Das tolle Jahr von Erfurt

Aktion "Die unkontrollierte Öffentlichkeit strickt das Kulturkonzept für Erfurt". Foto: Dirk Teschner.

15. Mai 2009
Von Dirk Teschner
Von Dirk Teschner

Dieses Jahr ist Bauhausjahr, auch in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt. Werden 90 Jahre revolutionäre Architektur, Kunst und politischer Diskurs gefeiert? Im Moment sieht es nicht danach aus. Pünktlich zum Bauhausjahr wurde in der 200.000-Einwohner-Stadt mit dem Abriss des 1925 eröffneten Nordbads begonnen. Mit seiner Zerstörung verliert Erfurt ein weiteres Baudenkmal der klassischen Moderne. Den Abriss nennt man in Erfurt übrigens Sanierung.

Bald folgt eines der wenigen Gebäude der Neuen Sachlichkeit in der Innenstadt. Dort, wo noch vor nicht allzu langer Zeit Filme in mehreren Kinosälen liefen, wird bald in einem Neubau das x-te Warenhaus entstehen. Und acht Jahre nach Besetzung des Geländes der ehemaligen Firma Topf & Söhne in Erfurt wurde im April das Areal mit Hubschraubereinsatz und Hundertschaften geräumt. Die Firma Topf & Söhne produzierte während der Zeit des Nationalsozialismus die Öfen und Entlüftungsanlagen für die Krematorien der Konzentrationslager in Buchenwald und Auschwitz. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes und deren Bekanntmachung war während der acht Jahre der Besetzung eine wichtige Konstante des Projekts. Veranstaltungen, Rundgänge, Infostände und Workshops erinnerten an die Geschichte der Firma Topf & Söhne. Durch das Engagement der Besetzer musste sich die Stadt Erfurt mit diesem Teil der Vergangenheit auseinandersetzen. Nun ist ein Gedenkort in Planung. Während der temporären Inbesitznahme praktizierten die Besetzer auf dem Gelände eine alternative Kultur des Lebens, Arbeitens und Feierns. Ihnen wurde vom Oberbürgermeister eine Gartenlaube als Ausweichobjekt angeboten. Als dies ausgeschlagen wurde, kamen die Bulldozer. Die Kosten des Polizeieinsatzes überstiegen das Fünffache den Kaufpreises, welches die Stadt für das Gelände hätte hinlegen müssen. Die Zerstörung von alternativer Wohnkultur nennt man in Erfurt übrigens Stadtentwicklung.

Leeerstehende Häuser gibt es hier genug, die auf eine Belebung warten. Der Stadtrat musste sich auf Drängen von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Thema „Wächterhäuser“  beschäftigen, aber leider, so die offizielle Einschätzung, gebe es in Erfurt keine geeigneten Objekte. Kürzlich wollte eine Kulturinitiative ein altes, leerstehendes Straßenbahndepot im proletarischen Norden erwerben und dort ein Kulturzentrum mit Theaterbühne, Konzerträumen, Kneipe, Biergarten und Ateliers errichten. Plötzlich tauchte noch ein Mitbewerber auf, der dort eine Oldtimerwerkstatt errichten wollte. Es handelte sich um ein Mitglied der zwar schwächer werdenden, aber noch existenten alten Seilschaft um den Exbürgermeister und jetzigen Geschäftsführer der Stadtwerke, Manfred Ruge. Folgerichtig bekamen die Oldtimer den Zuschlag. Manfred Ruge, zu Ost- wie Westzeiten Mitglied der CDU, freute sich in seiner Amtszeit über den Zuzug vieler italienischer Familien aus Kalabrien und der attraktiven Entwicklung des Gastgewerbes. Dass damit auch die 'Ndrangheta Einzug hielt, blieb nicht verborgen. `Ndrangheta nennt man in Erfurt übrigens Pizzeria.

Und der Vergangenheit zugewandt

Für das im Juni stattfindende KrisenFest fassten die Initiatoren zuerst eines der traurigsten Gebäude Erfurts ins Auge – das alte Schauspielhaus. Das seit 2003 leerstehende Theatergebäude wurde dem Verfall preisgegeben, allen Interessenten die kalte Schulter gezeigt. Die Bauaufsichtsbehörde genehmigte zwar eine temporäre Nutzung, doch OB Andreas Bausewein intervenierte. Der Verfall des 1897 von Georg Weidenbach errichtete Gebäude begann mit der Einweihung der neuen Oper. Diese heißt sinnigerweise Theater Erfurt, spielt kein Theater und erhält jährlich 17 Millionen Euro aus dem Erfurter Haushalt. Zum Vergleich: Die jährliche projektbezogene Förderung der Freien Theaterszene beträgt gerade einmal 60.000 Euro.
 
