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Bolivien hat gewählt !

Boliviens Flagge

28. Januar 2009
Von Tanja Ernst
Von Tanja Ernst

Die Abstimmung am 25. Januar 2009 zur Annahme oder Ablehnung der hart umkämpften neuen Verfassung Boliviens, die den Prozess des Wandels konstitutionell absichern sollte, verlief friedlich und ohne nennenswerte Unregelmäßigkeiten. Mit rund 90 Prozent war die Wahlbeteiligung sehr hoch.

Laut vorläufigen Auszählungen (rund 87 Prozent aller abgegebenen Stimmen) scheint die neue Verfassung mit etwas mehr als 60 Prozent aller Stimmen angenommen worden zu sein. Dieses Ergebnis bleibt weit hinter Umfragen, Hoffnungen und Erwartungen der Regierung zurück und bestätigt erneut die regionale und kulturelle Spaltung des Landes:

Während in den Hochlanddepartments und auf dem Land die Zustimmung zur neuen Verfassung durchschnittlich mehr als 70 Prozent erreicht, überwiegen in den vier Tieflanddepartments die Nein-Stimmen. Im Department Chuquisaca hingegen scheint sich eine knappe Mehrheit für das Ja anzudeuten. In der parallelen Abstimmung über die Begrenzung des privaten Großgrundbesitzes hingegen haben sich rund 80 Prozent klar für eine Höchstgrenze von 5.000 Hektar ausgesprochen (1). 

Die wichtigsten Neuerungen  der Verfassung auf einen Blick (2):

  • Stärkung indigener Rechte
  • der konstitutionell festgeschriebene Anspruch, den Staat und seine Institutionen an die plurikulturelle Realität im Land anzupassen,
  • weit gefasste Menschenrechte einschließlich eines Privatisierungsverbotes lebenswichtiger Gemeinschaftsgüter,
  • die “Nationalisierung” der natürlichen Ressourcen und deren Inwertsetzung zum Wohle aller,
  • die Stärkung der Rolle des Staates als wirtschaftlicher Akteur und gesellschaftliche Verteilungsinstanz sowie
  • die weitreichenden Dezentralisierungsangebote für unterschiedliche politisch-administrative Einheiten.

Obwohl im Vorfeld des Referendums neben der Regierung auch die SprecherInnen der indigenen und sozialen Organisationen nahezu einhellig dazu aufgerufen hatten, für die neue Verfassung zu stimmen, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Oktober 2008 ausgehandelten Änderungen des Verfassungsentwurfes für erhebliche Kritik an der Basis sorgten. Zentrale Modifikationen beziehen sich u.a. auf den innergesellschaftlichen Kernkonflikt der Landverteilung.

So wird die Neuregelung nicht rückwirkend, sondern nur für zukünftig erworbenen sowie offensichtlich spekulativ genutzten Landbesitz gelten. Auch Morales´Verzicht auf die Möglichkeit einer weiteren Verlängerung seiner Amtszeit, die Beibehaltung der Zweidrittelmehrheit für Verfassungsänderungen, die der Opposition in den vergangenen Auseinandersetzungen de facto ein Vetorecht gesichert hatte, weiterhin der geänderte Wahlmodus der zukünftigen „Plurinationalen Versammlung“ sowie die Einschränkung der “sozialen Kontrolle” sind neben den substanziell erweiterten Autonomiebefugnissen für die Departmentsregierungen als deutliche Zugeständnisse an die Opposition zu werten.(3)
 
Die Tatsache, dass der Verfassungsentwurf nachträglich im Parlament modifiziert wurde, konterkariert darüber hinaus die Idee der verfassungsgebenden Versammlung. Viele Beteiligte empfinden die weitgehend hinter verschlossenen Türen erfolgte Aushandlung im Parlament als “Verrat“ und die erfolgten politischen Konzessionen als Vergabe einer historischen Chance - insbesondere mit Blick auf die Landfrage.

Kompromiss oder Erfolg?

Andererseits gestaltete sich das Zustandekommen dieses Kompromisses extrem schwierig und erschien lange schlicht unmöglich, so dass das Vorgehen der Regierung unter den gegebenen Umständen auch als einzige Alternative zu einem erneuten Aufflammen der gewaltsamen Auseinandersetzungen und somit als politisch-strategischer Verhandlungserfolg gewertet werden kann.

Doch allen Zugeständnissen zum Trotz setzt die Opposition weiter auf Konfrontation und lehnt die Verfassung als Ganzes ab. In ihrer Gegenkampagne setzte sie bezeichnenderweise nicht auf Inhalte, sondern auf göttlichen Beistand und öffentlichkeitswirksame Gebete unter aktiver Beteiligung hoher katholischer Würdenträger. Gleichzeitig wurde durch Falschmeldungen gezielt versucht, Verunsicherung in der Bevölkerung zu schüren.(4)

Auch die Regierung zog es vor, existente Widersprüche nicht zu thematisieren, sondern die Errungenschaften anzupreisen. Sie ging nicht öffentlich auf das Zustandekommen, das Für und Wider der Modifikationen oder mögliche Schwierigkeiten bei der juristischen “Kleinarbeitung” der Verfassung ein. Dieses Vorgehen ist angesichts der medialen Übermacht der Opposition und der Bedeutung der Zustimmung zur Verfassung für die Regierung zwar verständlich, schmälert aber – gewollt oder ungewollt – den Raum für notwendige konstruktiv-kritische Auseinandersetzungen im heterogenen Regierungslager.

