Trotz Fukushima: Polen hält an Kernkraft fest

Bauruine des Kraftwerks Żarnowiec.
Bild: Michał Kotas. Lizenz: Creative Commons BY 2.5. Original: Wikimedia Commons.

22. März 2011
Paul Flückiger, Warschau
Paul Flückiger, Warschau

Rückendeckung für Polens Atompläne ungebrochen

Von einer kritischen links-liberalen Zeitung mit Öko-Fenster bei ihrem Internet-Auftritt hätte man nach den Explosionen im japanischen AKW Fukushima gemeinhin etwas anderes erwartet als eine unhinterfragte Rückendeckung für die Atompläne der polnischen Regierung unter dem Liberalen Donald Tusk. Doch Polens meinungsführende Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ hatte Mitte voriger Woche nur Hohn und Spott für Merkel und Oettiger übrig. „Wir erliegen der Atom-Hysterie nicht“, kommentierte die einstige Dissidentenzeitung, die sich sonst immer wieder für ökologische Belange, zuletzt den Erhalt des Rospuda-Tals, einsetzt. Nach dem Erdbeben in Japan würden die Populisten vor allem in Deutschland und Österreich mit AKW-kritischen Tönen absahnen wollen. Das Ziel von Angela Merkel dabei sei in erster Linie der Gewinn der Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Noch schlimmer habe der EU-Energiekommissar Günther Oettiger mit seiner Prophezeiung einer Apokalypse verhalten, schrieb die Zeitung, dabei würden Europa weder ein Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala noch ein Tsunami drohen. Zudem würden die AKWs ja eh laufend kontrolliert. Polens Regierung habe zum Glück seine AKW-Pläne bekräftigt. Statt der Hysterie zu erliegen, habe die kühle Analyse gesiegt.

Bei der Atomkraft-Diskussion tickt Polen tatsächlich anders als die meisten „alten“ EU-Staaten. Kernenergie ist hier wie fast überall in den energetisch noch heute hochgradig von Russland abhängigen einstigen Ostblockstaaten in weiten Kreisen geradezu populär. Umfragen zeigen zwar, dass auch in Polen keine klare Mehrheit für den Bau eines ersten eigenen AKW ist, doch ist auch keine klare Mehrheit dagegen. Laut der regierungskritischen, konservativen Tageszeitung „Rzeczpospolita“ befürworten 45 Prozent der Polen ein AKW. Jedoch nur zwei Drittel von ihnen würden das Kernkraftwerk auch am eigenen Wohnort dulden. Jeder zehnte Befragte hat keine Meinung.

In Polen soll 2020 das erste AKW in Betrieb gehen

Angesichts dieser Zahlen erstaunt nicht, dass es in Polen unmittelbare nach den Explosionen in Fukushima – im Gegensatz zu Deutschland – zu keinen Anti-AKW-Märschen gekommen ist. Am vergangenen Montagmorgen bekräftige Polens Regierung dann noch einmal ihr Festhalten an den bisherigen AKW-Plänen. Demnach soll in Polen bis 2020 das erste AKW und bis 2030 ein zweites AKW in Betrieb genommen werden. „Weil wir uns so spät um einen AKW-Bau kümmern, können wir das sicherste Technikpaket übernehmen“, warb Regierungssprecher Pawel Gras im polnischen Radio. Den provisorischen Standortwettbewerb hatte vor Jahresfrist Zarnowiec in der Nähe von Danzig gewonnen. Dort hatten die real-sozialistischen Machthaber in den Jahren 1982 mit dem Bau eines AKW sowjetischen Reaktortyps begonnen. Nach der Wende und Protesten war Ende 1990 von der damaligen Regierung Tadeusz Mazowiecki ein Baustopp beschlossen worden. Die beiden betroffenen Gemeinden unterstützen jedoch heute das AKW-Projekt. „Im Moment kämpfen die möglichen Standortgemeinden um den AKW-Bau“, sagte Gras. In der Tat, bekommt Zarnowiec keinen Zuschlag, so stehen 27 weitere mögliche Standortgemeinden vor allem in Pommern und an der Oder Schlange. Die Standorte direkt an der deutschen Grenze schneiden in den Machbarkeitsstudien allerdings allesamt schlecht ab. Mit dem AKW-Bau soll frühestens 2013 begonnen werden.

