Bundestagsfraktion, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

 

20. Juni 2011
Dorothee Landgrebe
Heinrich-Böll-Stiftung: Die Bundesregierung begründet ihre Kehrtwende mit einer anderen Bewertung des atomaren Risikos seit dem Super-Gau in Fukushima. Sicherheitsverbesserungen spielen bei den Vorschlägen der Bundesregierung aber keine Rolle – wie passt das zusammen?

Jürgen Trittin: Das passt überhaupt nicht zusammen. Die sofortige Stilllegung der sieben ältesten AKW und Krümmel – also der acht unsichersten Reaktoren – geht zwar in die richtige Richtung und schafft mehr Sicherheit. Andererseits will die Bundesregierung aber verbergen, was für einen Riesenfehler sie gerade in Sachen Sicherheit im vergangenen Herbst gemacht hat. Deshalb drückt sie sich davor, die Verwässerung der Sicherheitsanforderungen, die sie im Zuge der Laufzeitverlängerung ins Atomgesetz geschrieben hat, jetzt zusammen mit ihr zurück zu nehmen.

Um die Netzstabilität im Winter zu gewährleisten soll eines der Kraftwerke, die nach dem Moratorium nicht wieder ans Netz gehen, noch bis Frühjahr 2013 als Reservekraftwerk zur Verfügung stehen. Die Grünen kritisieren die Pläne der Bundesregierung zu einer solchen so genannten „Kaltreserve“. Nehmen Sie die Versorgungssicherheit ernst genug?

Diese „Kaltreserve“ ist ökonomisch und technisch Unsinn. Erstens wird die Spitzenleistung lediglich 15 Stunden im Jahr nachgefragt, das ist der Zeitraum, in dem eine zusätzliche Kaltreserve überhaupt benötigt werden könnte. Ein AKW hochzufahren, dauert aber 56 Stunden. Zweitens haben wir in Deutschland ausreichend konventionelle Kraftwerke, die als Kaltreserve genutzt werden können. Ein zusätzliches AKW betriebsbereit zu halten, kostet etwa 50 Millionen Euro pro Jahr. Das Geld kann man sparen. Nicht zu vergessen auch die Gefahr, die von einem solchen AKW ausgeht: Fukushima war auch nicht am Netz, als die Katastrophe eintrat.

Was halten Sie von dem Versprechen der Regierung, neben einer „ergebnisoffenen Erkundung in Gorleben“ ein „einheitliches Verfahren zu entwickeln, geologisch entwickelte Standorte oder alternative Entsorgungswege“ zu finden?

Das halte ich so lange für ein leeres Versprechen, wie in Gorleben weitergebaut wird und wie die Bundesregierung sich weigert, die Enteignungsklausel aus dem Atomgesetz zu streichen. Gorleben ist geologisch ungeeignet und politisch verbrannt – das muss Schwarz-Gelb endlich begreifen, dafür brauchen wir keine neuen Gutachten. Statt dafür Zeit und Geld zu verschwenden, sollten sie zügig ein Endlagersuchgesetz auf den Weg bringen, das auf den Erkenntnissen des AK End aufbaut und ein ergebnisoffenes, bundesweit vergleichendes Endlagersuchverfahren in Gang setzt.

Neben der Beschleunigung der bereits begonnenen Bauprojekte für Gas- und Kohlekraftwerke sollen bis 2020 „zusätzliche Anlagen mit einer Kapazität von zehn Gigawatt“ errichtet werden: Fördern wir mit dem Ausstieg aus der Atomkraft den Einstieg in die Kohle und gefährden unsere Klimaziele?

Die Bundesregierung hat schon im letzten Herbst im Zuge der Laufzeitverlängerung den Ausbau der Erneuerbaren Energien ausgebremst, indem sie das Ziel für 2020 auf 35 Prozent heruntergeschraubt hat. Jetzt will sie – gemeinsam mit der SPD – den Wiedereinstieg in die Kohle. Das zeigt: CDU/CSU, FDP und SPD sind noch nicht im Zeitalter der Erneuerbaren Energien angekommen. Wer weiterhin auf zentrale Stromerzeugung in Großkraftwerken statt auf Dezentralisierung durch die Erneuerbaren setzt, zementiert nur die Marktmacht von RWE, E.on und Co. Das ist ökonomisch und klimapolitisch der falsche Weg. Mit einer solchen Politik erreichen wir unsere Klimaziele nie. Hinzu kommt: Ab einem Anteil von 40 Prozent Erneuerbaren Energien an der Stromversorgung kann man Kohlekraftwerke nicht mehr wirtschaftlich betreiben. Die Bundesregierung ist gerade dabei, ihre nächste grandiose Fehlentscheidung in der Energiepolitik zu treffen.

Der Ausstieg aus der Kernkraft heißt auch der beschleunigte Einstieg in die Erneuerbaren Energien. Reichen die Vorschläge zur Novelle des Erneuerbaren Energien Gesetzes aus, um die Klimaziele zu erreichen und den Wegfall der Atomkraft zu kompensieren?

