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Tschechien und Polen nach Fukushima: „Kernkraft ist sicherer als Rauchen“

Kernkraftwerk Temelín, Quelle: commons.wikimedia, Lizenz: CC BY-SA 3.0

11. April 2011
Eva van de Rakt
Eva van de Rakt

Was ist denn um Gottes Willen mit den Deutschen los? Fukushima ist doch weit weg!“ – so ein Journalist während einer von der Heinrich-Böll-Stiftung veranstalteten Diskussion in Prag. Er war außer sich vor Empörung. In seiner Frage und Aussage spiegelt sich wider, wie wenig die tschechischen Bürger die Reaktorkatastrophe im japanischen AKW Fukushima beunruhigt und wie wenig Einfluss diese Ereignisse auf den energiepolitischen Diskurs in der Tschechischen Republik haben. In Vorträgen und Artikeln behaupten Atombefürworter zynisch, dass Verkehrsunfälle, Rauchen oder der Verzehr von Giftpilzen mehr Tote zur Folge haben als ein GAU oder Super-GAU. Die Vorsitzende der Behörde für Reaktorsicherheit Dana Drábová bagatellisierte die Fukushima-Katastrophe und wirkte, so der ehemalige grüne Umweltminister Tschechiens Martin Bursík, wie die Pressesprecherin der Atomindustrie. Auch Reaktionen tschechischer Politiker zeigen: Der Glaube an die Zukunft der Atomkraft wird durch die Fukushima-Katastrophe nicht erschüttert. Atomgegnern wird Panikmache und Unwissenheit vorgeworfen. Der tschechische Premier Petr Necas betonte unmittelbar nach der Katastrophe, dass er keinen Grund sehe „irgendeiner medialen Hysterie“ nachzugeben. In Tschechien, so der Premier, drohe keine Naturkatastrophe vergleichbaren Ausmaßes. Necas warnte, dass das Abschalten von Reaktoren in Tschechien zu „wirtschaftlichen Problemen an der Grenze zur wirtschaftlichen Katastrophe“ führen würde. Die tschechische Regierung hält nach wie vor am Ausbau des AKW Temelín fest und kann dabei mit einer breiten Unterstützung der Bevölkerung rechnen. 

Welche „mediale Hysterie“?

Auch in Polen, das bis 2020 den Einstieg in die Atomkraft plant, sind nur wenige kritische Stimmen zu hören. Die polnische Vize-Wirtschaftsministerin Hanna Trojanowska gab während des EU-Energiegipfels am 16. März 2011 bekannt: „Polen ist dazu determiniert, das Kernenergieprogramm umzusetzen. In Polen stützt sich dieses Programm auf die neuesten Technologien und die höchsten Sicherheitsstandards.“ Es sei noch zu früh, Schlüsse aus den Ereignissen in Japan zu ziehen. Auch die Opposition spricht sich größtenteils für die Einstiegspläne der polnischen Regierung aus. Eine Ausnahme ist der ehemalige parteilose polnische Umweltminister Prof. Maciej Nowicki, der meint: „Ich bin über den Verlauf der Debatte in Polen empört. Zu Diskussionen und Veröffentlichungen in den Medien werden eigentlich nur diejenigen zugelassen, die sich für den Bau eines Atomkraftwerks in Polen aussprechen und die mit Argumenten um sich werfen, die für die Befürworter selbst komfortabel sind. Dabei versichern sie lügnerisch, dass die Kernenergie die sicherste Methode der Elektrizitätsproduktion sei. Und das behaupten sie vor dem Hintergrund der Tragödie in Japan, wobei Journalisten diese Aussagen nicht hinterfragen.“

Von einer „medialen Hysterie“, die der tschechische Premier so vehement ablehnt, kann weder in Polen noch in Tschechien die Rede sein. Fukushima wird in den meisten tschechischen Medien als „Krise“, nicht als „Katastrophe“ bezeichnet. So entsteht beim Leser und Zuhörer der Eindruck, dass es sich um einen Zustand handelt, der bewältigt werden kann. Der Erfolg der deutschen Grünen in Baden-Württemberg wurde in hiesigen Tageszeitungen von einigen Kommentatoren damit erklärt, dass die Grünen mit Angst gearbeitet und Panik verbreitet hätten. Unerwähnt blieb die Tatsache, dass die deutschen Grünen auch schon vor Fukushima sehr hohe Umfragewerte hatten.

In den meisten tschechischen Medien wird nicht hysterisch gegen, sondern eher einseitig für Atomkraft argumentiert. Überfordert wirkt der tschechische Premier, wenn er so tut, als verlange in Tschechien jemand von ihm, das AKW Temelín abzuschalten. Und selbst wenn man es vom Netz nehmen würde, würde Tschechien keine „wirtschaftliche Katastrophe“ drohen, da Tschechien derzeit einen Großteil der in den AKWs Temelín und Dukovany produzierten Elektrizität exportiert. Fazit: Die Panikmacher sind in Tschechien keinesfalls die wenigen, kaum hörbaren Atomgegner, sondern vielmehr die immerzu präsenten und lauten Atombefürworter.

