Noch vor einigen Wochen blickte das Regime im Iran zuversichtlich und selbstsicher in die Zukunft. 30 Jahre nach der Revolution war das Land der Ayatollahs trotz acht Jahren Krieg und nahezu drei Jahrzehnten wirtschaftlicher Sanktionen als neue regionale Macht am Persischen Golf hervorgegangen. So zumindest sah sich das Regime selbst und versuchte, seine regionale Vormachtstellung durch Einflussnahme in den Nachbarländern sowie im Libanon und in den palästinensischen Gebieten auszubauen. Das Nuklearprogramm sollte darüber hinaus als unfehlbare Rückversicherung verhindern, dass ein westliches Land oder Israel auf die Idee kommen könnte, im Iran einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen.
Auch innenpolitisch betrachtete sich das Regime als stabil. Die Gefahr von nachhaltigen Reformen war mit dem Ende der Ära Chātami gebannt und die Präsidentschaft Ahmadinedschads stand unter dem Banner einer Rückbesinnung auf die Werte Ayatollah Khomeinis, jenes charismatischen Führers der Islamischen Revolution von 1979. Der überraschende Wahlerfolg des unbekannten Bürgermeisters von Teheran, Mahmud Ahmadinedschad, sollte im Jahr 2009 wiederholt und konsolidiert werden. Das Regime war davon überzeugt, Ahmadinedschad könne die Wahl gewinnen, da die populistischen Maßnahmen und Politiken Ahmadinedschads besonders auf dem Lande auf einen beträchtlichen Erfolg gestoßen waren.
In der Tat hatte Ahmadinedschad bei seinem Wahlkampf das volle Instrumentarium eines Populisten ausgeschöpft und keine Gelegenheit ausgelassen, um sich bei den Massen beliebt zu machen. Er besuchte entlegene Städte und Dörfer, in denen noch kein iranischer Präsident je einen Fuß gesetzt hatte, er verteilte großzügig iranische Petrodollars unter den Menschen, sei es in Form von Bargeld oder Darlehen, die nicht zurückgezahlt werden mussten. Er verdoppelte, und das kurz vor der Wahl, die Renten der Angestellten in staatlichen Betrieben und Verwaltungen und gab den Menschen die Möglichkeit, sich in Form von geschenkten Aktien, den so genannten „Anleihen der Gerechtigkeit“ (saham-e edalat) von Staatsbetrieben am Reichtum des Landes zu beteiligen. Auf dem Land ließ er Straßen konstruieren und man kann heute überall in iranischen Dörfern frisch gebaute bescheidene Häuser sehen, die mit Hilfe von Ahmadinedschads kostenlosen Baudarlehen entstanden sind. Die einfachen Menschen wusste er außerdem mit seinen abergläubigen Äußerungen zu ködern und seine unnachgiebige Haltung im Nuklearstreit fand bei Menschen unterschiedlichster Bildung Anklang.
Aufgrund der oben benannten Politiken war Ahmadinedschad davon überzeugt, eine solide Wählerschaft aufgebaut zu haben, die ihm bei der Präsidentschaftswahl einen sicheren Sieg bescheren würde. Zu diesen, durch populistische Maßnahmen „gekauften“ Stimmen würden einige Millionen Stimmen derjenigen Wähler kommen, darunter besonders die Mitglieder der Revolutionsgarden (Sepah) und der „Basidsch-e“, die ohnehin bei jeder Wahl für den konservativen Kandidaten stimmen. Zuletzt würden auch zwei bis drei Millionen gefälschte Stimmen für Ahmadinedschad den Sieg sicherstellen und keine größeren Proteste hervorrufen. Aus all diesen Gründen waren sich Ahmadinedschad und das konservative Establishment seines Sieges bei den Präsidentschaftswahlen 2009 sicher.
Doch es sollte anders kommen
Etwa zwei Wochen vor den Wahlen wurde die Kampagne des Kandidaten Mir Hossein Mussawi, unterstützt durch den immer noch höchstbeliebten Reformer und ehemaligen Präsidenten Mohammad Chātami immer mehr sichtbar. Mussawi gab seinem Wahlkampf die Farbe grün, im Iran ein Kennzeichen für die so genannten ‚Sayyid’, die Nachfahren des Propheten Mohammad, und löste damit eine grüne Welle der Hoffnung aus, die vor allem von den jungen Iranern getragen wurde. Obwohl Mussawi sich in seinem Wahlkampf bewusst moderat gab und sich selbst als „prinzipientreuen Reformer“ (eslahtalab-e osulgar) bezeichnete, wurde er zum Kristallisierungspunkt einer Bewegung gegen die Führung Ahmadinedschads und für mehr Demokratie im Iran.