Abzuwarten bleibt, ob die Präfekten der Tieflanddepartments das landesweite Votum überhaupt anerkennen werden. Theoretisch tritt die Verfassung mit ihrer Annahme unmittelbar in Kraft. Praktisch erfordert die Umsetzung der Neuerungen die Ausarbeitung einer Vielzahl an Rahmengesetzgebungen und Einzelgesetzen, deren Verabschiedung die Opposition mittels ihrer politischen Stärke im Senat vermutlich weiterhin blockieren wird. Morales hat für diesen Fall bereits angekündigt, die Gesetze notfalls auch per Präsidialdekret auf den Weg bringen zu wollen. Des Weiteren sind vorgezogene Neuwahlen im Gespräch.

Politische Pattsituation

Insofern spricht einiges dafür, dass die politische Pattsituation und sowohl parlamentarischer als auch gewalttätiger Widerstand gegen die Reformprojekte der Regierung anhalten werden.

Das heißt, dass die Zeichen weiterhin auf Konfrontation stehen und dass auch die Gefahr regionaler Alleingänge greifbar bleibt. Die Opposition und hier allen voran die Präfekten und die direkten Interessenvertretungen der Großgrundbesitzer- und Unternehmereliten im Tiefland haben bereits gezeigt, wie weit sie gehen werden (5), und auch, dass sie nicht bereit sind, politische oder ökonomische Konzessionen zu machen.

Ob die für Dezember 2009 geplante Neuwahl, bei der Morales noch einmal kandidieren wird, die Chance eröffnet, die Karten und damit die politischen Machtverhältnisse in der Plurinationalen Versammlung neu zu mischen, bleibt zwar zu hoffen, muss aber angesichts der Ergebnisse vorangegangener Wahlen, der Abstimmungen sowie der aktuellsten Umstände leider bezweifelt werden.

 

Bemerkungen:

1. Die gerundeten Ergebnisse in den einzelnen Departments gemäß dem Nationalen Wahlgerichtshof (Stand 28.01.09 – Ortszeit 4:10; vgl. hierzu http://www.cne.org.bo/) lauten: Landesweit stimmten 61,1 Prozent für die Annahme der Verfassung, in den Regionen La Paz 77,5 Prozent Ja-Stimmen, in Oruro 72,2 Prozent, in Potosí 76,6 Prozent, in Cochabamba 64,9 Prozent. In Chuquisaca haben laut dem Departamentalen Wahlgerichtshof (CDE) 51,5 Prozent mit Ja gestimmt. In den nachfolgenden Departements überwog das Nein: Im Pando stimmten nur 41 Prozent mit Ja, im Beni 30 Prozent, in Santa Cruz 32,1 Prozent und in Tarija 43,3 Prozent.

2. Vgl. zu den Errungenschaften und der Chronologie der Auseinandersetzungen um den ursprünglich im Dezember 2007 in Oruro verabschiedeten Verfassungsentwurf den ausführlicheren Text „Verfassungsprozesse und soziale Konflikte in den Andenländern: neue Entwicklungen in Bolivien und Ecuador“ von Klaus Meschkat.

3. Insgesamt wurden mehr als 140 der insgesamt 411 Artikel zum Teil entscheidend verändert. So entfällt bspw. die Einrichtung indigener Wahlkreise, welche allen indigenen Gruppen eine eigene Repräsentation sichern sollte. Und auch die Stärkung des Mehrheitswahlrechts, die die Direktwahl von KandidatInnen anstelle von parteigebundenen Listenplätzen begünstigen sollte, wurde zurückgenommen. Die Kompetenzen der Departmentregierungen hingegen wurden von 12 auf 36 erweitert.

4. So wurde wiederholt behauptet, dass die neue Verfassung die Glaubens- und Religionsfreiheit nicht respektiere, dass der Schutz des Privatbesitzes zukünftig nicht mehr gewährleistet sei, dass die Regierung die privaten Schulen schließen und ihr “autoritäres und kommunistisches Regime“ weiter ausbauen würde. Darüber hinaus sei die Verfassung diskriminierend und ausschließend, da die Rechte indigener Bevölkerung über Gebühr repräsentiert seien. Partiell wurden gefälschte Ausgaben des Verfassungsentwurfs verteilt und entgegen den Ergebnissen der internationalen Untersuchungskommission behaupten die nationalen Medien erneut, dass es Hinweise und Zeugenaussagen gäbe, welche bestätigten, dass das Massaker im Pando Mitte September 2008 von der Regierung selbst initiiert worden sei.

5. Im August und September 2008 kam es in den Tieflandregionen zur Erstürmung, Besetzung und Verwüstung staatlicher Einrichtungen. Darüber hinaus wurden insbesondere in den Departments Santa Cruz und Beni zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, indigene Organisationen und politisch aktive Personen Opfer von Übergriffen, Einschüchterungsversuchen und Plünderungen durch die berüchtigten Schlägertrupps der Jugendorganisationen. Den Höhepunkt dieser Gewaltspirale bildete das gezielte Massaker an Indigenen und KleinbäuerInnen am 11. September im Pando. Vgl. hierzu auch den Artikel „Spiel mit dem Feuer“ von Juliana Ströbele-Gregor.