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Zwei-Staaten-Lösung noch durchsetzbar?

Graffiti an einer Wand in Tel Aviv, © Foto: Maud Meinel

19. Februar 2010
Von Sven-Christian Kindler und Jan Philipp Albrecht
Von Sven-Christian Kindler und Jan Philipp Albrecht

Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina: Stillstand, erneute Eskalation oder Zeitfenster für echten Durchbruch im Nahen Osten?

The same procedure as every year? Wieder einmal gibt es eine neue Initiative der USA für eine Beilegung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Der US-Sonderbeauftragte George Mitchell wirbt derzeit im Auftrag von Präsident Obama bei den verschiedenen Partnern für den US-Nahostplan. Dieser sieht vor, die Verhandlungen auf zwei Jahre zu begrenzen, vor dem Ende des so genannten „Siedlungsmoratoriums“ die finalen Grenzen auf Grundlage der grünen 1967er-Linie festzulegen und ansonsten ohne Vorbedingungen die Verhandlungen zu starten. Der Vorstoß der US-Administration ist von entscheidender Bedeutung, denn das Zeitfenster für eine Zwei-Staaten-Lösung wird immer kleiner. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) hat ihre wesentliche Verpflichtung aus der Roadmap, die Terrorattentate zu stoppen, erfüllt. Aus israelischer Sicht haben daran natürlich das eigene Militär und die eigenen Sicherheitsdienste einen Anteil. Erstmals seit dem Jahr 2000 gab es im letzten Jahr keinen Selbstmordanschlag in Israel. Währenddessen ignoriert die israelische Regierung die Roadmapvereinbarungen und internationales Recht,  da sie trotz gegenteiliger Verlautbarungen den andauernden Siedlungsausbau nicht aufhält.

Siedlungsstopp? Von wegen!
Und dies, obwohl ausgerechnet die Regierung der politischen Rechten in Israel auf Druck der US-Administration einen zehnmonatigen Siedlungsstopp verkündet hat. Zudem hat der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu vom Likud im Juli letzten Jahres erstmals von einer Zwei-Staatenlösung gesprochen. Das sind essentielle Voraussetzungen für den Beginn erneuter Friedensverhandlungen nach den bisherigen Vereinbarungen der Roadmap und von Annapolis. Rhetorisch waren diese Verlautbarungen Netanjahus ein wichtiger Schritt, gegen die sich die politische Rechte in Israel lange gewehrt hat und hinter die sie nun nicht mehr zurück kann. Praktisch ändert sich aber nur sehr wenig an der aktuellen Besatzungs- und Siedlungspolitik in den palästinensischen Gebieten. Der so genannte Siedlungsstopp ist eine Farce. Jedes bereits begonnene Bauprojekt in den Siedlungen kann weiter geführt werden. Öffentliche Infrastrukturprojekte in den Siedlungen sind vom Stopp ausgenommen. Genauso wie der gesamte Siedlungsbau im großzügig bemessenen Ost-Jerusalem, das Israel als annektiert betrachtet und militärisch besetzt hält. Nach internationalem Recht aber gehört dieses Gebiet, in dem etwa die Hälfte der rund halben Million Siedler_innen des palästinensischen Westjordanlands lebt, den Palästinenser_innen. Weiterhin besteht die breit angelegte Sperranlage – auch Mauer oder Zaun genannt. Teilweise verläuft sie weit hinein in das Westjordanland, um israelische Siedlungen mit ein zu schließen. So schafft die israelische Regierung Fakten. Seit dem ersten Osloabkommen 1993 hat sich die Zahl der Siedler_innen im Westjordanland verdreifacht. Gleichzeitig werden die Lebensbedingungen für die Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten immer schlechter. Teilweise schneidet die Sperranlage ganze Städte und Dörfer von ihren eigenen Ländereien ab.
Der Wille zu einer ernsthaften Verhandlungslösung sieht anders aus.

