Nach dem Überraschungserfolg der Grünen Kandidatin Marina Silva im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Brasilien am 3. Oktober ist weiter offen, wie die Grüne Partei das Potential von fast 20 Millionen Wählerstimmen politisch einsetzen soll und wird. Unterdessen werden ausgerechnet reproduktive Rechte sowie die Rechte der Schwulen und Lesben zum wahlentscheidenden Thema hochgezogen.
Zwar wird nicht Marina sondern der frühere Gouverneur von São Paulo, José Serra, gegen Dilma Rousseff in der Stichwahl antreten – Serra holte knapp 33 Prozent. Aber es war Marina, die Dilma jene Stimmen abnahm, die sie für einen Sieg schon im ersten Wahlgang sicher glaubte und sie auf knapp 47 Prozent drückte. 19,3 Prozent und fast 20 Millionen Wählerinnenstimmen: Auch wenn die Umfragewerte zuletzt nach oben gezeigt hatten, war mit soviel Zuspruch für die Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei Brasiliens (Partido Verde, PV) nicht zu rechnen gewesen. Jetzt aber werben beide Seiten, Dilmas Arbeiterpartei PT und die Sozialdemokratische Partei Brasiliens PSDB von Serra offensiv um Marinas Unterstützung für die Stichwahl am 31. Oktober. Grüne Themen hätten ihnen schon immer am Herzen gelegen, und Wirtschaftswachstum und Umweltschutz seien problemlos vereinbar, versicherten beide Kontrahenten fast gleichlautend in den Tagen nach dem ersten Wahlgang – durchaus überraschend für den, der die Wahlkampfmonate zuvor verfolgt hatte.
Die Frage, wen Marina jetzt unterstützen wird, hat auf der persönlichen Ebene eine eigene Antwort. Es war wesentlich die Bergbau- und Energieministerin und spätere Präsidialamtschefin Dilma Rousseff, die Marina dazu brachte, ihr Amt als Umweltministerin niederzulegen und Monate später ihre politische Heimat PT zu verlassen. Gegen Dilmas konsequente und von Lula unterstützte Großprojektepolitik, die Umweltauflagen lediglich als Wachstumshindernis begriff, zog sie Mal um Mal den Kürzeren.
Doch Marina besteht darauf, keine vorschnelle Entscheidung zu fällen. Ihr engeres Umfeld tendiert dazu, sich für die Stichwahl neutral zu verhalten. Marina hat für den 17. Oktober einen Parteitag einberufen, der über das weitere Vorgehen entscheiden soll. Auch Vertreter der Zivilgesellschaft sowie Intellektuelle sollen teilnehmen und mitentscheiden können. Dieses Vorgehen ist sehr ungewöhnlich für die Politik Brasiliens. Hier stehen die Personen im Mittelpunkt und sie taktieren auch in der Regel nach persönlicher Präferenz.
Divergenzen zwischen Marina und der PV sind damit vorprogrammiert. Denn Neutralität hieße in der Augen der Parteiführung, das ihr so unverhofft zugefallene Verhandlungspotential liegen zu lassen. Immerhin hat die PV jetzt Aussichten auf Beteiligung an einer Bundesregierung. Die Tendenz in der Partei geht klar Richtung Serra und PSDB. Das Zentrum der Partei und Herkunft der wichtigsten Parteifunktionäre liegt in den Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais. In diesen Staaten sind PV und PSDB Koalitionen eingegangen. In São Paulo ist sowohl in der Stadt wie im Bundesstaat die PV an der Regierung beteiligt. Auch im Bundesstaat Rio de Janeiro war der (chancenlose) Kandidat für den Gouverneursposten, Fernando Gabeira, ein formelles Wahlbündnis mit der PSDB eingegangen. Er ist als neuer Stellvertreter für einen Präsidenten Serra im Gespräch. Serra soll der PV angeblich außerdem vier Ministersessel angeboten haben, wenn Marina ihn unterstützt.
