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Das "Ley de Justicia y Paz" - ein Balanceakt zwischen Gerechtigkeit und Frieden

Frieden?
Foto: Carlos Calcedo (Quelle:flickr.com). Dieses Foto steht unter einer Creative-Commons-Lizenz.

30. Mai 2010
Von Katrin Planta

Von Katrin Planta

Der im Juli 2003 unterzeichnete „Acuerdo de Santa Fe de Ralito para contribuir a la paz en Colombia“ sah die vollständige Demobilisierung des kolumbianischen Paramilitärs bis Ende 2005 vor (1). Während in den ersten 18 Monaten nach Vertragsabschluss nur knapp 3.700 Demobilisierte zu verzeichnen waren, hatten sich bis April 2006 über 30.000 Personen demobilisiert (2).


Auf den ersten Blick eine positive Bilanz. Doch die Regierung erntete für ihr „Ley de Justicia y Paz“ (LJP), das den Grundstein für den Reintegrationsprozess der Demobilisierten und die Entschädigung ihrer Opfer bilden sollte, von vielen Seiten Kritik. Auch fünf Jahre nach seiner Verabschiedung scheiden sich die Geister an der Frage, ob das LPJ Kolumbien tatsächlich mehr Frieden und Gerechtigkeit gebracht hat. Neben einem kurzen Überblick über seine Entstehung und Inhalt werden im Folgenden die Kontroversen um das Gesetz hervorgehoben und sein Potential für den Frieden in Kolumbien kritisch beleuchtet.

Entstehung

Im Rahmen seiner Verhandlungen mit den Paramilitärs erarbeitete die Regierung bereits 2003 einen ersten Gesetzesentwurf zu „alternativen Strafen“ für die zukünftigen Demobilisierten, der ein bereits bestehendes Gesetz zur Strafverfolgung von Mitgliedern bewaffneter Gruppen ergänzen sollte. Nachdem dieser jedoch von der lokalen und internationalen Gemeinschaft aufgrund seiner fehlenden Berücksichtigung der Opferperspektive scharf zurückgewiesen wurde, legte die Regierung 2005 das „Ley de Justicia y Paz“ vor. Ein Jahr später erkannte der oberste Verfassungsgerichtshof jedoch Klagen gegen das Gericht an und erwirkte damit verschiedene Nachbesserungen des Textes durch die Regierung. Laut der Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft haben sich seitdem knapp über 4.100 Personen für einen Prozess im Rahmen des LJP beworben.

Inhalt

Hauptinhalte des Gesetzes sind einerseits die zur regulären Rechtssprechung alternative Strafverfolgung der Demobilisierten, andererseits die Entschädigung der Opfer. Eine durch das LJP gegründete Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft ist beauftragt, mit Hilfe von Sondereinheiten der Kriminalpolizei und anhand freier Geständnisse der Paramilitärs deren Straftaten zu ermitteln. Die maximal zu verbüßende Haftzeit beträgt acht Jahre, der Verurteilte hat eine Entschädigung der Opfer zu erbringen, illegal erworbene Besitztümer müssen abgegeben werden. Den Opfern andererseits muss der Staat Zugang zur Justiz garantieren und für ihre Sicherheit sowie für die Sicherheit von eventuellen Zeugen Sorge tragen. Sie haben Anrecht auf eine schnelle und integrale Entschädigung durch die Täter. Kann kein Täter identifiziert werden, soll die Entschädigung aus einem kollektiven Fond bezahlt werden. Eine auf acht Jahre berufene nationale Kommission wurde beauftragt, den Wiedergutmachungs- und Versöhnungsprozess zu überwachen.

Kontroverse

In der Theorie handelt sich also um einen Prozess, der zu Frieden und Gerechtigkeit beiträgt, indem er den Paramilitärs eine Möglichkeit einräumt, den Konflikt unter juristischen Sonderregelungen zu verlassen, während den Opfern ihrer Gewalt gleichzeitig eine materielle Entschädigung garantiert wird. In der Praxis warnte die Europäische Union jedoch bereits 2005:

„[…]dass nicht genügend Nachdruck auf einen wirksamen Abbau der kollektiven paramilitärischen Strukturen gelegt wurde, keine deutliche Unterscheidung zwischen ‚politischen’ und anderen Straftaten gemacht wurde, jeweils nur kurze Fristen für Ermittlungen […] zugestanden wurden, Opfern nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten für Wiedergutmachungsforderungen eingeräumt wurden, auch für schwerste Verbrechen nur niedrige Höchststrafen vorgesehen wurden und das kolumbianische Justizwesen von seinen Ressourcen her gesehen unter einem erheblichen Druck stehen wird, wenn es den aus dem neuen Gesetz resultierenden Anforderungen gerecht werden will (3). ”

Tatsächlich wurde der Gesetzentwurf vielfach von (inter)nationalen Organisationen, Politikern, Juristen und den Medien als zu lasch kritisiert. Neben der Bezeichnung des Gesetzes als „kolumbianische Kapitulation“ durch die New York Times (4), erfolgte eine der härtesten Kritiken durch die Interamerikanische Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die unter anderem die mangelnde Herstellung der historischen Wahrheit durch das Gesetz anprangerte (5).  Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) führte als Hauptkritikpunkt die hohen Zugeständnisse an die Demobilisierten (kurze Ermittlungsphase, niedrige Haftstrafen etc.) an (6).  Zudem urteilte die kolumbianische Wochenzeitschrift Semana bereits im Juni 2005, dass das Gesetz zwar zweifelsohne die Demobilisierung erleichtere, einen Abbau der mafiösen Struktur der paramilitärischen Gruppen damit jedoch noch nicht erreicht sei.

