Atomwaffen und Atomenergie – Siamesische Zwillinge oder doppelte Null-Lösung?

30. September 2010
Otfried Nassauer
Beitrag aus der Publikation: Schriften zur Ökologie, Band 12: Mythos Atomkraft - Warum der nukleare Pfad ein Irrweg ist

Die Weiterverbreitung atomarer Materialien und Technik gehört zu den wichtigsten Themen der Sicherheitspolitik. Damit gewinnen auch Risiken an Bedeutung, die aus der zivilen Nutzung der Nukleartechnik erwachsen. Die militärische und die zivile Nutzung der Kerntechnik sind technologisch eng verwandt und verbunden. Aus zivilen Anwendungen der Nukleartechnik können Wissen, Material und Technologie gewonnen werden, die auch für militärische Nuklearprogramme verwendbar sind. So hat z.B. das irakische Beispiel deutlich gemacht, dass ein Land ein militärisches Atomprogramm unter dem Deckmantel einer zivilen Nutzung vorantreiben und lange vor der IAEO verbergen konnte.

Der Beitrag „Atomwaffen und Atomenergie – Siamesische Zwillinge oder doppelte Null-Lösung?“ von Otfried Nassauer – gibt einen Überblick über die zivilen und die militärischen Nutzungsmöglichkeiten der Kerntechnik und deren Risiken, die Nichtverbreitungsbemühungen und deren Grenzen. Er argumentiert, dass eine breitere zivile Nutzung der Atomenergie kaum ohne wachsende Proliferationsrisiken zu haben ist.

Vielfältige Proliferationsrisiken ziviler Nuklearprogramme
Nassauers erster Blick gilt den Proliferationsrisiken ziviler Nuklearprogramme, deren Technologie auch genutzt werden kann, um an Nuklearmaterial für den Bau von atomaren Bomben zu kommen, hochangereichertes Uran oder Plutonium. Die Urananreicherung kann genutzt werden, um leicht angereichertes Uran für die Brennelemente von Reaktoren zu gewinnen, aber auch, um hoch angereichertes Uran zu gewinnen, aus dem Atomwaffen gebaut werden können. Der Unterschied ist gradueller, nicht grundsätzlicher Natur. Etliche Reaktortypen erlauben sowohl die Gewinnung nuklearwaffenfähigen Plutoniums als auch die Produktion von Strom. In Wiederaufbereitungsanlagen kann Waffenplutonium ebenso abgetrennt werden wie nicht ganz so waffentaugliches Reaktorplutonium. Atomare Technologien, das entsprechende Wissen und nukleares Material können zudem weitergegeben werden. Nuklearexperten können reisen oder auswandern.

Risiken durch staatliche und nichtstaatliche Akteure
Der zweite Blick gilt dem „Bedarf“ staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, die Nuklearwaffen anstreben könnten, sowie den Möglichkeiten, diesen Bedarf zu decken und sich Zugang zu nuklearem Material, nuklearer Technologie und nuklearem Wissen zu verschaffen. Staaten, die über einen entwickelten nuklearen Brennstoffkreislauf mit Kerntechnologien wie Anreicherungs- oder Wiederaufbereitungsanlagen oder bestimmte Reaktortypen verfügen oder künftig verfügen wollen, stellen das markanteste Risiko dar. Zivile Atomprogramme können bei der Proliferation sowohl als Deckmantel als auch als Technologie-, Material- und Wissenslieferanten für militärische Programme eine wichtige Rolle spielen. Mit den vorhandenen Sicherheits- und Exportkontrollen gelang es nicht immer, den Übergang von einem zivilen zu einem militärischen Atomprogramm rechtzeitig zu entdecken und zu verhindern. Fazit des Autors: Das Konzept, die Proliferation von Nukleartechnologie für militärische Zwecke zu verhindern, aber gleichzeitig die Nutzung ziviler Atomenergie zu fördern, steckt in einer tiefen Krise.

Nassauer kommt zu dem Schluss, dass das Risiko eines Terrorangriffs auf zivile Atomanlagen – weil leichter realisierbar – wohl als deutlich höher eingeschätzt werden muss, als das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes durch Terroristen, und wahrscheinlich auch als höher als das Risiko eines terroristischen Einsatzes einer schmutzigen Bombe.

Wirksamkeit der existierenden Proliferationsmaßnahmen?
Im dritten Teil gibt Nassauer einen Überblick über die Vielzahl rechtlicher und politischer Nichtverbreitungsinstrumente, die das NVV-Regime unterfüttern sollen. Betrachtet werden Rüstungskontrollverträge, Regime zur Exportkontrolle, zur Sicherheitskontrolle und zu kooperativen und konfrontativen (militärischen) Nichtverbreitungsinitiativen. Folgende Schlussfolgerungen stechen hervor: Obwohl die Nichtverbreitungsbemühungen bislang erstaunlich oft erfolgreich waren, waren sie es nicht immer. Die Instrumente zur Durchsetzung der Nichtverbreitung mussten mehrfach verbessert werden, reichen aber bis heute nicht aus, um Nichtverbreitung zu garantieren. Ursächlich dafür war u.a., dass das Nichtverbreitungsregime die militärische Nutzung der Nukleartechnik verhindern, die zivile Nutzung aber zugleich fördern soll. Fortschritte bei der atomaren Abrüstung der Nuklearmächte sind de facto Voraussetzung dafür, dass bessere Nichtverbreitungsregeln global Akzeptanz finden.

