Mit gerade einmal 21 Prozent erzielte der grüne Präsidentschaftskandidat Antanas Mockus in der ersten Wahlrunde in Kolumbien gegen die Umfragen der letzten Wochen ein unerwartet schlechtes Ergebnis. Der Kandidat des Regierungslagers um den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, Juan Manuel Santos, erreichte überraschende 46,6 Prozent und damit fast die absolute Mehrheit. Erstaunlich gut schnitten auch die Kandidaten des linken Polo Democrático, Gustavo Petro, und des konservativen Cambio Radical, Germán Vargas Llera, mit jeweils rund 10 Prozent ab. Die beiden historischen und traditionsreichen, ehemals großen Parteien Partido Liberal und Conservador sind mit dieser Wahl in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Dennoch kommt es nun zu einem zweiten Wahlgang in rund drei Wochen, für den Santos die besten Chancen zu haben scheint.
Der Wahltag begann früh um 07.00 Uhr morgens, und zur Erleichterung im Lager des grünen Kandidaten Antanas Mockus bei schönem Wetter – Regen hätte nach Ansicht einiger in der Kampagne einen nicht unerheblichen Teil der Wählerschaft vom Urnengang abgehalten. Bereits um 09.00 Uhr morgens bildeten sich in einem der mit rund 130 Wahltischen größten Wahllokale des Landes – praktischerweise auf dem Parkplatz einer glitzernden Shopping-Mall errichtet – lange Schlangen mit tausenden von Menschen, die sich um einen ganzen Häuserblock wanden. Das Sicherheitsaufgebot an Polizei und Militär war, wie angekündigt, beträchtlich, jedoch insgesamt überraschend freundlich und unaufdringlich – da fiel die Militärpräsenz zu den Wahlen in Chile deutlicher ins Auge.
Doch bereits um 11.30 Uhr zeichnete sich in dem genannten Groß-Wahllokal eine Tendenz ab, die die grünen Wahlhelfer vor Ort sichtlich beunruhigte: In weitaus überwiegender Anzahl erschienen vor allem Wähler der mittleren und älteren Jahrgänge, blieben die Jüngeren in deutlicher Minderheit. Die Kampagne des grünen Kandidaten hatte vor allem auf die Mobilisierung der Erstwähler gesetzt und sich angesichts rasanter Zustimmungszuwächse auf verschiedenen Internetseiten wie Facebook und Twitter große Hoffnungen gar auf einen Sieg in der ersten Runde gemacht – in der Tat waren in den vier Wochen vor der Wahl die Zahl der “Grünen- oder Mockus-Freunde” auf Facebook von rund 300.000 auf fast 600.000 hochgeschnellt.
Die Grenzen von Facebook, Twitter & Co.
Doch wenige Stunden später zeigten sich die Grenzen von Facebook, Twitter & Co zumindest in einem Land wie Kolumbien. Als gegen 16.15 Uhr, eine Viertelstunde nach Schließung der Wahllokale, die ersten Wahlprognosen und nur wenig später in rasanter Geschwindigkeit die ersten Auszählungsergebnisse über die Leinwände im grünen Wahlkampfhauptquartier im Centro de Convenciones der Camara de Comercio Exterior (der Außenhandelskammer) flimmerten, breitete sich in dem riesigen Saal lähmendes Schweigen unter den vor allem jüngeren Anhängern aus. Zu dem Zeitpunkt war die Tendenz bereits eindeutig: Santos lag mit über 20 Prozentpunkten vor Mockus, die Ergebnisse aus den Regionen an der Atlantikküste sahen noch düsterer aus. Mit kaum verhohlener Fassungslosigkeit befürchteten streckenweise sogar einige Mitarbeiter der Kampagne einen Wahlsieg Santos in der ersten Runde.
