Zankapfel Laufzeitverlängerung: Revolution oder Rückfall?

17. November 2010
Von Stefan Schaaf

Von Stefan Schaaf

Kaum ein politisches Vorhaben der Bundesregierung ist vorab so kontrovers debattiert worden wie der Ausstieg aus dem Atomausstieg. Ende September sind diese Pläne konkretisiert worden: Im Durchschnitt zwölf Jahre länger will die schwarz-gelbe Koalition die 17 Atommeiler in Deutschland länger laufen lassen. Statt 2022, wie von Rot-Grün vereinbart, würde das letzte Atomkraftwerk erst 2036 abgeschaltet werden. Dagegen protestierten 100 000 Atomkraftgegner in Berlin, und dagegen wollen mehrere Bundesländer klagen.

Auch weltweit ist die Debatte um die Atomkraft neu eröffnet: Gegenwärtig liegen Absichtserklärungen für etwa 160 neue Atomkraftwerke vor.

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat vor diesem Hintergrund die Publikation „Mythos Atomkraft – Warum der nukleare Pfad ein Irrweg ist“ herausgegeben und lud einige Protagonisten der Debatte am 30. September zu einer Podiumsdiskussion über den „Zankapfel Laufzeitverlängerung“, wie Moderator Ralf Fücks vom Vorstand der Stiftung es formulierte: Mycle Schneider, international tätiger Atom- und Energieexperte, schrieb den Beitrag „Energiestrategien für die Zukunft: Verhindert Atomkraft den notwendigen Systemwechsel?“ für die Publikation „Mythos Atomkraft“. Dietmar Lindenberger vom Energiewirtschaftlichen Institut der Universität Köln, hat an den Energieszenarien mitgearbeitet, die der Entscheidung der Bundesregierung zugrunde lagen. Thomas Bareiß ist energiepolitischer Koordinator der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und Sylvia Kotting-Uhl ist die atompolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Der zentrale Punkt ihrer Debatte war die Frage, ob die angestrebte Laufzeitverlängerung den von allen erwünschten Ausbau der erneuerbaren Energien erleichtert oder behindert.

Was ist dran an der angeblichen weltweiten Renaissance der Atomkraft? Mycle Schneider widerlegte diese These gleich zu Beginn: Derzeit hat die Atomenergie weltweit 13 bis 14 Prozent Anteil an der Stromerzeugung, die Kapazitäten sinken seit 1990. Von den 60 Reaktoren, die weltweit derzeit im Bau sind, gibt es bei der Hälfte Zeitverzögerungen und Budgetüberziehungen. Bei einem Dutzend der Projekte liegt der Baubeginn schon zwei Jahrzehnte zurück. Selbst in den USA werde von den Energieversorgern der Bau neuer AKWs von Kreditgarantien aus Washington abhängig gemacht, sagte er. Euphorische Prognosen, dass bis 2020 dort ein Dutzend neuer Reaktoren ans Netz gehen würde, haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Viele Länder, deren Regierungen sich heute Atomkraftwerke wünschen, hätten viel zu kleine Netze, um deren Strommengen aufzunehmen.

40 Milliarden Euro für die Energieversorger

In Deutschland werde es keine neuen AKWs geben, versicherte Bareiß, „das gäbe einen Aufruhr und wäre nicht machbar“. Die Verlängerung der Laufzeiten sei aber richtig und sinnvoll, sagte der CDU-Abgeordnete, um in Deutschland auf absehbare Zeit sicheren, sauberen und bezahlbaren Strom bereitzustellen. Etwa die Hälfte der Zusatzgewinne der Versorger – er schätzte, dass die Laufzeitverlängerung den Energieversorgern bei konstantem Strompreis etwa 40 Milliarden Euro bringt – würden abgeschöpft, um Investitionen in erneuerbare Energien zu finanzieren. Er ist überzeugt, dass die „ambitionierten Zielvorgabe beim Klimaschutz“ – bis 2050 den Ausstoß an Treibhausgasen in Deutschland um mindestens 80 Prozent zu reduzieren – nur mit Atomenergie zu erfüllen seien.

Dietmar Lindenberger sagte, die Politiker müssten die Pluspunkte einer Laufzeitverlängerung, die er in der Wirtschaftlichkeit des weiteren Betriebs der Reaktoren und der Vermeidung von CO2-Emissionen sieht, gegen die Nachteile abwägen. Die Pluspunkte könne man recht präzise quantifizieren, auch bis zu welchen Nachrüstkosten die Wirtschaftlichkeit noch gegeben sei. Simulationsrechnungen zeigten, dass das durch längere Laufzeiten entstehende zusätzliche Angebot auf dem Strommarkt dazu führt, dass vor allem ältere Kohlekraftwerke weniger Volllaststunden realisieren und früher vom Netz genommen werden. Durch längere KKW-Laufzeiten würde ferner der Zubau neuer Gaskraftwerke zeitlich aufgeschoben, und Deutschland werde auch weniger Strom aus Nachbarstaaten importieren müssen. Wie viel Nachrüstung von den AKW-Betreibern verlangt werde, beeinflusse natürlich die Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Der Umfang der Nachrüstung sei innerhalb der Bundesregierung umstritten gewesen, und die Schätzungen der Mindest- und der Maximalkosten klafften um das Vier- bis Sechsfache auseinander.

