Interview mit José Rosario Marroquín Farrera, seit Mai 2011 Leiter des Menschenrechtszentrums ProDH in Mexiko-Stadt.
Wie beurteilen Sie die Menschenrechtslage in Mexiko, sechs Jahre, nachdem Präsident Felipe Calderón den „Krieg gegen das Organisierte Verbrechen“ ausgerufen hat?
Dieser bewaffnete Konflikt hat dazu geführt, dass die öffentliche Sicherheit von einem Polizei- und Militärapparat beherrscht wird, der keinerlei Kontrolle unterliegt. Die erwiesenermaßen von diesen staatlichen Sicherheitskräften verübten Verbrechen werden darum strafrechtlich nicht geahndet.
Welche Rolle spielen die Kartelle des Organisierten Verbrechens in diesem Kontext?
Was entscheidend ist: Mexiko grenzt an die USA, dem größten Markt für Drogen, und Mexiko ist daher ein Transitland für Drogen. Das hat zu einem Kampf um Anteile an dem lukrativen Geschäft und zu einem Wettbewerb zwischen den Schmuggelrouten geführt. Dabei geht es in erster Linie um die Kontrolle bestimmter Territorien, die vom Organisierten Verbrechen beherrscht werden. Es findet meines Erachtens auch deshalb kein entscheidender Kampf gegen die Kartelle statt, weil das Geld, das durch den Drogenhandel verdient und anschließend durch Geldwäsche „legalisiert“ wird, wichtig für das Funktionieren der mexikanischen Wirtschaft ist – ohne diese Gelder wäre sie noch schwächer, als sie es ohnehin schon ist. Es fehlt eine vernünftige staatliche Industrie- und Wachstumspolitik.
Was muss sich Ihrer Auffassung nach in Mexiko ändern?
Für uns gibt es in erster Linie zwei Konfliktherde: Der eine ist die eben erwähnte Sicherheitspolitik ohne Kontrollmechanismen. Recht und Ordnung müssen auch für die Polizei- und Militärangehörige gelten. Beim anderen handelt es sich um Gesetzesverstöße bei großen Investitions- und Infrastrukturprojekten. Niemand fragt nach den betroffenen Gemeinden. Stattdessen führen diese Vorhaben nicht selten zu Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen oder zu ökologischen Schäden. Strafgelder für die von Unternehmen verursachte Umweltzerstörungen werden oft nicht strikt eingefordert, obwohl es sich um große Summen handelt. Auch das muss sich ändern.
Welches Niveau haben die Vertreibungen in Mexiko denn erreicht?
Nach Schätzungen gibt es in Mexiko rund 250.000 Flüchtlinge. Die meisten von ihnen sind von der Gewalt im Land vertrieben worden; andere durch Naturkatastrophen und dadurch, dass es nur unzureichend rechtlichen Schutz für die ländliche Bevölkerung bei einer steigenden Zahl von Landkonflikten gibt.
Warum haben solche Konflikte um Landrechte zugenommen?
Zur Erklärung dieser Entwicklung müssen wir bis zur mexikanischen Revolution von 1910 zurückgehen, die Bodenenteignungen zur Folge hatte. 1934 kam es schließlich zu einer Landreform, und es wurde eine besondere Form von Landbesitz ausgeweitet – das von Dorfversammlungen kontrollierte und verwaltete Gemeindeland. Dieses Land durfte nicht verkauft werden, was einen Schutz vor Vertreibungen bedeutete. Doch 1992 gab es – vor allem aufgrund ausländischen Drucks – erste Reformen, die es den Dorfversammlungen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubten, das Gemeindeland zu parzellieren und zu privatisieren. Jetzt gibt es einen neuen Gesetzesvorschlag, der den Verkauf von Gemeindeland weiter erleichtern würde: Statt der Zustimmung von drei Vierteln der jeweiligen Dorfversammlung soll dafür nun nur noch eine einfache Mehrheit notwendig sein. Dabei gibt es auch heute schon massenhafte Vertreibungen, nicht zuletzt verursacht durch transnationale Unternehmen aus dem Ausland, die ebenso im Bergbausektor und in der Landwirtschaft wie bei der Erschließung von Süßwasserquellen und der Nutzung biologisch wertvoller Waldgebiete tätig sind. Das betrifft sowohl Regionen im Norden wie im Süden Mexikos und führt zu einer weiteren Verarmung der ländlichen Bevölkerung.
Und wem hilft das Menschenrechtszentrum ProDH konkret?