Wie konnte es zu diesem Einbruch in der Stimmabgabe kommen, nachdem die Umfragen wochenlang ein mehr oder weniger schwankendes Patt mit höchstens zwei oder vier Prozentpunkten Differenz prognostiziert hatten? Einerseits lag der Trugschluss in der Wahlkampfzentrale sicherlich im Kalkül begründet, dass angesichts von 600.000 aktiven Freunden auf Facebook und der enormen Eigendynamik der Kampagne mit deutlich mehr Stimmen zu rechnen sei, da diese 600.000 ihrerseits als freiwillige Wahlkämpfer ihr persönliches Umfeld zu einer Stimmabgabe für Mockus mobilisieren würde – dem war, angesichts von “nur” rund 2 Millionen tatsächlich abgegebenen zusätzlichen Stimmen, offensichtlich nicht so: Es war damit gerechnet worden, dass bei dieser Wahl nicht nur die üblichen 12 Millionen Wähler (von insgesamt rund 30 Millionen Wahlberechtigten) ihre Stimme abgeben würden, sondern insgesamt rund 16 Millionen, von denen dann vier Millionen Erstwähler vor allem Mockus wählen würden. Doch die Zuwächse für den Kandidaten des Polo, Gustavo Petro zeigen, dass nicht alle Erstwähler oder zusätzlichen Stimmen an Mockus gingen.
Schlagworte oder politische Argumente?
Die atemberaubende und auch faszinierende Dynamik, mit der Tausende jüngere und auch ältere Bürgerinnen und Bürger in den Wochen vor der Wahl sich – zum Teil ohne Absprachen mit der Wahlkampfzentrale – in Eigeninitiative in Flash-Mobs, Demonstrationen und mit selbstgedruckten Plakaten in den Wahlkampf eingemischt hatten, die Schlagworte des “La Union hace la fuerza” oder “Tu vida es sagrada” wiederholt hatten, verleiteten wohl vor allem den Hauptkandidaten Mockus dazu, weniger die Skripte mit den politischen Argumenten seines Teams zu beachten, denn weiterhin auf den gewissen Mockus-feel-good-Faktor und die unzweifelhaft in der Luft liegende Aufbruchstimmung zu setzen.
Zustimmung zu Uribes Sicherheitspolitik – Überdruss mit dem politischen System und der Gewalt
Wider Erwarten und zur Überraschung zahlreicher Beobachter ist, in gewisser, widersprüchlicher Weise, zwar einerseits die Zustimmung zur Politik Uribes der wiedererlangten Sicherheit vor allem in den Städten mit rund 74 Prozent zwarweiterhin außerordentlich groß. Genauso tief sitzt jedoch auch die Ablehnung und der Unmut mit dem korrupten politischen und Parteien-System, der mit 22 Prozent sehr hohen Arbeitslosigkeit, der sozialen und politischen Polarisierung sowie der weiterhin extrem hohen Gewaltraten vor allem in ländlichen Regionen – hier werden weiterhin fast täglich Kleinbauern ermordet, wenn sie denn ihr Land nicht an die neuen, oftmals mit Narko-Dollar reich gewordenen Großgrundbesitzer verkaufen wollen. Liquidationen von Gewerkschaftern sind an der Tagesordnung. Vor allem diese Gewalttaten werden von vielen Beobachtern und Experten im Land mit dem politischen Lager des Präsidenten Uribe in Verbindung gebracht.
Die Enttäuschung nach dem Schock
Besonders deutlich wurde dies, als am Wahlabend, nach Auszählung praktisch aller Wahllokale und der Bestätigung des saftigen Abstandes zum Uribe-Kandidaten Santos, Mockus dann schließlich in dem Wahlkampfzentrum der Kampagne vor rund tausend Anhängern auf die Bühne trat und sich, irritierenderweise wie andere Kandidaten auch von seiner Familie umringt, minutenlang feiern ließ, ohne auch nur eine einzige klare politische Botschaft zu formulieren. Auch hier wieder das beinahe religiös-ritualisierte, fast sakrale Abfeiern der skandierten Schlagworte, im Chor mit den zahlreichen Anhängern. Doch das war an diesem Abend angesichts dieses Ergebnisses dann auch einer ganzen Reihe von reflektierteren Anhängern offensichtlich zu viel: Fassungslos schüttelten politische und andere Weggenossen im hinteren Teil des Saales den Kopf, als ein sichtlich nervöser Lucho Garzon Mockus, von hinten ins Ohr flüsternd darauf hinweisen wollte, dass diese Ansprache live im TV übertragen werde – vermutlich in der Absicht, ihn nun zu einer klaren, politischen Botschaft auch an die Bürgerinnen und Bürger des Landes zu überreden. Doch die einzige Botschaft war schließlich ein Koalitionsangebot an die anderen Kandidaten des Uribe-Gegner-Lagers, sich für den zweiten Wahlgang nun seiner Kampagne anzuschließen. Es fehlte eine deutlich ausformulierte, politisch-programmatische Kampfansage zur Mobilisierung nicht nur der eigenen Anhänger, sondern auch der potentiellen Wählerinnen und Wählern im Land, eine Beschreibung des eigenen politischen Entwurfes als klaren Gegenentwurf zum “alten” System und zur Politik Santos´, den Viele im Land – im Gegensatz zu Uribe- aufgrund seiner Amtsführung als Verteidigungsminister für die schlimmstmögliche Präsidial-Variante erachten. Für viele Anwesende im Saal, wuchsen sich die Zweifel an einem Wahlsieg in der zweiten Runde mit dieser “vergeigten” Ansprache zur Gewissheit aus.