Alle zweieinhalb Tage ein Störfall in Deutschland

Mycle Schneider und Sylvia Kotting-Uhl, die beiden Gegner der Laufzeitverlängerung auf dem Podium, bezweifelten viele dieser Annahmen. Kotting-Uhl kritisierte, dass viele Aspekte in dieser Debatte ausgeblendet wurden. Die angeblich „sichersten Akws der Welt“, von denen Bareiß sprach, seien auch die ältesten der Welt, „und die Sicherheit lässt mit dem Alter nach“. Inzwischen gebe es in den 17 deutschen Akws „alle zweieinhalb Tage einen meldepflichtigen Störfall“. Die Nachrüstung der Meiler, damit sie auch einen Flugzeugabsturz überstehen, war ursprünglich von Umweltminister Norbert Röttgen gefordert worden. Weil dies aber für die Kraftwerksbetreiber zu teuer geworden wäre, sei diese Forderung einfach fallen gelassen worden, sagte sie. Seit 9/11 könne man jedoch das Risiko von Flugzeugabstürzen auf ein Kraftwerk nicht mehr als „Restrisiko“ ignorieren.

Auch die wirtschaftlichen Rechnungen beruhten auf dem Prinzip, dass die Gewinne zwar privatisiert, die Gesamtkosten, vor allem der noch völlig offene Preis der Endlagerung, hingegen der Gesellschaft aufgebürdet würden. Durch den um zwölf Jahre verzögerten Ausstieg entstünden 4.400 Tonnen zusätzlicher hochradioaktiver Atommüll. Den Energieversorgern bescheinigte sie, mit der Bundesregierung „gut und ungeheuer erfolgreich“ verhandelt zu haben. Das Resultat sei ein Rückschritt in die Ära von Helmut Kohl. „Die Entwicklung, um die uns viele in der Welt beneiden, wird gestrichen“, die bisherige staatliche Förderung erneuerbarer Energien begrenzt. Doch die globale Aufgabe Klimaschutz brauche Länder, die die Führungsrolle übernehmen. Diese Rolle spiele Deutschland nun nicht mehr.

Der Systemkonflikt

Dissens herrschte vor allem über die so genannten „Systemeffekte“ einer Laufzeitverlängerung, also wie es sich auf die Entwicklung erneuerbarer Energien auswirkt, wenn große, relativ unflexible Strommengen, wie sie von Akws produziert werden, länger im Markt bleiben. Während Bareiß glaubte, dass so dringend nötige Zeit und Finanzmittel für Investitionen auch in die Stromnetze und für Forschung gewonnen würden, hielt Kotting-Uhl dies für falsch. Großkraftwerke, ob mit Kohle oder Uran betrieben, seien nicht kompatibel mit einem Ausbau der erneuerbaren Energien – aus dem einfachen Grund, dass Wind- und Sonnenenergie in recht schwankendem Umfang ins Netz eingespeist werden, man zum Ausgleich deshalb in der Übergangsphase kleine, flexible und schnell regelbare Kraftwerke brauche. Wenn 2030 der Anteil der erneuerbaren Energien wie geplant im Durchschnitt auf 50 Prozent gestiegen sei, gleichzeitig dann aber noch alle 17 Akws am Netz seien, werde man einen Systemkonflikt erleben. Die These, dass man Akws bis zu 50 Prozent herunterfahren könne, berücksichtige nicht, dass ein solcher Vorgang in den Atommeilern sicherheitstechnisch große Schwierigkeiten schaffe.

Mycle Schneider stimmte ihr zu. Er meinte, diese Systemeffekte würden unterschätzt. Er plädierte für dezentrale Versorgung und „intelligente Energiedienstleistungen“, die sich in allen Bereichen moderner Informationstechnologie bedienen. „Was wir brauchen, sind Mikronetze, intelligente Netze“, auch „intelligente Verbrauchsregelungen“, was alles technologisch schon möglich sei. Kotting-Uhl mahnte, dass man auch die effizientere Nutzung von Energie mitdenken müsse. Das gewaltige Einsparpotenzial durch strengere Grenzwerte für den Benzinverbrauch von Autos oder durch Wärmedämmung von Gebäuden gehe oft gar nicht in die Debatte über die Energieversorgung der Zukunft ein.