Nichtverbreitungspolitik unter Obama
Im vierten Abschnitt analysiert Nassauer deshalb die Nuklearpolitik und die multilaterale Nichtverbreitungspolitik der USA unter Barack Obama im Vorfeld der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 2010: Bieten der neue Start –Vertrag, das Ergebnis des nuklearen Sicherheitsgipfels im April 2010 und der Nuclear Posture Review (NPR), mit dem Obama eine Blaupause seiner künftigen Nuklearpolitik vorlegte – eine ausreichende Basis, um Fortschritte auch bei der Nichtverbreitung zu erzielen?

Das Urteil fällt gemischt aus. Begrüßenswert sei, dass Obama sein Versprechen eingelöst und die Rolle nuklearer Waffen in der deklaratorischen Politik, also der Sicherheitsstrategie der USA, deutlich reduziert und die negativen Sicherheitsgarantien der USA für die nicht-nuklearen Staaten deutlich erweitert habe. Positiv seien auch die Rückkehr zur vertraglich vereinbarten Rüstungskontrolle und das sichtbare Bemühen, den Multilateralismus wiederzubeleben und zu einer Stärkung des NVV-Regimes zu nutzen.

Problematisch sei dagegen, dass der NPR signalisiere, dass die USA noch auf Jahrzehnte an der nuklearen Abschreckung festhalten wollen und deshalb eine umfassende Modernisierung ihrer Nuklearwaffen und Trägersysteme planen. In Verbindung mit den begrenzten Abrüstungsschritten, zu denen der neue START-Vertrag die USA und Russland verpflichtet, sei dies wohl zu wenig Abrüstung, um im NVV-Kontext schärfere Nichtverbreitungsregeln erreichen zu können.

Ein zweites Problem resultiere aus der Architektur und Geschichte des NVV-Regimes. Obama bekenne sich deutlich zum Recht nicht-nuklearer Staaten zur umfassenden zivilen Nutzung der Atomenergie und zu der Verpflichtung, technische Unterstützung zu leisten. Dies sei vertragskonform, aber nicht unproblematisch, weil Obama zugleich die zivile Nutzung der Atomenergie in den USA und deren Nuklearexporte ausweiten wolle und darin einen positiven Beitrag zur globalen Klimapolitik sehe. Nassauer bezweifelt, dass es möglich sei, gleichzeitig Proliferation effektiv zu verhindern und auf eine verstärkte zivile Nutzung der Nukleartechnik zu setzen.

Zunahme an Proliferationsrisiken durch die zivile Atomenergie
Abschließend führt Nassauer auf, warum die Proliferationsrisiken wachsen, wenn die Zahl der Länder zunimmt, die Atomenergie zur Elektrizitätserzeugung nutzen:

  • Mit jedem Land, das sich dem Kreis der zivilen Atomenergienutzer anschließt, gibt es zusätzliche Orte, an denen nukleares Material überwacht werden muss, zusätzliche Experten und Wissenschaftler mit spezieller Ausbildung und Wissen, die beschäftigt werden wollen oder die Technik weiterentwickeln können, und zusätzliche Orte mit Einrichtungen, die durch Terroranschläge verwundbar sind.
  • Uran ist ein nur begrenzt verfügbarer Rohstoff. Je mehr Kernkraftwerke arbeiten, desto schneller wird dieser Rohstoff knapp und deshalb wird es wahrscheinlicher, dass abgebrannte Brennelemente wiederaufbereitet werden, um das Uran mehrfach nutzen zu können. Die Wiederaufbereitung ist technisch weniger anspruchsvoll als die Anreicherung und deshalb mit größeren Proliferationsrisiken verbunden, vor allem, wenn immer mehr Länder entsprechende Anlagen bauen und betreiben sollten.
  • Die Zunahme an sog. „failing states“ erhöht auch das Profilerationsrisiko: Wenn scheiternde Staaten nukleare Einrichtungen beherbergen, ganz gleich ob zivile oder militärische, dann entsteht ein eklatantes Proliferationsproblem.
  • Wenn mehr Länder die Nukleartechnik zivil nutzen, dann gibt es auf Dauer auch mehr Länder, die nukleare Technologie liefern können. Das erschwert die Realisierung wirksamer und umfassender Exportkontrollsysteme und könnte sogar bestehende Regeln wieder aufweichen.
  • Der Autor bezweifelt deshalb, dass das Nichtverbreitungsregime auch künftig ausreichend effizient gehalten werden kann, wenn der Ausbau und nicht der Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie zur längerfristigen Perspektive werden sollte.


Otfried Nassauer ist freier Journalist und Friedensforscher. Er leitet seit 1991 das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Die Schwerpunkte seiner Arbeit sind Sicherheitspolitik und internationale sicherheitspolitische Organisationen (NATO, WEU, EU, OSZE, UN), Rüstungskontrolle und -exporte, Abrüstung, Atomwaffen und Proliferation. Nassauer studierte in Hamburg Theologie. Zahlreiche Veröffentlichungen. Kontakt: www.bits.de

Den vollständigen Beitrag können Sie in unseren Schriften zur Ökologie, Band 12: "Mythos Atomkraft - Warum der nukleare Pfad ein Irrweg ist" lesen. 

Dossier

Mythos Atomkraft

 Nach dem Atomunfall in Japan ist die Atomdebatte wieder aufgeflammt. Das Dossier liefert atomkritisches Know-How zu den großen Streitfragen um die Atomenergie.