Atombefürworter argumentieren mit steigendem Energieverbrauch und EU-Klimazielen

Die Befürworter des polnischen Kernkraftprogramms argumentieren mit steigendem Energieverbrauch und den EU-Klimaschutzzielen. Nur dank der AKWs könne die heutige Abhängigkeit von der Kohle für die Stromerzeugung (rund 95 Prozent, davon entfallen ein Drittel auf Braun-, der Rest auf Steinkohle) sowie die damit einhergehende schädliche CO2-Emission auf das nötige Maß verringert werden. Als Argument für den AKW-Bau muss auch die Tatsache herhalten, dass es in Polens Nachbarschaft bereits über 40 Kernkraftwerke gibt oder bald geben wird. Erst Mitte letzter Woche haben sich Russland und Weißrussland (Belarus) auf den Bau eines AKW in der Nähe der weißrussischen Stadt Grodno geeinigt. Das auf Stromexport nach Polen und Litauen ausgerichtete Kernkraftwerk soll bereits 2017 ans Netz gehen und rund 10 Prozent des polnischen Strombedarfs decken können. Auch bei Kaliningrad plant Moskau ein AKW, das Strom nach Polen exportieren soll. Dies würde die energetische Abhängigkeit Polens von Russland zwar weiter erhöhen statt sie zu begrenzen, doch mangels eigenen Stroms müsste dieser eben von den Russen gekauft werden, heißt es.

Potential für den Einsatz erneuerbarer Energien bleibt hinter Möglichkeiten zurück

Der Atomkraft gegenüber kritisch eingestellte Stimmen, wie etwa der „Polnische Ökologische Klub“, weisen dagegen auf das große Energiesparpotential in Polen hin. Experten weisen auch darauf hin, dass der Strompreis in Anbetracht der ökologischen Folgeschäden zu tief sei. Einen großen Nachholbedarf hat Polen zudem bei der Stromproduktion mit erneuerbaren Energien. Wind- und Wasserkraftwerke machen heute unter fünf Prozent der Stromgewinnung aus. Bis 2015 soll sich dieser Anteil zwar auf 15 Prozent erhöhen, doch Greenpeace sieht das Potential schon heute bei über 40 Prozent. Solche Stimmen sind in der gegenwärtigen polnischen Diskussion über die Konsequenzen von Fukushima jedoch fast nur in Nischen-Öffentlichkeiten zu vernehmen. Heftig diskutiert wurde darüber z.B. im Blog der linken Gruppierung „Krityka Polityczna“ sowie auf deren Veranstaltungen, die lange vor dem Tsunami geplant waren und sich mit Polens Energiepolitik befassten.

Die Aktivisten rund um Polens linken Vordenker Slawomir Sirakowski könnten allerdings genau richtig liegen. Die „Rzeczpospolita“ geht nämlich davon aus, dass die sich die erst zögerlich anlaufende AKW-Diskussion zu einem Wahlkampfthema mausern wird. Ende Oktober wählen die Polen ein neues Parlament.

Zehn Tage nach dem Erdbeben in Japan kam es schließlich doch noch zu einer Anti-AKW-Demonstration. Die „Pomorska Inicjatywa Antynuklearna“ (Pommersche Anti-Nuklear-Initiative) rief am Sonntag alle polnischen AKW-Gegner vor dem mittelalterlichen Grünen Tor in Danzig zusammen. An dem anschließenden Protestzug über den Langen Markt nahmen 20 Personen teil.

Paul Flückiger arbeitet seit Sommer 2000 als Osteuropa-Korrespondent in Warschau. Er ist Mitglied von weltreporter.net und schreibt unter anderem für die NZZ am Sonntag und den Tagesspiegel.

Internationales Symposium: Atomkraft nach Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011)

25 Jahre nach Tschernobyl spielt Nukleartechnologie in den energiepolitischen Strategien vieler Staaten wieder eine wichtige Rolle. Kann Atomenergie relevante Mengen an CO2 einsparen und einen Beitrag zum Klimaschutz leisten? Wo kommt der Nuklearbrennstoff her? Sind atomare Energieerzeugung und die Verbreitung von Atomwaffen voneinander trennbar? Wie werden die Meiler finanziert? Kurzum: Stehen wir vor einer „Renaissance der Atomkraft“? Welche Lehren wurden (nicht) gezogen?

Mit: Mycle Schneider, Rebecca Harms, Samai Jai-In, Vladimir Milov, Pradeep Kumar Dadhich, Stephen Tindale u.v.m.

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Mythos Atomkraft

 Nach dem Atomunfall in Japan ist die Atomdebatte wieder aufgeflammt. Das Dossier liefert atomkritisches Know-How zu den großen Streitfragen um die Atomenergie.

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