Unausgewogene und fehlerhafte Berichterstattung

Eine Medienanalyse von Newton Media zeigt, dass die Berichterstattung über den Ausbau des AKW Temelín auch nach Fukushima keineswegs ausgewogen, geschweige denn kritisch ist. In allen tschechischen Tageszeitungen überwiegen die Argumente für den Bau neuer Reaktoren – um nur einige zu nennen: Der Ausbau sichere die Energieunabhängigkeit Tschechiens, decke den steigenden Energiebedarf und sei für tschechische Unternehmen von Vorteil. Kernenergie sei sauber, die billigste Energiequelle, ein Exportprodukt und schaffe Arbeitsplätze. Die wenigen Atomgegner, die man in der Region überhaupt antrifft, werden trotz sachlicher Argumentation gegen die Mythen der Atomkraft als realitätsfremde Spinner und Agitatoren abgestempelt.

Das deutsche Atom-Moratorium wird von Politikern und Journalisten nicht verstanden und kritisiert, da es nicht nur die deutschen, sondern auch die tschechischen Elektrizitätspreise in die Höhe treiben werde. Der größtenteils staatliche Energiegigant CEZ wiederum begrüßt das Moratorium und Stilllegen deutscher Reaktoren, da dies für das Unternehmen einen Profit durch steigende Exporte bedeute.

Warum es die Atomlobby so einfach hat

Woher kommt der blinde Glaube der tschechischen und polnischen Gesellschaft an die Zukunft der Atomkraft, der es der Atomlobby in beiden Ländern so unglaublich einfach und die Medien so auffallend einseitig macht? Warum stehen die Tschechen innerhalb der EU an erster Stelle, wenn es um die Befürwortung von Atomkraft geht? An dieser Stelle möchte ich vor allem zwei Gründe für diese breite Unterstützung nennen. Zum einen prägt die tschechische und polnische Gesellschaft bis heute der Glaube an große, zentralisierte technische Lösungen. Die kommunistische Indoktrination ließ jahrzehntelang keinen Raum für kritische Diskussionen, geschweige denn eine spontane Anti-AKW-Bewegung.

Zum anderen ist Energiepolitik nicht nur Innen-, sondern auch Außenpolitik: Man will sich in Tschechien von den deutschen und österreichischen Nachbarn nicht vorschreiben lassen, wie man die eigene (energiepolitische) Zukunft gestalten soll. Der Anti-AKW-Protest an der österreichisch-tschechischen Grenze bewirkt bisher in Tschechien immer genau das Gegenteil von dem, was die Demonstranten auf der anderen Seite erreichen wollen: Er festigt in Tschechien die breite gesellschaftliche Akzeptanz für Atomkraft und verringert die Chancen auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Daran wird Fukushima leider nichts ändern.

Auch in Polen spielen außenpolitische Kriterien beim geplanten Einstieg in die Atomkraft eine zentrale Rolle. Nach dem Aufruf von Matthias Platzeck, Polen solle nach Fukushima seine Einstiegspläne überprüfen, erklärten die Abgeordneten der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der Bau eines AKW sei in Polen wegen der fehlenden europäischen Energiesolidarität nötig. Als Beispiel wurde das russisch-deutsche Projekt der Ostsee-Pipeline angeführt. Eine klare und kalte Absage also an den sicherlich gut und aufrichtig gemeinten Ratschlag des Ministerpräsidenten Brandenburgs. Der grenzüberschreitende Dialog zu Energiefragen ist nach Fukushima keineswegs unkomplizierter als davor.

Martin Bursík erklärte dem Publikum gegen Ende der oben erwähnten Debatte die Erfolge der Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland wie folgt: Deutsche Bürger, so Bursík, können sich im Unterschied zu tschechischen Bürgern durchaus vorstellen, dass es auch im eigenen Land zu einem GAU kommen kann. Den über die deutschen Reaktionen empörten Journalisten fragte er, ob ein GAU in einem bayerischen AKW oder im AKW Temelín seine „diametrale Ansicht“ in Bezug auf Atomkraft ändern würde. An der Reaktion des Journalisten war zu erkennen, dass ihn diese Frage extrem verunsicherte, eine klare Antwort konnte er nicht geben. Fukushima ist von hier aus gesehen eben sehr weit weg.


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Eva van de Rakt ist Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag. Sie lebt und arbeitet seit 1997 in der Tschechischen Republik.

Weiterführend: "Atomkraftwerke und -debatte weltweit": Die Heinrich-Böll Stiftung hat namhafte internationale Experten gebeten, Fakten und Argumente zur Auseinandersetzung mit der Atomenergie aufzubereiten. Dieses Dossier stellt der Öffentlichkeit ein faktenreiches und atomkritisches Know How zur Verfügung. Ergänzt wird es um aktuelle Analysen, Berichte und Interviews zur Atomdebatte - nicht nur in Deutschland.

Zum Thema siehe auch: „Energy of the Future? Nuclear energy in Central and Eastern Europe”(PDF, 60 S.), eine Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung Prag, die kurz vor der Reaktorkatastrophe im AKW Fukushima herausgegeben wurde. 

Dossier

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 Nach dem Atomunfall in Japan ist die Atomdebatte wieder aufgeflammt. Das Dossier liefert atomkritisches Know-How zu den großen Streitfragen um die Atomenergie.