Zum Beispiel kümmern wir uns um unschuldig Verurteilte. Denn der Staat versucht etwa im Falle von entdeckten Massakern, hart gegen vermeintliche Täter vorzugehen. Da die staatlichen Instanzen aber keine gute Ermittlungsarbeit leisten, kommt es immer wieder vor, dass Unschuldige verhaftet und zu hohen Haftstrafen verurteilt werden. Wir kümmern uns um diese Menschen und bieten ihnen rechtlichen Beistand an – auch, um die wirklichen Täter zu ermitteln.
Und diese kommen zum Teil aus den Reihen der mexikanischen Armee?
Ja, das steht außer Frage. Nur unterliegen Menschenrechtsverletzungen von Armeeangehörigen noch der Militärgerichtsbarkeit, und diese verfolgt entsprechende Fälle nur unzureichend oder gar nicht. Ein Beispiel: Bereits in den 90er Jahren wurden die Ökobauern Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera aus dem Bundesstaat Guerrero im Süden Mexikos fünf Tage lang von der Armee festgehalten und gefoltert, bevor sie an Zivilbehörden übergeben wurden. Beide haben dieses Vorgehen angezeigt; es ist trotzdem weder von militärischer noch von ziviler Seite zu Untersuchungen gekommen – bis heute nicht. Darum ist eine der Hauptforderungen mexikanischer Menschenrechtsorganisationen und internationaler Institutionen, wie zum Beispiel des Interamerikanischen Gerichtshofes, dass solche Fälle nicht mehr vor militärischen Tribunalen verhandelt, sondern an die zivile Gerichtsbarkeit übergeben werden.
Und wie ist der derzeitige Stand der Dinge?
Der Interamerikanische Gerichtshof hat 2009 und 2010 in mehreren Urteilen festgestellt, dass sich die Militärgerichtsbarkeit nur auf Vergehen von Angehörigen der Streitkräfte gegen die Militärdisziplin beziehen dürfe, wie es auch im Artikel 13 der Verfassung definiert ist. In allen anderen Fällen, eben auch bei Menschenrechtsverletzungen, müssten zivile Gerichte zuständig sein. Allerdings ist im Militärgesetzbuch (MGB) Mexikos festgelegt, dass die Militärgerichtsbarkeit häufig auch dann gilt, wenn Zivilpersonen betroffen sind. Wir fordern darum die Streichung dieses verfassungswidrigen Artikels im MGB.
Ist es denn wahrscheinlich, dass eine solche grundlegende Reform umgesetzt werden kann?
Immerhin gab es schon eine erste Reform der Rechtsprechung: Die Zivilrichter können nun die Übergabe von Fällen beantragen, in die Armeeangehörige verwickelt sind. Das ist schon ein erster Fortschritt. Was aber fehlt, damit dies nicht individuell entschieden, sondern zu einer allgemeingültigen Rechtsnorm wird, ist eine Abänderung des MGB. Im April dieses Jahres war es schon fast so weit – dann hat die staatliche Exekutive aber Druck dagegen gemacht. Nun müssen wir wieder von Neuem darum kämpfen, dass die Legislative tätig wird. Bei der Zusammensetzung des neu gewählten Parlaments dürfte das allerdings ein schwieriges Unterfangen werden. Aber wir machen weiter Druck und werden dabei vom Interamerikanischen Gerichtshof unterstützt, für den die noch geltende Auslegung der Militärgesetzgebung gegen internationales Recht verstößt.
Halten Sie denn Mexiko heute schon für einen Rechtsstaat?
Nach meiner Meinung ist er das nicht. Es gibt noch zu viele Ausnahmeregelungen, die bestimmte Gruppen bevorzugen. Außerdem handeln viele Behörden weiterhin willkürlich und halten sich nicht ausreichend an Rechtsnormen. Das hilft nicht nur dem Organisierten Verbrechen, sondern auch transnationalen Unternehmen, die Vorschriften zu umgehen versuchen.
Und wie kann die Zivilgesellschaft dabei helfen, eine rechtstaatliche Entwicklung voranzubringen?
Sie muss zum einen einfordern, dass die Justizinstitutionen generell professioneller arbeiten. Diese stehen zunehmend unter der Beobachtung von Menschenrechtsorganisationen, und eine solche bürgerschaftliche Partizipation muss weiter gefördert werden. Das sind erste Fortschritte, die Zeit brauchen, weil wir aus einer ausgeprägten autoritären Kultur kommen, die eine große Kluft zwischen Gesellschaft und Regierung geschaffen hat. Zum anderen sollten sich zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen dafür einsetzen, dass der Staat auch bei Umweltverletzungen und Konflikten um Landrechte geltendes Recht anwendet und keine Ausnahmeregelungen zulässt.
Das Interview wurde geführt von Ole Schulz. Er ist Historiker und Journalist (u.a. -taz- und Deutschlandradio Kultur).