Das KrisenFest findet nun an einem anderen traurigen Ort statt, dem Petersberg. Dort befinden sich die leerstehende ehemalige Defensionskaserne, das Gebäude des Landesamts für Denkmalpflege sowie die Peterskirche. Die Peterskirche beherbergt seit 1993 das Forum Konkrete Kunst. Es gibt seit Jahrzehnten Überlegungen für eine Gesamtnutzung des Petersbergs, die allerdings nie in die Tat umgesetzt wurden. Pläne des Vereins „Geschichtsort Peterskirche“, in der Kirche eine Art Heimatmuseum einzurichten, konnten bislang verhindert werden. Ein neuerer Vorschlag unter dem Arbeitstitel „Nachbarschaftsprojekt St. Peter & Paul“ sieht für das Gebäude-Ensemble ein ökumenisches Collegiat vor. Dies erstaunt ein wenig angesichts der Tatsache, dass die Stadt Erfurt genügend Kirchen und Klöster hat und dabei nur 20% der Erfurter Bevölkerung konfessionell gebunden sind. Das im Konzept formulierte Ziel einer dauerhaften Wohnnutzung in den ehemaligen Kasernengebäuden widerspricht zudem dem Gedanken einer Öffnung des Petersberges für alle Erfurter Bürger.

Erfurt, es ist nicht zu übersehen, erfreut sich an seiner historischen Altstadt und will eine Verbindung zur Kultur über Jahresthemen herstellen. Diese heißen ab 2010: Luther. Der Aufbruch; 600 Jahre Kollegium Amplonianum, mittelalterliche Buchdruckerei; Jüdisches Leben in Erfurt; 1000 Jahre Mainzer Bezug, 350 Jahre Reduktion; 350 Jahre Petersberg,  200. Wiederkehr der zweiten preußischen Besitzergreifung; Via Regia - Europäische Sternstunde, Jubiläum des großen Erfurter Astronomen Schröter; 500 Jahre Reformation. Vor allem die Jugend fühlt sich von diesen retrospektiven Spektakeln extrem angesprochen und geistert mit Mönchskutten durch die Gassen zur allabendlichen Geißelung ins „Fam“, eine krude Mischung aus Schickimickibar und Ballermanndisko am Rathaus.

Luxus für den Norden, Sekt auf der Krämerbrücke

Ist also alles beim Alten geblieben? Bereits vor einem Jahr musste ich feststellen: „Erfurt hat zwar eine Universität, eine Oper, ein Ikea und manchmal ,Wetten, dass…?’, aber keine lebendige Kunst- und Kulturszene. Das wenige, das sich etabliert hat, wird gerade zu Tode gespart.“

Anlass zur Klage war damals das Verschwinden der wenigen kreativen Orte, die fortgesetzte Abwanderung junger Menschen und die drohende Schließung des Kunsthauses wegen mangelnder finanzieller Unterstützung seitens der Stadt. Gleichzeitig wurden unfassbare Summen zum Jubiläum des Fürstenkongresses ausgegeben. Aber diesmal wurde nicht wie so oft alles stillschweigend hingenommen. Es schien, als hätte die Kulturszene der Stadt gespürt, was auf dem Spiel stand. So begann eine intensive Auseinandersetzung über die Ausrichtung der kulturellen Entwicklung, über zeitgenössische Kunst und Kultur, über eine lebenswerte Stadt, über Mitbestimmung und Intervention. Der Topf kochte über, man rechnete ab mit einer konservativen Kulturpolitik und Stadtentwicklung, die mitverantwortlich ist für die Erstarrung und den kulturellen Raubbau seit Ende der 1990er Jahre.
 
Einen offenen Brief an den Erfurter Oberbürgermeister zum Erhalt des Kunsthauses und der Ausrichtung eines Kulturkongresses unterschrieben über 600 Unterstützer. Im Zuge dessen gründete sich mit dem Klub 500, ein freier Zusammenschluss von Künstlern, Kulturschaffende und Kunstinteressierten, gedacht als Plattform des Austausches und der Lobbyarbeit. Die Zusammensetzung ist bunt durcheinander gewürfelt, von Arbeitslosen bis Architekten, Politikern bis Künstlern, Linken bis Liberalen.

