Agnieszka Raczynska ist die Koordinatorin des Netzwerkes mexikanischer Menschenrechtsorganisationen „Red todos los derechos para todas y todos (Red TDT)“. Zuvor war sie u.a. bei der mexikanischen Sektion von Amnesty International und dem Menschenrechtszentrum „Fray Francisco de Vitoria“ tätig. Dem Red TDT sind 73 Gruppen aus 21 Bundesstaaten angeschlossen. Unter dem Dach des Netzwerkes dokumentieren die Organisationen Menschenrechtsverletzungen, leisten Lobbyarbeit, erarbeiten Analysen und entwickeln gemeinsame Strategien.
Sechs Jahre lang regierte Präsident Felipe Calderón das Land. Nach seinem Amtsantritt begann der konservative Politiker einen Krieg, der sich nach seinen Worten gegen die Kartelle richten sollte. Doch seither wurden unzählige unbeteiligte Personen ermordet, viele sind verschwunden oder mussten aus ihrer Heimat flüchten. Wie haben sich die Bedingungen für die Arbeit von Menschenrechtsverteidigerinnen und – verteidiger in dieser Zeit verändert?
Während Calderóns Regierungszeit endete der Dialog, der vorher zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und föderaler Regierung existiert hatte. Es gab wenig Kommunikation, die Gespräche waren kompliziert und wir machten kaum Fortschritte. Wir hatten nur sehr begrenzt Möglichkeiten, Vorschläge zur besseren Durchsetzung der Menschenrechte zu machen. Die Politik der Regierung konnten wir also nicht konstruktiv beeinflussen, etwa hinsichtlich Calderóns Sicherheitsstrategie, seiner Migrationspolitik oder der Arbeitsrechtsreform. Dazu kommt, dass seit Jahren sozialer Protest kriminalisiert wird und die Angriffe auf Menschenrechtsaktivisten und Journalisten stark zugenommen haben.
Mit welchen Konsequenzen?
Menschenrechtsverteidiger sind gezwungen, ihre Arbeitsweise zu ändern. Wir mussten in unserem Alltag Schutzmechanismen wie zum Beispiel Sicherheitspläne integrieren. Und wir mussten lernen, im Bereich der digitalen Sicherheit mit neuen Werkzeugen umzugehen. Früher war das einfach nicht nötig. Auch der Einsatz vor Ort ist erheblich schwieriger geworden. Viele Organisationen arbeiten sehr eng mit Gemeinden zusammen, das heißt, deren Mitglieder müssen in die Dörfer reisen oder Mittelspersonen treffen. Inzwischen ist es aber nur noch sehr eingeschränkt möglich, in weit abgelegenen Gemeinden zu fahren. Die Menschenrechtsverteidiger müssen genaue Zeitpläne beachten und können nicht einfach losfahren, wenn es sinnvoll wäre. Und sie müssen sich ständig mit der Frage beschäftigen, ob sie Übergriffe anzeigen oder nicht. Denn das kann zu unkalkulierbaren Konsequenzen führen.
Zusammengefasst: Die Kriminalisierung, das Fehlen eines Dialogs und die direkten Angriffe auf unsere Leute haben unmittelbare und schwerwiegende Auswirkungen auf unsere Arbeit und beeinflussen den Alltag und das Agieren Oppositioneller in den Gemeinden stark.
Gibt es Bereiche, die besonders betroffen sind?
Einige Organisationen begleiten Gemeinden, die sich im Widerstand gegen wirtschaftliche Projekte befinden, die ihnen von der Regierung aufgezwungen wurden. Sie kämpfen gegen den Bergbau, Staudämme, Windmühlen. Diese Aktivitäten haben besonders viele Gewaltakte gegen die Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort und Menschenrechtsverteidiger hervorgerufen. Auch Leute, die Migrantinnen und Migranten schützen, werden ständig von Mitgliedern des organisierten Verbrechens und föderalen sowie lokalen Sicherheitskräften angegriffen. Häufig agieren beide Sektoren gemeinsam. Ebenso trifft es Gruppen, die Fälle von Folter, extralegaler Hinrichtung oder Verschwindenlassen öffentlich machen und anzeigen.
Es wird viel über die Morde berichtet, aber bis heute gibt es keine eindeutige Erklärung dafür, warum so viele Menschen verschwinden. Haben Sie Erkenntnisse?
