Darüber hinaus liegen gegenwärtig Absichtserklärungen für etwa 160 neue Atomkraftwerke bis zum Jahr 2020 vor, davon allein 53 in China und 35 in den USA, gefolgt von Südkorea und Russland. In Europa führt Großbritannien mit acht geplanten Neubauten die Liste an, gefolgt von Italien, der Schweiz, Finnland, Rumänien und Litauen. Frankreich, das die Welt mit neuen Atomkraftwerken beglücken möchte, plant selbst nur ein neues Werk. Die meisten europäischen Staaten hegen keine konkreten Atompläne.
Tatsächlich nimmt die Zahl der Atomkraftwerke weltweit stetig ab. Aktuell sind noch 437 Reaktoren in Betrieb. In den nächsten 15-20 Jahren werden mehr betagte Anlagen vom Netz gehen als neue in Betrieb genommen werden. Längst nicht alle Absichtserklärungen werden Wirklichkeit. Je stärker Strommärkte dem freien Wettbewerb geöffnet werden, desto geringer werden die Chancen der Atomkraft. Die Kosten für neue Anlagen explodieren. So hat sich der Baupreis des neuen Atomkraftwerk im finnischen Olkiluoto bereits von 3 Mrd. Euro auf rund 5,4 Mrd. Euro erhöht, obwohl noch nicht einmal der Rohbau steht. Dazu kommen die ungelösten Probleme der Endlagerung und die hohe Störanfälligkeit dieser Technologie. Kein privatwirtschaftlich geführtes Energieunternehmen wagt heute den Neubau eines Atomkraftwerks ohne staatliche Subventionen und Bürgschaften. Es fällt ins Auge, dass neue Werke vor allem dort gebaut werden, wo Staat und Energiewirtschaft eine unheilige Allianz bilden.
Schon bisher wurden Atomkraftwerke mit massiven öffentlichen Zuschüssen gefördert. Für Deutschland erreichen Berechnungen eine Größenordnung von über 100 Milliarden Euro. Diese Bevorzugung geht bis heute weiter. So bilden die milliardenschweren Rückstellungen für die Entsorgung des Atommülls und den Rückbau der Kraftwerke eine steuerfreie Manövriermasse der Konzerne. Und die Haftpflicht der Betreiber ist auf 2,5 Milliarden Euro begrenzt – nur ein verschwindender Bruchteil dessen, was schon bei einem mittelgroßen Atomunfall an Kosten entstehen würde. Unter dem Strich erweist sich Atomstrom als ebenso teuer wie riskant.
Zu diesen bereits eingebürgerten Argumenten gegen die Atomenergie kommen neue. Erstens wächst die Gefahr der nuklearen Proliferation im gleichen Maß, in dem neue Atomkraftwerke in aller Welt entstehen. Es gibt keine chinesische Mauer zwischen der zivilen und der militärischen Nutzung dieser Technik, trotz aller Kontrollbemühungen der Internationalen Atomenergie-Kommission. Das aktuellste Beispiel ist der Iran. Wer sich ultimativ nicht kontrollieren lassen will, den kann man letztlich auch nicht zwingen. Mit einem Ausbau der Atomenergie wächst die Notwendigkeit, Wiederaufbereitungsanlagen und Schnelle Brüter zu bauen, um nuklearen Brennstoff zu erzeugen. Beides bedeutet den Einstieg in einen Plutoniumkreislauf, in dem Unmengen an bombenfähigem Spaltmaterial entstehen – eine Horrorvision!
Zweitens wäre schon eine Laufzeitverlängerung für bestehende Atomkraftwerke – und erst recht der Bau von neuen Anlagen – eine massive Bremse für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Behauptung, Atomkraft und Erneuerbare seien komplementär, ist ein weiterer Mythos. Denn sie konkurrieren nicht nur um knappes Investitionskapital und Stromleitungen; gleichzeitig begrenzen Atomkraftwerke aufgrund ihres inflexiblen Dauerbetriebs das Wachstumspotenzial vor allem für Windstrom. An windreichen und verbrauchsarmen Tagen deckt das Angebot an Windenergie bereits heute einen Großteil der Stromnachfrage in Deutschland ab. Da die laufenden Atomkraftwerke (wie auch die großen Kohlekraftwerke) aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht kurzfristig heruntergefahren werden, muss dann der Überschussstrom mit Verlust ins Ausland exportiert werden. Ist es auch Irrsinn, so hat es doch Methode.
Wie man es auch dreht und wendet: Atomenergie hat weder das Potenzial, einen entscheidenden Beitrag für den Klimaschutz zu leisten, noch wird sie aus Gründen der Versorgungssicherheit benötigt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer den Ausbau der erneuerbaren Energien mit Zielrichtung hundert Prozent vorantreiben will, sollte sich gegen einen Neubau wie gegen eine Laufzeitverlängerung alter Atomkraftwerke wenden. Als behauptete Übergangsstrategie ins Solarzeitalter ist die Atomenergie untauglich.
Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung