Die Entwicklungen der letzten Tage stellen eine Zäsur im politischen System des Iran dar. Der Ausgang des aktuellen Machtkampfes ist aus der Ferne schwer einzuschätzen. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die beiden Lager die jeweilige Wahlniederlage nach der Überprüfung durch den Wächterrat anerkennen werden. Die nachfolgenden Punkte zur Lage im Iran sind mögliche Anhaltspunkte, um eventuelle Faktoren zu identifizieren, auf die es in den nächsten Wochen ankommen wird.
Stärke und Legitimation der Opposition
Die Opposition setzt sich im Gegensatz zur Khatami-Ära aus einflussreichen Pragmatikern wie Rafsanjani und bekannten Klerikern zusammen, die den Neokonservativen um Ahmadinejad und deren Militarisierung des politischen Systems feindlich gegenüberstehen. Ebenfalls neu ist, dass die Machtkämpfe zwischen den Lagern vollkommen offen ausgetragen werden und die Legitimität des Systems öffentlich in Frage gestellt wird. Die Fähigkeit der Opposition, weitere Anhänger im konservativen Lager und unter Klerikern zu gewinnen, wird in den nächsten Wochen eine bedeutende Rolle spielen. Besonders das Eingreifen auf Seiten der Opposition von Hossein Ali Montazeri, ist von großer Bedeutung, da er der einflussreichste Geistliche Irans und ein ehemaliger Gegenspieler von Khomeini ist. Seine Mahnung, dass eine Regierung, welche das Votum ihrer Bevölkerung nicht respektiere, ihre religiöse und politische Legitimität verliere, kann nicht hoch genug bewertet werden. Es schlägt in den Tenor der Demonstranten ein, die seit einigen Tagen offen das tabuisierte Thema der Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten in Frage stellen. Die neuen Verbündeten verleihen der Opposition somit wichtige Legitimität. Die spontanen und ungesteuerten Massenproteste der iranischen Bevölkerung in verschiedenen Städten des Landes haben für ein Überraschungsmoment gesorgt und das Regime erstmals in die Defensive gezwungen. Sollte es jedoch ein Abebben der öffentlichen Proteste durch noch stärkere Repression oder durch das Hinauszögern der Wahluntersuchung geben, wird es schwer werden das Momentum aufrechtzuerhalten.
Der Machtkampf innerhalb des politischen Systems
Der aktuelle Machtkampf beweist einmal mehr, dass der Fokus auf persönliche Fehden zwischen politischen und religiösen Urgesteinen der Revolution bei der Analyse unabdingbar ist. Das Erklärungsmuster von Machtkämpfen zwischen Reformern, Pragmatikern und Konservativen greift hier wie in den meisten Fällen nicht tief genug. Die politischen Rivalitäten zwischen dem Revolutionsführer Khamenei, Hashemi Rafsanjani und dem Kandidaten der Opposition, Mir Hossein Moussavi , fanden ihre Ursprünge in den 1980er Jahren als Moussavi und Rafsanjani in ihren damaligen Ämtern größere formale Macht als Khamenei besaßen. Khamenei hat es seit seinem Amtsantritt vor 20 Jahren verstanden, die verschiedenen Lager auszubalancieren und damit seine politischen Rivalen in Schach zu halten. Seit Präsident Ahmadinejads Wahlsieg 2005 hat es jedoch wichtige Verschiebungen hin zu einer schleichenden Militarisierung des Systems durch Ahmadinejad und seine Verbündeten gegeben. Obwohl einige Beobachter von einem neokonservativen Coup am Wahltag sprechen, ist es unwahrscheinlich, dass dieser ohne die Einwilligung Khameneis stattgefunden hat. Es scheint jedoch, als ob sich das Regime mit der Einschätzung der Lage diesmal verschätzt hat. Schon am Sonntag, als Khamenei die Überprüfung der Wahlergebnisse anordnete schwang das Pendel zugunsten der Opposition zurück. Man kann nur spekulieren, dass Rafsanjanis in seiner Rolle als Vorsitzender des Expertenrats informellen Druck ausgeübt hat. Der Expertenrat hat das formale Recht, den Revolutionsführer in Fällen der Missachtung der Amtsführungspflichten seines Amtes zu entheben. Diese und einige weitere Anzeichen lassen darauf schließen, dass das Regime der Kombination von Massenprotesten und steigender Einflussmöglichkeiten der Opposition aus taktischen Gründen vorerst nachgeben musste und Khamenei versucht, seine Legitimität und Machtbasis erneut durch das kontinuierliche Ausbalancieren der politischen Lager zu sichern versucht.
Die Kombination von internen politischen Machtkämpfen mit den Massendemonstrationen auf den Strassen stellt eine Zäsur in der post-revolutionären Geschichte Irans dar. Es bleibt abzuwarten, wie stark das Momentum der Opposition ist und wie viele Verbündete sie in den nächsten Wochen innerhalb des politischen und religiösen Systems gewinnen kann. Man darf nicht vergessen, dass dem Regime und der ihr gegenüberstehenden neuen Opposition viel am Überleben der Islamischen Republik liegt. Davon zeugen nicht nur die rhetorischen und bildlichen Versuche, sich in die Fußstapfen Khomeneis zu stellen. Solange die interne Instabilität anhält, wird Irans Handlungsfähigkeit im Bereich der Außenpolitik für die nächste Zeit eingeschränkt sein.
Bidjan Nashat ist seit 2007 freier Berater der Heinrich-Böll-Stiftung