Radikaler Bruch mit den alten Gewohnheiten
Ein weiterer Grund für den Einbruch in den Stimmen kann daran gelegen haben, dass die Kampagne um Mockus, die ihren Wahlkampf vor allem konsequent auf “Legalität, Bekämpfung der Korruption und Transparenz” ausgerichtet hatte, darauf verzichtete, vor allem in den ländlichen und Küsten-Regionen Transportmöglichkeiten für ihre potentiellen Wähler zur Verfügung zu stellen. Das Argument: Man wolle radikal mit den schlechten Gewohnheiten des alten, verfilzten Politik- und Parteienapparates brechen, der in der Tat traditionellerweise diese und andere Wohltaten an Wahltagen zur – vorsichtig formuliert – Stimmbeeinflussung nutzte. So löblich diese Absicht auch war, so naiv mag sie auch gewesen sein: Einerseits in dem festen Glauben an die hohe Mobilisierungsbereitschaft der Wählerinnen und Wähler, andererseits in womöglich fataler akademisch-urbaner Ignoranz der sozialen und geographischen Gegebenheiten vor Ort, in deren Rahmen ein Busticket für umgerechnet 50 Eurocent eben dann doch eine hohe finanzielle Hürde darstellt.
Gerüchte um Wahlmanipulation
Auch machten noch am selben Abend sofort Gerüchte um Wahlmanipulationen die Runde, offensichtlich befeuert vom Misstrauen gegenüber der atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der die Auszählungsergebnisse veröffentlicht wurden. In der Tat lagen bereits um 20.00 Uhr abends die Ergebnisse bis auf ein paar Wahllokale fest, in nur rund vier Stunden waren alle Stimmen, selbst in vielen ländlichen Gegenden gezählt worden: Auch für europäische Verhältnisse ein bemerkenswerter Vorgang, und angesichts der geographischen und historisch-politischen Realitäten in vielen Gemeinden des Landes für Kolumbien eine kleine Sensation. Vor dem Hintergrund von zahlreichen, offiziell angezeigten Unregelmäßigkeiten und noch anhängigen Klärungsverfahren bei den vergangenen Kongress-Wahlen im März, sind die Nervosität und das Misstrauen nachvollziehbar. Doch die offizielle Wahlbeobachtungsmission der OAS bestätigte am Montag einen deutlich besseren und gesetzmäßigeren Verlauf als noch bei den Kongresswahlen im März, wo die Mission 6 Fälle von Stimmenkäufen beobachtet hatte. Zu den Präsidentschaftswahlen am Sonntag bemängelte die OAS die offenen Wahlkabinen, die keine geheime Stimmabgabe ermöglichten, was insbesondere in kleineren Gemeinden angesichts der Präsenz von bewaffneten Gruppen (zumeist ehemalige oder aktive Paramilitärs) sehr homogene Wahlergebnisse produzierte. In der Tat sind die Pappstellwände zu allen Seiten hin offen, und die Kreuze auf dem Wahlschein können im Prinzip problemlos von außen eingesehen werden. Dennoch, und im Einklang mit der OAS-Einschätzung, wies auch Mockus die Möglichkeit von Wahlfälschung oder -manipulation deutlich zurück.
Erpressung mit Sozialleistungen
Was allerdings aus verschiedenen Landes- und Stadtteilen in den größeren Städten immer wieder berichtet wurde, waren gezielte politische Einschüchterungen oder Erpressungen insbesondere in den ärmeren Vierteln, gezielt an die Empfänger der mit rund 50 Euro mageren Familiensozialhilfe gerichtet, die die Regierung seit einiger Zeit auszahlt. Weniger als offene Gewaltandrohung, mehr als politisches Druckmittel mit dem Hinweis auf einen Wegfall dieser Sozialleistungen bei einem Regierungswechsel. Angeblich sollen bis zu 3 Millionen Personen diese Zahlungen erhalten, doch ob alle tatsächlich Mockus gewählt hätten, ist fraglich.