Kampagnenthema Abtreibung
Unterdessen werden ausgerechnet die reproduktiven Rechte von Frauen sowie die die Rechte sexueller Minderheiten zum Gegenstand einer Kampagne gegen Dilma Rousseff. Fernsehen und Zeitungen wiederholen beständig, dass die „Religionsfrage“ ausschlaggebend war für das Schwächeln Dilmas auf der Ziellinie und auch den Ausgang des zweiten Wahlgangs beeinflussen könne. Religiöse Aktivisten nutzen vor allem die sozialen Netzwerke im Internet, um Dilma aufzufordern, sich klar gegen Abtreibung, Schwulenehe und zu Gott bekennen. Im Bundesstaat Espirito Santo haben evangelikale Führer öffentlich dazu aufgerufen, Dilma im zweiten Wahlgang aufgrund ihrer Haltung zu Abtreibung und Eheschließung für Homosexuelle zu boykottieren und Serra zu wählen. Dieselben Führer hatten vor dem ersten Wahlgang zur Wahl Marinas aufgerufen und waren mit ihr bei einer Wahlveranstaltung öffentlich aufgetreten. Aber auch katholische Bischöfe rufen dazu auf, Dilma nicht zu wählen. Wem die Haltung der PT-Kandidatin in diesen Fragen wichtig ist, hat sich von der rhetorischen Volte Dilmas in der letzten Wahlkampfphase nicht überzeugen lassen. In den Wochen vor dem 3. Oktober hatte Dilma sich mehrfach als Kirchgängerin fotografieren lassen, gegen Abtreibung ausgesprochen und das Gespräch mit Religionsführern gesucht. In der Vergangenheit hatte sie dagegen immer darauf bestanden, dass in der Abtreibungsfrage der Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung im Vordergrund stehen müsse. Frauen dürften nicht weiter an Abtreibung sterben, weil sie aus Angst vor Strafverfolgung Kurpfuscher aufsuchten. In Brasilien nehmen nach Schätzungen des Gesundheitsministeriums jährlich bis zu 1,25 Millionen Frauen einen Schwangerschaftsabbruch vor. Mindestens 250 Frauen sterben an den Folgen der Abtreibung, die damit die fünftgrößte Ursache der Müttersterblichkeit in Brasilien ist.
2007 fand sich die Forderung nach Selbstbestimmung der Frauen und Entkriminalisierung der Abtreibung noch im Parteiprogramm der PT und in der ersten Fassung des Dritten Nationalen Menschenrechtsplans, den die Regierung Lula vergangenen Dezember vorlegte. Noch vor einem Jahr hatte die PT einen ihrer Bundesabgeordneten aus der Partei gedrängt, weil er sich öffentlich gegen jegliche Legalisierung der Abtreibung aussprach. Luiz Bassuma fand dann, mit dieser Position, Aufnahme in der PV in Bahia. Im Menschenrechtsplan fand sich auch das Ziel, die Zivilehe für Homosexuelle einzuführen, eine Forderung, die in die Debatte zurückkehrte, als das argentinische Parlament gegen den Widerstand der Kirchen die Zivilehe für Schwulen und Lesben einführte. Sowohl Serra als auch Dilma sprachen sich für einen Zivilbund „mit allen Rechten und Pflichten der Ehe“ (Serra) aus. Jetzt will die PT auch dieses Thema aus ihrem Programm streichen.
Keine grüne Welle, aber eine grüne Chance
So groß und berechtigt die Freud im grünen Lager über den Erfolg Marinas ist – er bedeutet noch keine „Grüne Welle“, wie es hier allenthalben heißt. Die Wahlerfolge der PV selbst waren, wenn überhaupt, bescheiden. Sie gewann zu den bisherigen 14 Mandaten im Bundesabgeordnetenhaus eines hinzu und erreicht damit 2,9 Prozent der Sitze. Ihren einzigen Sitz im Senat, den von Marina, hat sie verloren. Auf Landesebene kommt sie in allen 27 Parlamenten zusammen auf gerade 37 (2006: 34) Abgeordnete und war weit davon entfernt, eine Gouverneurswahl zu gewinnen. Mit Blick aufs ganze Land ist die PT und die von ihr geführte Regierungsallianz gestärkt aus der Wahl hervorgegangen, während die Opposition Federn lassen musste.