Es existieren zwar viele Hypothesen, aber auch wir haben keine definitive Antwort auf diese Frage. Man kann davon ausgehen, dass auf diese Weise Menschen für die organisierte Kriminalität rekrutiert werden, Frauen werden für den Drogenschmuggel oder als Prosituierte missbraucht. Viele Migranten werden entführt, um von ihren Familien Geld zu erpressen.
Es gibt verschiedene Gründe und Erklärungsversuche, aber alle hängen mit dem Organisierten Verbrechen, der Militarisierung und vor allem der Straflosigkeit zusammen. Man weiß nichts, weil nicht einmal ermittelt wird, wer die Ermordeten sind. Die Polizei sucht nicht nach den Verschwundenen und die Täter haben keine strafrechtlichen Konsequenzen zu fürchten. Die Angehörigen selbst müssen ihre verschwundenen Töchter und Söhne, Väter und Mütter suchen. Deshalb fordern sie, dass die Regierung endlich etwas unternimmt und so lange fahndet, bis sie die Opfer gefunden haben.
Dieses Jahr wurde das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten verabschiedet. Haben Sie Hoffnung, dass sich dadurch Ihre Arbeitsbedingungen verbessern?
Das Gesetz ist erst im April in Kraft getreten, nun muss es sich in der Praxis bestätigen. Es bietet uns und Journalisten die Möglichkeit, Schutzmechanismen in Anspruch zu nehmen. Gefährdete Menschenrechtsverteidiger müssen unterstützt werden, damit sie agieren können und ihre Familien sicher sind. Journalisten, die ihre Arbeit wegen Drohungen eingestellt haben, müssen Schutz bekommen, damit sie wieder schreiben und recherchieren können. Entscheidend ist aber auch, dass die Regierung präventive Maßnahmen implementiert, um Aggressionen vorzubeugen. Das sind die großen Herausforderungen, denen sie sich stellen muss.
Was erwarten Sie sonst von der neuen Regierung?
Wir haben wenig Hoffnung, dass sie die Menschenrechte auf die Tagesordnung setzt. In der Wahlkampagne waren sie jedenfalls kein Thema und der neue Präsident Enrique Peña Nieto zeigt daran bislang kein Interesse. Auch die Zivilgesellschaft spielt für ihn keine Rolle. Trotzdem: Diese Regierung erbt ein Land, das sich in einer humanitären Krise befindet. Sie ist dazu gezwungen, mit Calderóns Hinterlassenschaft umzugehen. Das muss Peña Nieto allein schon deshalb tun, um einen Unterschied zu seinem Vorgänger zu markieren. Auch wenn wir nicht sehr optimistisch sind, fordern wir, dass die Menschenrechte im politischen Geschäft eine Rolle spielen. Das betrifft nicht nur den Präsidenten und sein Kabinett, sondern auch den neuen Kongress und den Justizapparat.
Nach all den schlechten Nachrichten – gibt es in der Menschenrechtsarbeit auch Erfolge zu verbuchen?
Auf jeden Fall. Innerhalb der mexikanischen Zivilgesellschaft haben wir einige Allianzen geknüpft. Traditionelle Gruppen wie Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs haben sich den sozialen Bewegungen angenähert. Wir arbeiten enger mit Gemeinden zusammen, die sich im Widerstand befinden. Auch mit Arbeiterorganisationen wie der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft SME und mit Feministinnen suchen wir nach Lösungen für gemeinsame Probleme.
Wichtig ist zudem, dass sich die Kooperation zwischen den NGOs und dem akademischen Bereich stabilisiert hat. Das trägt vor allem mit Blick auf Analysen über die mexikanische Realität sehr gute Früchte.
Also wenig Hoffnung auf die Regierung, aber Vertrauen in die eigenen Kräfte?
Ich würde einfach sagen: Wir sind im Widerstand. Diese organisatorischen Prozesse, die übrigens auch innerhalb unseres Netzwerkes stattfinden, helfen uns, mehr Wirkungskraft in der mexikanischen Politik zu entfalten.
Dieses Interview wurde geführt von Wolf Dieter Vogel. Er ist Journalist und Publizist; zu seinen Schwerpunkten zählen Mexiko und die Menschenrechte.