Den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien will die Bundesregierung ja gerade nicht. Das sieht man auch daran, dass sie einseitig auf teure Off-Shore-Windanlagen setzt und gleichzeitig den kostengünstigen und schnell zu realisierenden Ausbau der Windkraft an Land weiter behindert. Auch hier wird der zentralistische Ansatz, auf Großanlagen zu setzen, wieder sehr deutlich. Kaum haben die Landesregierungen vor allem in NRW, Baden-Württemberg und Bayern, aber auch in Hessen und Rheinland-Pfalz, ihre Verhinderungspolitik gegenüber der Windkraft beendet, erhöht die Bundesregierung die Degression für die Einspeisevergütung. Kurz gesagt: Beim Ausstieg tut sich die Bundesregierung schon schwer, beim Einstieg versagt sie total.

Was wird uns der Ausstieg aus der Atomkraft und der Einstieg in die Erneuerbaren Energien realistisch kosten? Welche Belastungen kommen auf die Konzerne, die VerbaucherInnen und die Unternehmen zu?

Dass die Erneuerbaren Energien Strom massiv teurer machen, ist ein Gruselmärchen der Atom- und Kohlekonzerne. Alle Experten sind sich einig, dass die Erneuerbaren Energien langfristig zu sinkenden Strompreisen führen werden. Kurz- und mittelfristig sind die Preissteigerungen moderat, das sagt sogar der BDI. Er prognostiziert bis 2020 einen Anstieg von 0,75 Cent pro Kilowattstunde für die Privathaushalte und von 0,6 Cent für die Wirtschaft. Das Bundesumweltministerium geht von 0,1 bis 0,9 Cent aus. Im Vergleich dazu kommt uns das Oligopol der vier großen Stromkonzerne in Deutschland weitaus teurer zu stehen. Der Strompreis ist allein in den letzten Dekade um acht Cent gestiegen, vor allem mangels Wettbewerb auf dem Markt.

Die Gewerkschaften mahnen eine soziale Ausgestaltung der beschleunigten Energiewende an. Wie könnte eine solche aussehen?

Die Bundesregierung will die Wirtschaft weitgehend von der EEG-Umlage frei stellen. Das ist das Gegenteil einer sozialen Ausgestaltung der Energiewende, weil dadurch die Strompreise für die Bürger stärker steigen werden. Das darf nicht passieren. Wichtig ist auch, dass die Hartz-IV-Sätze regelmäßig an die Energiepreisentwicklung angepasst werden. Bei der energetischen Gebäudesanierung muss darauf geachtet werden, dass sozial Schwache nicht verdrängt oder über Gebühren belastet werden.

Wie schätzen Sie die Stimmung in der Partei ein. Wird es eine Zustimmung zu den Beschlüssen geben?

Der Bundesvorstand wird den Delegierten einen Leitantrag vorlegen, der deutlich macht, was die 180-Grad-Wende der Bundesregierung ist: Ein historischer Sieg der Anti-AKW-Bewegung und der Grünen. CDU/CSU und FDP, die mit einem klaren Pro-Atom-Kurs in die letzte Bundestagswahl gezogen sind, erleiden zwei Jahre später ihre endgültige Niederlage. Sie müssen die Laufzeitverlängerung zurücknehmen, sie müssen die acht unsichersten Reaktoren dauerhaft abschalten und sie müssen ihren jahrzehntelangen Widerstand gegen den Atomausstieg ein für allemal aufgeben. Dagegen kann kein Grüner sein. Auf der anderen Seite macht der Leitantrag unsere massive Kritik am Totalversagen der Bundesregierung beim Einstieg in die Erneuerbaren Energien und am Ausklammern wichtiger Fragen – Stichworte Sicherheit und ergebnisoffene Endlagersuche - sehr deutlich. Und wir bekennen uns sehr klar dazu, gemeinsam mit der Anti-AKW-Bewegung weiter für den Atomausstieg zu kämpfen, bis das letzte AKW abgeschaltet und Gorleben rückgebaut ist – in den Parlamenten genauso wie auf den Straßen und vor den Toren der Anlagen. Auch bei diesem Teil des Antrags kann ich mir kaum vorstellen, dass das jemand anders sieht.

Das Interview führte Dorothee Landgrebe

 
 

Übersicht der Interviews zur beschleunigten Energiewende

Am 6. Juni hat das Kabinett die Beschlüsse für eine beschleunigte Energiewende vorgelegt. Nach dem aktuellen Fahrplan sollen die zugrunde liegenden sieben Gesetzesentwürfe bis zur Sommerpause am 8. Juli durch den Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden. Am Samstag, den 25 Juni entscheiden Bündnis 90/die Grünen auf einem Sonderparteitag, ob sie den vorliegenden Beschlüssen zustimmen werden.

Wir werden in den nächsten Wochen Experten, Politiker und Verbandsvertreter zu diesem umfangreichen Gesetzespaket befragen, um die Folgen für die Wirtschaft, die Umwelt, die Bürger/innen und die Beschäftigten auszuloten.

 
 
 

Dossier

Mythos Atomkraft

 Nach dem Atomunfall in Japan ist die Atomdebatte wieder aufgeflammt. Das Dossier liefert atomkritisches Know-How zu den großen Streitfragen um die Atomenergie.
 
 
 
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