Schwieriger Endspurt
Rund drei Wochen bleiben nun bis zum zweiten Wahlgang, und es steht bereits jetzt fest, dass beide Kandidaten neue Strategien entwickeln und um Stimmen aus den anderen, affinen Kandidaturen werben müssen. Santos leitete, offensichtlich besser vorbereitet als Mockus, bereits am Wahlabend die zweite Wahlkampfrunde mit der Botschaft um eine neue nationale Einheit ein und muss sich, angesichts des Stimmen-Polsters aus der ersten Runde, nun deutlich weniger Sorgen machen als zuvor. Dies hat er auch, vielleicht sogar vor allem, dem amtierenden Präsidenten Uribe zu verdanken, der sich in den vergangenen Wochen immer offener zugunsten von Santos in den Wahlkampf eingemischt hatte, gegen die geltende Gesetzgebung. Und das, obschon sich Santos in den Wochen zuvor angesichts der steigenden Umfragewerte von Mockus immer deutlicher und drastischer von Uribe abzusetzen versuchte, um eine neue rechte Koalition mit den alten Kräften der Oligarchie zu ermöglichen – während Santos einer traditionellen Oligarchenfamilie abstammt, gilt Uribe als Emporkömmling, der sich nie besonders gut mit dem historischen Establishment verstanden haben soll.
Doch trotz aller Wut auf Santos´ “Verrat” ist nach Ansicht von Beobachtern die Panik Uribes größer, von einer neuen, echten Reformregierung, die sich Rechstaatlichkeit und Legalität auf die Fahnen geschrieben hat, womöglich wegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungen an den Internationalen Gerichtshof ausgeliefert zu werden.
Für das grüne Wahlbündnis um Mockus sind die kommenden drei Wochen eine außerordentliche, kaum noch zu bewältigende Herausforderung: Auch wenn sie mit den Stimmen anderer Kandidaturen rechnen können, wird es dennoch nicht zu einem Wahlsieg reichen. Die einzige Hoffnung besteht nun darin, weitere Nichtwähler zur Stimmabgabe zu mobilisieren, ohne die bisherigen Stimmen in einem Motivationsloch zu verlieren. Doch dafür müssen nun klarere politische Aussagen und Botschaften gefunden werden, und muss vielleicht doch noch mal auf das ein oder andere konventionelle Instrument wie Busfahrten in die Wahllokale zurückgegriffen werden.
Auch wenn der Kandidat vielleicht am Sonntagabend noch kein Einsehen hatte, ist zumindest in der Kampagne die Einsicht in die Notwendigkeit einer neuen Strategie gewachsen.
“Grüne Zukunft” in der Opposition?
Selbst wenn das Ziel einer “weltweit ersten” grünen Präsidentschaft bei diesen Wahlen nicht erreicht werden kann, sind die Mühen und der Einsatz nicht umsonst gewesen: Die Bereitschaft, eine neue, ernsthafte und programmatischer orientierte politische Kraft um die grüne Partei und die vier Kandidaten zu entwickeln, ist bei den meisten Akteuren vorhanden, auch wenn nicht alle der zahlreichen, in den letzten Wochen dazu gestoßenen Persönlichkeiten unbedingt auf Dauer Teil dieses Projektes werden sollten. Die zivilgesellschaftliche Dynamik um diese Kandidatur zeigt auf jeden Fall, dass auch in einem Land wie Kolumbien eine reale “Marktnische” für eine echte Reformkraft existiert, selbst wenn noch zahlreiche programmatische Hausaufgaben zu erledigen sind; unter anderem diejenigen, die eine klare ökologische Handschrift zeitigen.
Für einen Anhänger des grünen Kandidaten war am Wahlabend die “Niederlage” in der ersten Runde sogar eher ein Aufbruchssignal: Nun könne in der Opposition die Partei programmatisch und organisatorisch so aufgebaut werden, dass bereits zu den Kommunalwahlen im kommenden Jahr eine solide lokale und regionale Basis existiere. Dann würden auch zu den nächsten Präsidentschaftswahlen die Karten neu gemischt.
Michael Álvarez Kalverkamp ist Leiter des Büros Cono Sur Santiago de Chile der Heinrich-Böll-Stiftung