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„Zentrales Problem Mexikos ist die Straflosigkeit“

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Als 2010 im mexikanischen Oaxaca die beiden Menschenrechtsverteidiger/innen Betty Cariño und Jyri Jaakkola getötet wurden, löste dies international Betroffenheit und Empörung aus. Eine Menschenrechtskarawane hatte damals versucht, die indigene Gemeinde San Juan Copala vor paramilitärischen Übergriffen zu schützen. Dabei wurde sie selbst angegriffen, Cariño und Jaakkola starben. Bis heute sind die Schuldigen nicht verurteilt.

Mehrmals waren die grüne Europaabgeordneten Ska Keller und ihre finnische Kollegin Satu Hassi seither in Mexiko, um Druck auf die Regierung und die Staatsanwaltschaft auszuüben, den Fall aufzuklären - zuletzt im Rahmen einer Delegationsreise der Grünen Europafraktion vom 29.09. bis zum 6.10.2012. Ein Gespräch mit Ska Keller zu den Eindrücken ihrer Reise.

Wie sind die neusten Entwicklungen im Fall Jyri und Betty?

Kurz bevor wir in Mexiko angekommen sind, hat die Staatsanwaltschaft 14 Haftbefehle erlassen. Das ist in Anbetracht der Trippelschritte, mit denen wir uns seit dem Mord an den beiden Aktivist/innen fortbewegen, schon ein großer Erfolg. Jetzt müssen wir genau darauf achten, ob den Haftbefehlen auch Taten folgen, die Verdächtigen festgenommen werden und endlich ein Prozess beginnt. 

Es ist mehr als auffällig, dass Fortschritte in dem Fall nur dann passieren, wenn wir aus dem Europaparlament oder die Eltern von Jyri in Mexiko sind.

Warum beobachtet ihr genau diesen Fall? Es gibt doch in Mexiko unzählige Probleme, was Menschenrechtsverletzungen angeht.

In der Tat: Die Lage der Menschenrechte in Mexiko ist alles andere als rosig. Eines der zentralen Probleme ist die immens hohe Straflosigkeit: 98% aller Straftaten werden niemals aufgeklärt.

Wir haben uns auf der Reise auch mit vielen anderen Fällen beschäftigt. Aber der Mord an Jyri gibt uns einen besonderen Hebel in die Hand: Da er Europäer war, müssen die mexikanischen Behörden unsere „Einmischung“ dulden und wir können durch den Fall auch auf die allgemeine Lage in San Juan Copala und in ganz Mexiko hinweisen. Die Presse in ganz Mexiko hat über unseren Besuch und die kritische Situation von Menschenrechten im Land berichtet. In unseren Gesprächen mit Regierung und Staatsanwaltschaft lassen wir immer auch eine breitere Dimension einfließen, was z.B. den Fortgang der Justizreform angeht. Wir hoffen außerdem, dass ein Prozess im Fall Jyri und Betty auch Auswirkungen auf die anderen, bis jetzt in der Straflosigkeit vergrabenen Fälle haben wird.

Du sprachst von anderen Fällen, mit denen ihr euch beschäftigt habt. Was sind deiner Meinung nach die schwerwiegendsten menschenrechtlichen Probleme?  

Aufgrund der hohen Straflosigkeit haben die Menschen in Mexiko verständlicherweise kein Vertrauen in Polizei und Justiz, viele Fälle werden gar nicht erst angezeigt. Wenn es zur Anzeige kommt, vergehen Jahre bis - wenn überhaupt - was passiert. Das gesamte Justizsystem in Mexiko ist langsam, ineffizient und korrupt. Wir haben uns zum Beispiel mit Valentina Rosendo getroffen, die vor mehreren Jahren von Militärs vergewaltigt wurde. Sie hat als eine der wenigen indigenen Frauen diese Tat angezeigt. Nach jahrelangem Kampf wurde ihr schließlich vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht gegeben und die mexikanische Regierung hat sich offiziell entschuldigt - verurteilt ist aber in Mexiko immer noch niemand.