Umsetzung

Tatsächlich geht die Wiedereingliederung der Paramilitärs ins zivile Leben nur stockend voran und Berichte über den Machterhalt der alten paramilitärischen Strukturen und die Gründung neuer Gruppen reißen nicht ab. So betont die „Stiftung Sicherheit und Demokratie”, dass der Demobilisierungsprozess weder die politischen noch die wirtschaftlichen Strukturen der Paramilitärs zu Fall gebracht hat. Nachdem Vincente Castaño, ehemaliger Anführer der AUC, bereits am Ende des Demobilisierungsprozesses schätzte, dass „wir mehr als 35% der Kongressabgeordneten auf unserer Seite haben“(7), sind mittlerweile über 40 Abgeordnete, darunter auch Mario Uribe Escobar, ein Vetter des Präsidenten, wegen ihrer Verbindung zu den „Paras“ verurteilt worden - mit Freiheitsstrafen bis zu 9 Jahren. Aufgrund der Verflechtung staatlicher Autoritäten in die weiterhin bestehenden Netzwerke der Paramilitärs bestehen ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Demontage ihrer Strukturen. Auch wenn die Entwaffnung und Demobilisierung von über 30.000 Personen und die dadurch zumindest für Teile der Bevölkerung verbesserte Sicherheitslage als grundsätzlich positiver Schritt gewertet werden kann, muss die Implementierung des LJP weiterhin kritisch beobachtet werden. Nicht abreißende Berichte über illegale Aktivitäten bereits „demobilisierter” Paramilitärs sowie ihre oben geschilderte Einflussnahme auf politische Prozesse und staatliche Institutionen lassen ernsthafte Zweifel am Gelingen des Friedensprozesses aufkommen. Eine Versöhnung zwischen Opfern, die sich von ihrer Regierung im Stich gelassen fühlen und Tätern, die weiterhin ihren kriminellen Aktivitäten nachgehen, ist schwer vorstellbar.

Die Auslieferung von mehreren hochrangigen paramilitärischen Anführern an die USA im Mai 2008 (8) verschärfte die Skepsis gegenüber dem gesamten Prozess. Die Regierung argumentiert zwar, sie habe die hochrangigen „Paras“ aufgrund mangelnder Kooperation aus dem juristischen Rahmen des LJP entfernt und zur „Bestrafung“ an die USA ausgeliefert, wo sie zum Teil höhere Strafen wegen Drogendelikten absitzen werden (9). Vertreter der Zivilgesellschaft bemängeln jedoch, dass die Ausweisung die Wahrheitsfindung zusätzlich erschweren wird, da nun kein Anreiz mehr besteht, Verbrechen zu gestehen. Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass die Auslieferung nicht etwa, wie von der Regierung behauptet, als Machtpolitik gegenüber den Paramilitärs zu interpretieren ist, sondern vielmehr den Versuch darstellt, weitere Skandale um die „Parapolitica“ zu vertuschen. Denn im Rahmen ihrer Geständnisse deckten einige Paramilitärs nicht nur von ihren Einheiten begangene Verbrechen auf, sondern lieferten auch Beweismaterial für die Mitverantwortlichkeit von Politikern und Angehörigen des kolumbianischen Militärs. Wenn der Prozess der Wahrheitsfindung jedoch abgewürgt wird, dann kann die Implementierung des LJP tatsächlich zum „Theater“ werden. Inwieweit es der Regierung gelingen wird, Glaubwürdigkeit zu vermitteln, bleibt abzuwarten. Presseberichten zufolge wurde Ex-Parachef Salvatore Mancuso nun für seine Beteiligung an einem Massaker im Department Norte de Santander von einem kolumbianischen Gericht zu 39 Jahren und neuen Monaten Haft verurteilt.

Inwieweit diese Verurteilungen zu einer Entschädigung der Opfer führen, ist jedoch unklar. Die kolumbianische Zivilgesellschaft betont weiterhin, dass ungeklärt ist, aus welchen finanziellen Mitteln die Entschädigung erfolgen soll.