PA am seidenen Faden
Sicher ist, dass ein dauerhafter Frieden von beiden Seiten gewollt und mühsam erarbeitet werden muss. Aber auch auf der palästinensischen Seite ist nicht sicher, ob es bei einer derart diplomatischen und zurückhaltenden Positionierung bleibt. Die tatsächliche Offenheit der PA für neue Friedensgespräche unter den Voraussetzungen der Roadmap hängt an einem seidenen Faden. Die Regierung steht offensichtlich mit dem Rücken an der Wand. Verhandlungen bringen der im Westjordanland regierenden Fatah in der eigenen Bevölkerung leicht den Vorwurf ein, zu viele Zugeständnisse gegenüber der israelischen Regierung zu machen, da sie bisher zu wenige konkrete Verbesserungen für die Palästinenser_innen gebracht haben. Nicht nur die den Gaza-Streifen kontrollierende extremistische islamistische Hamas, sondern vor allem die vom Stillstand enttäuschten gemäßigten Bevölkerungsteile drehen der PA zunehmend den Rücken zu. Schon jetzt tut sich der gemäßigte Präsident Mahmud Abbas mit einem Wiederantritt bei der nächsten Wahl schwer. Das Zeitfenster für neue Verhandlungen über eine Zwei-Staatenlösung schwindet. Mit jedem Tag. Tage, in denen Kinder und Jugendliche in einer von Gewalt und Misstrauen geprägten Welt aufwachsen – sei es in Israel oder in den palästinensischen Gebieten. Dabei gibt es auf beiden Seiten progressive Kräfte, die mit allen Mitteln gegen Propaganda und Verklärung und für einen anderen Umgang mit der jeweils anderen Seite eintreten. Die vielfältige NGO-Szene in Israel, aber auch in den palästinensischen Gebieten, und Demonstrationen gegen die Blockade in Gaza zeigen, dass es – wenn auch zahlenmäßig sehr kleine – Gruppen gibt, für die das Gegeneinander in der Bevölkerung kein unumstößliches Dogma ist. Doch ihr Einsatz für die Demokratisierung in den palästinensischen Gebieten und die Rückkehr des Rechts in die israelische Politik braucht Unterstützung. Ohne sie wird sich der Wille zum Frieden in der israelischen Rechten wie in der palästinensischen Extremen nicht durchsetzen können.

Kein Frieden ohne Change
Trotz des begrenzten Zeitfensters scheint auf beiden Seiten das Warten im Trend zu liegen. Erlösung kann scheinbar nur einer bringen: Barack Obama. Seine Rede in Kairo und das Versprechen des Siedlungsstopps – schnell verkündet und schnell gescheitert – hatten im Nahen Osten so manche Hoffnung wieder aufblühen lassen. Wer in der israelischen Politik etwas ändern möchte, muss die Amerikaner fragen. Die Bemühungen des Europäischen Rates die Voraussetzungen für neue Verhandlungen zu konkretisieren, werden von der israelischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Der neue US-Nahostplan erfüllt eine essentielle Forderung der PA nicht: Einen wirklichen Siedlungsstopp als Voraussetzung für Friedensverhandlungen. Unter diesen Bedingungen kann die Regierung Netanjahu die Zeit für sich spielen lassen und weiter Fakten schaffen. Aus ihrer Sicht gibt es gar keine Notwendigkeit, Friedensgespräche um den Preis innenpolitischen Gegenwinds voranzutreiben. Sich mit orthodoxen Religiösen und nationalistischen Siedler_innen anzulegen, scheint momentan nicht besonders lukrativ. Das obwohl bei einer echten Friedenslösung der Staat Israel nach einem Angebot der Arabischen Liga von 2002 mit vielen arabischen Staaten die Beziehungen normalisieren könnte und so seinem legitimen Sicherheitsinteresse nach kommen könnte.
Fest steht, dass allein der „Change“ aus Amerika das Problem zwischen Israel und den Palästinenser_innen nicht lösen wird. Auf palästinensischer Seite muss die Spaltung zwischen der Westbank und dem Gazastreifen überwunden werden. Einen Wechsel braucht es auch in der israelischen Politik. . Und diesen kann es nur geben, wenn auch die EU-Regierungen ihre Verantwortung gegenüber einem engen Freund – dem Staat Israel – ehrlich wahrnehmen. Dazu gehört es, zentrale Forderungen an das Regierungshandeln jetzt einzufordern: Den sofortigen Siedlungsstopp in den gesamten palästinensischen Gebieten und die Aufhebung der unmenschlichen Blockade gegenüber der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen. Und das, bevor sich das enge Zeitfenster geschlossen hat.


Sven-Christian Kindler, MdB, Deutsch-Israelische Parlamentariergruppe
Jan Philipp Albrecht, MdEP, Israel-Delegation des Europäischen Parlaments

Hintergrundinformationen:

Elf Tage lang reisten Sven-Christian Kindler (24), MdB, und Jan Philipp Albrecht (27), MdEP,  von Ende Dezember 2009 bis Anfang Januar 2010 als junge grüne Abgeordnete durch Israel und die palästinensischen Gebiete. In Deutschland setzen sich die beiden Mitglieder der Grünen Jugend seit Jahren gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein und haben sich intensiv aus verschiedenen Perspektiven mit dem Nahostkonflikt beschäftigt. Kindler und Albrecht trafen sich auf der Reise in Tel Aviv, West- und Ostjerusalem, Ramallah, Hebron und Betlehem mit Abgeordneten der Knesset, Ministern der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Friedensaktivist_innen, NGOs, der deutschen Botschaft, der Heinrich-Böll-Stiftung und israelischen und palästinensischen Jugendlichen. Im Fokus der Gespräche stand die Situation des aktuellen Friedensprozesses.