Durch diese Bewegung geriet das Kalkül des Regimes ins Schwanken. Es wurde der Führung des Landes bewusst, dass die Mittelschicht und die Intellektuellen des Landes nach vier Jahren Ahmadinedschad, in denen der Staat immer stärker militarisiert wurde, die Wirtschaft des Landes trotz Rekordeinnahmen in den Ruin getrieben wurde und das außenpolitische Ansehen Irans stark gelitten hatte, dieses Mal zu den Urnen gehen würden und ihr Kandidat Mussawi einen möglichen Sieg davontragen würde.
Die Verhöhnung des Volkswillens
In dieser Situation musste rasch entschieden werden. So wurde die Wahl mit Hilfe der politischen Verbündeten Ahmadinedschads im Staatsministerium (vezarat-e keshvar) in einer vorher noch nicht erlebten sorgfältig organisierten Weise und mit mafiösen Techniken gefälscht, die wir als Außenstehende nicht nachvollziehen können. Tausende Stimmen waren noch nicht ausgezählt, da gratulierte Ayatollah Khamenei, das Oberhaupt der Islamischen Republik, Ahmadinedschad zu seinem vermeintlichen Wahlsieg und kurze Zeit danach bestätigte der Wächterrat das Ergebnis der Wahl, obwohl gemäß der vorgegebenen Prozedur zunächst der Wächterrat das Wahlergebnis bestätigen muss, bevor der Führer dem Präsidenten gratulieren darf.
Die Aufteilung der gefälschten Stimmen auf die Gegenkandidaten Ahmadinedschads folgte einem politischen Kalkül. Ahmadinedschad erhielt demnach etwa doppelt so viele Stimmen wie Mussawi, so dass das neo-konservative Establishment bei jedem zukünftigen politischen Vorhaben die Kritik der Reformer mit dem Argument von der Hand weisen könnte, das Volk hätte ihnen kein reelles Mandat hierzu erteilt. Die geradezu provokant niedrigen Stimmen für die beiden anderen Kandidaten stellten schlechthin eine politische Bestrafung dar, einerseits für ihre politischen Vorhaben, besonders im Fall Karroubi, der weitreichende Reformen der Verfassung zu seinem Wahlprogramm gemacht hatte und andererseits dafür, dass sie es gewagt hatten, die Vorherrschaft des neokonservativen Establishments herauszufordern.
Diese offene Verhöhnung des Volkswillens führte im Anschluss an die Wahl zur Mobilisierung von Millionen Menschen, die zunächst unter dem Wahlruf „Mussawi, hol unsere Stimmen zurück!“ (Mussawi, ray-e ma ro pas begir!) auf die Straßen gingen. Die Gewalt, mit der das Regime gegen diese Proteste anging, ließ bei den Menschen eine hohe Bereitschaft zur Radikalität entstehen. Die unterlegenen Kandidaten der Opposition stellten sich zwar mit der Ausnahme Rezais hinter die Demonstranten, stachelten diese jedoch nicht zur Gewalt an. Trotz eines vorhandenen Zeitfensters der Wut über die willkürliche Gewalt der Führung des Landes, mit der sie ihre Anhänger leicht zu gewaltsamen Aktionen hätten mobilisieren können, entschieden sich sowohl Mussawi als auch Karroubi gegen eine solche Politik der Konfrontation, die mit großer Wahrscheinlichkeit in eine politische Sackgasse geführt und in einem noch größeren Blutbad geendet hätte. Stattdessen wählten beide den gesetzlichen Weg, legten Klage beim Wächterrat ein und riefen die schiitischen Autoritäten um Hilfe.
Die politischen Reaktionen
Die Tatsache, dass die vermeintlich unterlegenen Kandidaten nicht den Weg der offenen Konfrontation einschlugen, sondern sich um eine gesetzliche Beilegung des Konflikts bemühten, führte dazu, dass ihre Gegner sich mit ihren Klagen auseinandersetzen mussten und die bereits vorhandenen Gräben sowohl unter den Klerikern als auch unter der konservativen Führung des Iran im Hinblick auf die Führung Ahmadinedschads offen zutage traten. Was die Kleriker angeht, so führte der aktuelle Konflikt dazu, dass die Gruppe der Rowhaniyat-e Mobarez, zu der Chātami und etliche andere prominente Reformer gehören, sich endgültig radikalisierten und sich hinter den Forderungen der Demonstranten nach einer Annullierung der Wahlen stellten. Einflussreiche Ayatollahs wie etwa Montazeri, Sanei, oder Taheri, die lange Zeit geschwiegen oder keine klare Stellung bezogen hatten, bekannten sich jetzt klar zu der Forderung nach einer Wiederwahl. Ayatollah Mussawi Tabrizi, ein weiterer prominenter Kleriker verglich die Islamische Republik sogar mit der Herrschaft der Pahlavis, was veranschaulicht, wie weit der Klerus mit seiner Kritik gegangen ist.