Der Herbst 2008 versprach, einen neuen Schwung in die verkrustete Kunst- und Kulturlandschaft Erfurts zu bringen. Es begann eine Diskussion darüber, wie es in Erfurt weitergehen soll. So wurde über die Planung eines Kulturkongresses diskutiert und es gab begleitende Aktionen im öffentlichen Raum. Leerstehende Läden in der Magdeburger Allee, einer markante Straße im Erfurter Norden, wurden unter der Forderung „Luxus für den Norden“ mit Designerlogos von Prada bis Gucci versehen. Ein öffentliches Sekttrinken mit Opernmusik wurde hinter der Krämerbrücke abgehalten, wo seit Sommer 2008 eine neue Stadtverordnung das Trinken alkoholischer Getränke in Gruppen ab drei Personen verbietet. Zero Tolerance in Luthers Backyard.
 
Planwirtschaft in der Rathaus-AG

Ein von der Kulturdirektion vorgelegtes neues Kulturkonzept wurde vom Stadtrat abgelehnt, es enthielt nur eine reine Bestandsaufnahme der städtischen Kulturlandschaft und las sich wie ein jährlicher Rechenschaftsbericht. Eine AG Kulturkonzept wurde ins Leben gerufen. Diese ist beauftragt, ein komplett neues Konzept zu erstellen. Über das Wie scheiden sich allerdings die Geister. Vom Klub 500 wurde, mit Blick auf positive Erfahrungen in Dresden, Freiburg und Linz, eine öffentliche Debatte über Leitbilder und Strategien mit diversen Hearings und Arbeitsgruppen gefordert. Davon wollte der Stadtrat mehrheitlich nichts wissen. Die AG Kulturkonzept besteht aus Vertretern der im Stadtrat vertretenen Parteien und Behörden, sowie dem Leiter der Kunsthalle und einem einzigen Vertreter der freien Kulturszene. Dieser vom OB bestimmte Vertreter aus der Theaterszene gab sein Mandat zwei Wochen später entnervt zurück. Daraufhin hat der Klub 500 eine Umfrage gestartet, woraufhin Dagmar Demming, Leiterin des Fachbereichs Kunst an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt, vorgeschlagen wurde. Jetzt wurde sie vom OB in die AG Kulturkonzept berufen und hat die undankbare Aufgabe, die Interessen der Kunst- und Kulturszene zu vertreten. Das unbeholfene Prozedere ist bezeichnend für die aktuelle Situation. Von Seiten der Politik wird eine Einflussnahme durch die Kunst- und Kulturszene an politischen Entscheidungsfindungen öffentlich abgelehnt, intern aber flehend darum gebeten.

Sicher ist: Eine lebendige Kulturszene, eine Stadt mit internationalem Flair oder neue Arbeitsplätze in der Kreativwirtschaft entstehen nicht durch einen technokratischen Ansatz. Mehr noch: Kultur entsteht nicht im Erfurter Rathaus und auch nicht im Landtag. Politik hat mit dem Schaffen von Kultur so viel zu tun wie Hollywood mit Hoyerswerda. Die Kulturschaffenden Erfurts sollten zwar Druck auf die Rathaus-AG ausüben, eigene Konzepte erarbeiten, öffentliche Diskussionsrunden einberufen. Aber vor allem müssen sie sich darum kümmern, spannende Kunst- und Kulturprojekte zu initiieren, Freiräume zu nutzen, Fantasien vom Caféhaustisch in die Realität zu überführen. Ermutigende Ansätze gibt es. Jeder neue Laden mit Kommunikation und preiswerten Getränken, der nicht clean und Ikea-bestückt ist, wird dankbar aufgenommen. Das ehemalige Innenministerium wird mit Kunst und lauter Musik wach geküsst. Es gibt Interesse, auch in Erfurt eine Fête de la Musique durchzuführen. Selbst der Studentenklub plant Aktionen im öffentlichen Raum.

Dieser Drang nach Veränderung und die vorhandene Identifikation mit der Stadt bergen die Chance auf Veränderung. Möglicherweise entstehen neue Bündnisse jenseits von Parlament und subkulturellen Szenen. Und alle Beteiligten müssen sich der Frage stellen: Wem gehört die Stadt?

Bemerkung: Das tolle Jahr von Erfurt ist die Bezeichnung für die im Jahr 1509 begonnene Revolte der Stadtbevölkerung von Erfurt gegen ihre Ratsherren.