Verteidiger/innen von Menschenrechten und politische Aktivist/innen leben in ständiger Bedrohung. Ein zentrales Problem ist, dass mit dem Drogenkrieg Gewalt und Straflosigkeit völlig normal geworden sind. Ein zweites Problem ist die fehlende Unterstützung von Seiten des Staates für Aktivist/innen. Wir haben zum Beispiel in dem kleinen Ort San José del Progreso (im Bundestaat Oaxaca) mit Gegner/innen der dortigen Goldmine gesprochen. Allein dieses Jahr gab es zwei Tote, einer davon war der Kopf des Widerstands gegen die Mine. Obwohl schon vorher Drohungen vorlagen, gab es keine Sicherheitsmaßnahmen.

Mit Mexiko verbindet man automatisch das Phänomen der genderbezogenen Gewalt und Morden an Frauen. Hat sich die Lage in dieser Hinsicht in der letzten Zeit gebessert?  

Im Gegenteil: Seit Beginn des so genannten „Drogenkriegs“ im Jahr 2006 ist die Anzahl der Feminizide, also der Morde an Frauen, noch weiter gestiegen. Das sagen zumindest die Schätzungen. Offizielle Zahlen zu finden ist schwer. Die Regierung verwendet oft eine viel engere Definition von Feminiziden als zivilgesellschaftliche Organisationen. Außerdem werden seit 2006 viele Frauenmorde in die Kategorie „organisierte Kriminalität“ gesteckt, was zur Folge hat, dass die offiziellen Statistiken viel zu niedrige Zahlen aufweisen und zudem die Opfer und ihre Hinterbliebenen als „Narcos“ (Drogenhändler) stigmatisiert werden. Es ist schwer, die Motive für Feminizide nachzuvollziehen. Viele Expert/innen nennen als Gründe das allgemeine, sehr hohe Gewaltniveau und den krassen Machismo. Viele der Opfer sind junge, werktätige Frauen, woraus man schließen kann, dass Männer mit der Emanzipierung ihrer Frauen und der Verdrängung aus der Rolle der Alleinverdiener nicht klar kommen. Man vermutet, dass viele Täter aus dem familiären Umfeld der Opfer kommen.

Mexiko hat im Juli eine neue Regierung gewählt, die im Dezember ihr Amt antreten wird. Glaubst du, unter dem neuen Präsidenten Peña Nieto wird sich die Lage der Menschenrechte und die Strategie im Kampf gegen die Drogenkartelle ändern?

Was den „Drogenkrieg“ angeht, ist die offizielle Verlautbarung, dass Peña Nieto den Kampf gegen die Kartelle fortführen, aber die Strategie leicht ändern wird. Er will zum Beispiel das Militär weniger einsetzen, nur in punktuellen Aktionen. Unter der Hand wird gemunkelt, der neue PRI- Präsident wolle das Rad wieder zurückdrehen und eine Art Burgfrieden mit den Kartellen herstellen. In den 70 Jahren PRI-Herrschaft (Partei der Institutionalisierten Revolution) hatte die Regierung de facto mit den Kartellen zusammengearbeitet.

Viele NGOs haben große Sorge, was die Menschenrechte angeht. Zwar hat die PRI in den letzten Jahren bei der Verbesserung der Gesetzgebung meistens mit der momentan noch regierenden PAN gestimmt. Die PRI ist aber für die systematische Verletzung von Menschenrechten in den Jahren ihrer Herrschaft bekannt. Offiziell lässt Peña Nieto verlauten, die Verbesserung der Menschenrechte gehörte zu seinen Schwerpunkten für die kommende Regierungszeit. Es bleibt abzuwarten und genau zu beobachten, was hier passiert.


Ska Keller ist Mitglied des Europäischen Parlaments.