Im Lager der konservativen Nicht-Kleriker ist vor allem festzustellen, dass sich auch unter den so genannten ‚Osulgaran’, den prinzipientreuen Politikern und Khamenei, der sich bei der vergangenen Wahl klar hinter Ahmadinedschad gestellt hat, tiefe Gräben aufzutun scheinen. So äußerte sich der konservative Bürgermeister von Teheran, Mohammad Bagher Ghalibaf zum iranischen Wahldebakel, indem er sagte, dass die Wahlgesetze Irans nicht transparent seien und reformiert werden müssten. In ähnlicher Weise und darüber hinausgehend sagte der Sprecher des Parlaments und notorische Konservative Laridschani zur Frage einer möglichen Wahlfälschung, man müsse den Forderungen der Menschen Rechnung tragen.
Der prominente Kleriker und politische Schlüsselfigur im aktuellen Konflikt, Alī Akbar Hāschemī Rafsandschānī, der dem einflussreichen Expertenrat als auch dem Schlichtungsrat vorsteht, hat sich bislang nicht zum Konflikt geäußert. Daher wird er von vielen als Verräter der Protestbewegung angesehen. Der bekannte iranische Satiriker Ebrahim Nabavi bezeichnete ihn in einem aktuellen Text als iranischen „Superman“, der in ein Zimmer gegangen sei, um seinen Anzug anzulegen und dem Iran zur Hilfe zu eilen, aber seit drei Wochen aus dem Selben Zimmer nicht mehr herausgekommen sei. Es lässt sich jedoch vermuten, dass der ewige Taktiker Rafsandschānī derzeit seinen Einfluss in den verschiedenen Organen und politischen Lagern nutzt, um die Reformer vor politischen Vergeltungsaktionen zu schützen und die Agenda seiner pro-reformistischen Kargozaran Partei voranzutreiben. Welcher Weg von ihm tatsächlich eingeschlagen wird, ist jedoch schwer einzuschätzen, da er sich in den letzten Wochen nach der Wahl nicht öffentlich ausgesprochen hat.
Allgegenwärtige Wut
Die Entwicklungen der vergangenen Wochen haben aufgezeigt, das im Iran die Saat für eine neue und umfassende Bewegung hin zu einer modernen, demokratischen staatlichen Ordnung gepflanzt worden ist, die selbst die Führung des Landes nicht ausmerzen kann. Diese Bewegung ist auch deswegen unaufhaltbar, da gesellschaftliche Tabus, auf denen die Islamische Republik beruht in den vergangenen Wochen gebrochen wurden. Die Flüche, die die Menschen früher in ihren Gedanken, in ihrem Zuhause oder etwa bei einer Taxifahrt leise unter ihrem Atem hervorstießen, wurden in den vergangenen Wochen laut und auf offener Straße ausgerufen. Sprüche wie etwa „Der Staat begeht Verbrechen und der Führer unterstützt ihn!“ (dowlat jenayat mikone, rahbar hemayat mikone), „Nieder mit dem Diktator!“ (marg bar dictator) oder sogar „Nieder mit der Islamischen Republik!“ (marg bar jomhuriye eslami), die vor einigen Jahren kaum jemand zu denken gewagt hätte, hallen nun in den Ohren der Iraner wider und werden zu einer möglichen Realität. Im heutigen Iran, so scheint es, ist nichts mehr heilig.