Bewertung

Nach soviel Kritik muss abschließend aber auch betont werden, wie schwierig es ist, eine Balance zwischen der gerechten Bestrafung der Täter und der Aufrechterhaltung der Verhandlungsbereit¬schaft von Konfliktparteien zu finden. Im Vergleich zu den Prozessen in den 90er Jahren, als die zur Waffenabgabe und Rückkehr in die Legalität bereiten Mitglieder verschiedener Guerilla-Organisationen mit großzügigen Amnestien bedacht wurden, versucht das LJP zumindest, einen Ausgleich zwischen den weit auseinander klaffenden Interessen von Opfern und Tätern zu formulieren. Fest steht auch, dass es ohne die „Karotte“ alternativer Haftstrafen gar nicht erst zu Verhandlungen mit den Paramilitärs gekommen wäre. Das Potential des Gesetzes, positive Signale an in Zukunft möglicherweise verhandlungsbereite Guerillagruppierungen zu senden, ist als Chance für Frieden und Gerechtigkeit zudem nicht zu unterschätzen.

Damit ist die kolumbianische Debatte um das Ley de Justicia y Paz auch ein Spiegelbild des internationalen Diskurses um die so genannte Übergangsjustiz, den rechtlichen Umgang mit in Kriegszeiten begangenen Verbrechen und seiner Bedeutung für innergesellschaftliche Aus¬söhnung nach kollektiven Gewalterfahrungen. Die praktischen Debatten um die Umsetzbarkeit und Sinnhaftigkeit des LJP finden ihren theoretischen Hintergrund in der Frage nach dem Vorrang von Frieden oder Gerechtigkeit. Aus einer (Menschen)Rechtsperspektive hat die Frage nach der Entschädigung der Opfer und der Abstrafung der Täter oberste Priorität stellt die Vorbedingung für einen nachhaltigen Frieden dar. Vertreter aus der Konfliktbearbeitung argumentieren dagegen, dass die Beendigung von Gewalt überhaupt erst den Zugang zu Gerechtigkeit ermöglicht und Friedensverhandlungen daher nicht durch laute Diskussionen um Täterbestrafungen in Gefahr gebracht werden sollten. Auch wenn der Ruf nach Entschädigung und Wahrheitsfindung vollkommen verständlich und gerechtfertigt ist, sollte nicht vergessen werde, dass soziale Veränderungen und kollektive Geschichtsbildungsprozesse Zeit brauchen. Sicherlich ist hier auch ein Umdenken der internationalen Gebergemeinschaft notwendig. Statt einseitig nach schnellen „Versöhnungs-Erfolgen“ zu streben und diese an der schnellen Einrichtung von Wahrheitskommissionen, Aufarbeitungsmissionen und Gedenkstätten zu messen, wäre es sinnvoller, Vergangenheitsbewältigung als jahrzehntelangen Prozess zu begreifen, der weit über rechtliche Aspekte hinausgeht. Die Einweihung des Holocaust Mahnmals in Berlin sechs Jahrzehnte nach Ende des zweiten Weltkrieges zeigt uns am eigenen Beispiel wie lange kollektive Vergangenheitsbewältigung andauert.

Das LJP ist sicher nicht perfekt und verdient seine Kritik. Möglicherweise wird ihm jedoch zuviel abverlangt, denn ein Gesetz allein garantiert noch nicht die Aussöhnung einer Gesellschaft. Im Zusammenwirken mit anderen Initiativen einer starken Zivilgesellschaft und dem nötigen politischen Willen von Seiten der Regierung, sich dem Thema Wahrheitsfindung und Opferentschädigung langfristig zu verpflichten, mag aber auch ein unperfektes Gesetz Steine ins Rollen bringen.

Quellen:

  1. Vertragstext online unter: http://www.altocomisionadoparalapaz.gov.co/acuerdos/index.com. (am 19. April 2006).
  2. Siehe: http://www.altocomisionadoparalapaz.gov.co/g_autodefensa/9. (am 16. Mai 2006).
  3. Rat der Europäischen Union, Mitteilungen an die Presse 12514 (Presse 241), Kolumbien:- Schlussfolgerungen des Rates, S. 11, Rn. 5.
  4. In dem am 4. Juli 2005 erschienenen Artikel forderte die NYT die Umformulierung des Gesetz in „Impunity for Mass Murderers, Terrorists and Major Cocaine Traffickers Law”, unter: http://select.nytimes.com/gst/abstract.html?res=FB0E12FC355E0C778CDDAE0894DD404482. (am 25. April 2005).
  5. Vgl. El Tiempo v. 16. Juli 2005 online. Die Regelungen des Gesetzes erleichtern es den Betroffenen laut CIDH, Teile ihrer Taten zu verschweigen.
  6. HRW Kolumbien Report August 2005.
  7. Semana v. 6. Juni 2005, S. 34.
  8. Siehe Berichterstattung in El Tiempo von Mai 2008.
  9. Gerade jedoch Berichterstattung zu Salvatore Mancuso

 

Katrin Planta hat ihr Studium der Sozialwissenschaften mit einer Diplomarbeit zur Demobilisierung des Paramilitärs beendet und seitdem mehrfach Kolumbien bereist. Nach dem Abschluss eines Masters in Konfliktbearbeitung an der University of Bradford (UK) war sie ein Jahr für den Zivilen Friedensdienst in Bolivien tätig und arbeitet jetzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung in Berlin.

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