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"Wohin des Wegs, Türkiye?"

Lesedauer: 3 Minuten

6. November 2008

Von Sigrid Löffler
9. Oktober 2008

«Rio, Istanbul, Berlin» – mit diesen drei geografischen Markierungspunkten ist diese Veranstaltung heute abend programmatisch versehen worden. Vorstellen möchte ich Ihnen heute zwei türkische Autorinnen, Asli Erdogan und Sebnem Isigüzel. Beide präsentieren Romane, die erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen: «Die stadt mit der roten Pelerine» von Asli Erdogan und «Am Rand» von Sebnem Isigüezl. Die beiden Romane haben mehr miteinander gemein, als es zunächst den Anschein hat. Beide Autorinnen haben Großstadt-Romane geschrieben, genauer gesagt: Romane über zwei vor sich hin explodierende Mega-Cities, über Rio de Janeiro und über Istanbul.

Zwei lebensgefährliche Monster-Städte

Diese Städte sind nicht nur die Schauplätze der Romane: sie sind deren eigentliche Helden. Wir Leser werden aber keineswegs mit den geschönten touristischen Hochglanzbildern dieser Städte konfrontiert. Nichts da vom Zuckerhut-Rio mit Karneval und sonnigen Stränden. Nichts da von der dekadenten Pracht des byzantinischen und osmanischen Istanbul mit seinen Sultanspalästen und Pracht-Moscheen. Vorgeführt werden uns vielmehr zwei wilde, gewalttätige, brutale und lebensgefährliche Monster-Städte in ihren erschreckendsten Aspekten – gesehen aus dem Blickwinkel der aussortierten, marginalisierten Menschen, der Menschen im gesellschaftlichen Abseits.

Wir bekommen vor allem die ungeschönte und unbarmherzige Kehrseite zum Rio und Istanbul der Touristen zu sehen. Das Rio der Favelas, die Stadt der Obdachlosen, der Straßenkinder, der bewaffneten Banden, der Massaker und der Aids-Epidemien. Und das Istanbul der Obdachlosen, der Müll-Menschen, unter denen Kannibalen und Organ-Mafias ihr Unwesen treiben. An Drastik in der Darstellung von Grausamkeiten geben sich beide Romane nichts nach.

Lebensrausch und Todesrausch

Bei Autorinnen schreiben aus der Sicht weiblicher Protagonistinnen. Es sind vor allem Frauen, die in diesen Romanen mit der ganzen schockierenden Brutalität, dem Chaos und dem extremen Elend von Rio und Istanbul konfrontiert werden. Das ist aber nur der eine Aspekt dieser Romane. Bei allem Extremismus der Darstellung schwingt in diesen Romanen immer mit, dass die ständige Todesgefahr auch wie eine Droge wirkt – als Mittel unerhörter Steigerung der Lebensintensität und verschärfter Selbstwahrnehmung. Lebensrausch und Todesrausch sind vor allem bei Asli Erdogan oft nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Lebenswille und Todessehnsucht gehen Hand in Hand. Insofern sind die beiden mörderischen Städte Großmetaphern für das globalisierte Leben an der Jahrtausendwende.

In beiden Romanen setzen sich die Heldinnen bewusst diesen Extrem-Erfahrungen aus – ob freiwillig oder von der Gesellschaft dorthin gedrängt, darüber wird im Laufe des Abends noch zu reden sein. Jedenfalls schrecken diese Romanheldinnen nicht davor zurück, über die Grenzen zu gehen. Sie alle werden als gebildete, talentierte Zeitgenossinnen geschildert. Özgür, wie Asli Erdogans Heldin heißt, ist eine gelernte Kernphysikerin. Die beiden gegensätzlichen Heldinnen im Istanbul-Roman von Sebnem Isigüzel sind Leyla, eine Diplomatentochter und hochbegabte Schachspielerin, und Yildiz, eine Musikwissenschaftlerin und Musiker-Biografin. Sie alle fallen aus ihren bürgerlichen Milieus heraus und werden auf das nackte Sein zurückgeworfen.