Trotz der allgegenwärtigen Wut der Menschen werden Mussawi und Karroubi und weitere Reformer in den kommenden Wochen versuchen, die Menschen mit gesetzlichen Mitteln, d.h. mit Reden vor dem Parlament, mit offenen Briefen und ähnlichen Mitteln, für einen friedlichen Protest für Reformen zu mobilisieren. Die in letzter Zeit entstandenen Risse im konservativen Lager werden ihnen hierbei von großer Hilfe sein. Das iranische Regime kann in verschiedenen Weisen auf diese neue und durch interne Konflikte gestärkte Bewegung reagieren. Es kann zunächst versuchen, die Opposition durch kleine Zugeständnisse zu beschwichtigen und dadurch Ventile zu kreieren, mit der ihre Wut kanalisiert werden kann. So kann die Führung etwa die Wiedereröffnung von reformorientierten Zeitungen erlauben oder anordnen, die Übertreter der vorgeschriebenen Sittenordnung weniger zu behelligen. Vor dem Hintergrund der Geschichte des Revolutionsführers als gewiefter Wahrer der politischen Balance im Iran erscheint diese Option als nicht unwahrscheinlich.
Anderseits ist es aber auch möglich, dass die Gruppierung um Ahmadinedschad die Gunst der Stunde nutzt und mit dem Segen einiger radikaler Ayatollahs versucht, eine Re-Islamisierung der iranischen Gesellschaft, insbesondere der Universitäten vorzunehmen. Dies würde jedoch eine Radikalisierung der heutigen Protestierenden und möglicherweise eine Spirale der Gewalt nach sich ziehen.
Eine dritte Option bestünde darin, beide oben benannten Strategien zeitgleich anzuwenden. Dies würde bedeuten, dass die Anhänger Ahmadinedschads mit einer erneuten Islamisierung derjenigen öffentlichen Anstalten beginnen würden, die unter ihrem Einfluss stehen. Gleichzeitig würde Khamenei versuchen, einen Ausgleich mit dem Lager der Pragmatiker um Rafsandschānī und der Reformer finden, indem er ihnen einen etwas weiteren Handlungsradius zugesteht. Dies würde zu starken inneren Machkämpfen führen, bei der die Kräfte um Ahmadinedschad wegen ihrer Bereitschaft zur Gewaltanwendung und Mobilisierung sogenannter “pressure groups“ (gorouha-ye feshar) die Oberhand gewinnen würden.
Der Dialog mit dem Westen ist essenziell
Welches dieser Szenarien auch eintritt, kann eins mit relativer Sicherheit vorhergesagt werden: Die neue Oppositionsbewegung im Iran wird sich radikalisieren, falls das Regime noch mehr Gewalt anwendet, um sie niederzuschlagen. Sichtbar ist auch, dass die Forderungen der Menschen zum Teil über die Vorstellungen Mussawis oder anderer Reformpolitiker hinausgehen, was darauf schließen lässt, dass auf lange Sicht die künftigen gesellschaftlichen Konflikte im Iran zwischen den Menschen und dem Reformlager ausgetragen werden.
Wie sich die Zukunft des Iran auch gestalten mag, so darf der Westen auch aufgrund der neu entstandenen Gräben innerhalb des konservativen Establishments die Türen des Dialogs mit der Islamischen Republik nicht zuschlagen. Weitere Sanktionen gegen den Iran würden letztendlich nur den konservativen Hardlinern dienen, die hierdurch nur noch mehr Stoff für ihre Hasstiraden gegen den Westen erhalten würden. Der Westen sollte die inneren Entwicklungen im Iran genau im Auge behalten und versuchen, eine nüchterne und sachliche Umgangsform mit dem Iran zu pflegen.
Das revolutionäre Porzellan, so stellte es sich in den vergangenen Wochen heraus, hat eindeutig Risse bekommen. Wenn der Westen nicht ständig mit dem Finger auf diese Risse zeigt, so könnte man dadurch dazu beitragen, dass die Führung Irans diesen Schwachstellen selbst keine größere Beachtung schenkt und daher vielleicht in der Zukunft nicht mehr zu reparierende Brüche entstehen. Anstelle harter Töne und der öffentlichen Verurteilung des Regimes, die das konservative Lager nur weiter zusammen schweißen, sollten die westlichen Mächte Iran beständig daran erinnern, dass sie die Menschenrechte, als deren Erfinder sie ihren König Kyros II. ansehen, einhalten müssen. Gleichzeitig sollten die wirtschaftlichen Sanktionen in einer Weise angewendet werden, so dass keine sensible Software und ähnliche Güter an den Iran verkauft werden können, die dem Regime dabei helfen, insbesondere durch die Kontrolle des Internets das Land gegenüber der internationalen Weltgemeinschaft abzuschotten.
Golchehreh Halilroudi ist eine iranisch-stämmige Politikwissenschaftlerin, die erst kürzlich vor wenigen Tagen von einer mehrmonatigen Reise aus Iran zurückgekehrt ist.