Marina hat ihre Stimmen vor allem im entwickelteren Süden des Landes und in den großen Städten geholt. Ein Viertel ihrer Stimmen erhielt sie allein in São Paulo. In der Bundeshauptstadt Brasília holte sie 47 Prozent aller gültigen Stimmen. Die politischen Beobachter sind sich einig, dass vor allem gebildete Mittelschichten, junge Menschen, Frauen und konservativ-Religiöse für Marina gestimmt haben. Nur ein Teil davon hat sie wegen ihrer grünen Programmatik gewählt. Eine ganze Reihe sind Protestwähler – Menschen, die die Unterschiedslosigkeit der beiden Hauptkandidaten angeödet hat, die sich abwandten von einem Wahlkampf, der wichtige Themen zumeist und eine Zukunftsvision gänzlich aussparte. Marinas persönliche Integrität und die Biographie einer, die von ganz unten kommt, sei wichtig für die neuen Mittelschichten, analysiert der leitende Redakteur der Zeitschrift CartaCapital, Antonio Luiz Costa. Für diese gäben weder die Gleichheitsideale der klassischen Linken noch die Privilegienorientierung der Rechten den Ausschlag. Vielmehr seien sie ideologisch diffus und hätten daher positiv auf das Angebot Marinas reagiert, dass ebenfalls ideologisch eher diffus zwischen PT und PSDB einen Wandel und Zukunftsfähigkeit versprochen habe.
Marinas Erfolg ist aber in Teilen durchaus als ein Votum für ein anderes, ein grünes Entwicklungsmodell zu werten (s. "Die Kandidatin vom Amazonas in einem Wahlkampf, der keiner ist"). Schon am Wahlabend entströmte interviewten Politikern auffallend häufig das Wort von der “Nachhaltigkeit”. Einmal abgesehen davon, dass der Begriff auch in Brasilien zur Unkenntlichkeit verwässert ist, könnte dem politischen System dämmern, dass die Umwelt- und Klimaschutz und die Frage, was das für die nationale Entwicklungspolitik bedeutet, immer mehr Menschen in Brasilien ein Anliegen ist. Die PV hat angekündigt, ein Minimalprogramm als Verhandlungsbasis vorzulegen. Ein Punkt darin wird sicher sein, den Gesetzentwurf für ein neues Waldgesetz zurückzunehmen. Das Projekt sieht unter anderem vor, die Mindestfläche permanent geschützter Waldbereiche zu reduzieren und illegale Entwaldungen vor 2008 straffrei zu stellen.
Die Grüne Partei Brasiliens hat ihre Modernisierung noch vor sich. Sie ist eine kleine, weltanschaulich und programmatisch heterogene Partei mit Personal von sehr unterschiedlicher politischer Qualität, Positionierung – siehe Bassuma in Bahia - und Integrität. Die PT ist nach acht Jahren Präsidentschaft Lulas im Kreis der traditionellen Parteien mit ihren eingeübten Verfahren des Machterhalts angekommen. Programmatisch kann man sich noch immer auf eine starke soziale Orientierung, gewerkschaftliche Nähe und Treue zum starken Staat verlassen. Doch die Zeiten, in denen sie als einzige moderne Partei Brasiliens galt, mit klarem Programm, professionellem Personal, Fraktionsdisziplin und einer Ethik, die den Unterschied machte, scheinen vorbei. Und das nicht, weil die anderen Parteien sich diesem Modell angenähert hätten. Hier liegen Chancen für die PV, die allerdings hart erarbeitet sein wollen.
Dawid Danilo Bartelt ist der Büroleiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien, Rio de Janeiro.