Gute Muslimbrüder, böse Muslimbrüder - Eine Debatte über Islam und Demokratie in Tunesien und Ägypten
Sind die Demonstranten von Sidibouzid, von Tunis, vom Tahrirplatz um die Früchte ihres wochenlangen Kampfes für Demokratie betrogen worden? Haben sich am Ende doch die Islamisten und ihre politischen Vorstellungen durchgesetzt? Sowohl in Tunesien wie in Ägypten sind sie nach Wahlen zur bestimmenden Kraft bei der Schaffung einer neuen politischen Ordnung geworden, auch in Marokko, in Libyen und Jordanien sind sie politisch erstarkt.
Was das bedeutet und ob dies eine Gefahr für die demokratische Entwicklung in diesen Ländern birgt, wurde Anfang März beim Jour Fixe der Heinrich-Böll-Stiftung und der tageszeitung (taz) diskutiert. Die Gäste des Abends legten dar, dass obige Sichtweise vieler westlicher Kommentatoren stark verkürzt ist. Der Umbruch in Tunesien und Ägypten habe jedenfalls andere und größere Probleme als den vermeintlichen Griff der Islamisten zur Macht. Khansa Mkada ep Zghidi, tunesische Frauenrechtlerin, Gewerkschafterin und Dozentin an der Université La Manouba in Tunis, sagte, ihr Begriff von Demokratie habe nichts mit Islamophobie zu tun: „Demokratin zu sein heißt nicht, gegen den Islam zu sein“, betonte sie. Die islamistische Ennahda-Partei sei in ordnungsgemäßen Wahlen zur stärksten Kraft geworden. Die größte soziale Sprengkraft gehe in Tunesien ohnehin von der wirtschaftlichen Misere und der Arbeitslosigkeit aus. Doch sie war optimistisch angesichts der breiten gesellschaftlichen Mobilisierung in ihrem Land. Sie plädierte: „Habt Vertrauen in uns!“
Tunesien: Frauenrechte in Gefahr
Gleichzeitig sah auch sie ein Risiko darin, die Scharia in der Verfassung als Grundlage des Rechts zu verankern. Für konservative Islamisten bedeute dies etwas anderes als für die liberaleren unter ihnen, was sich an den neu aufgebrochenen Debatten über die bislang in Tunesien verbotene Polygamie, die Ehe auf Zeit, die barbarische Praxis der Beschneidung von Mädchen oder das Recht von Frauen, Auto zu fahren, zeige. Sie erwartet, dass Tunesiens Frauen sich den Islamisten mit aller Kraft, aber ohne Gewalt entgegenstellen – wie es mehrere Frauenrechtlerinnen ja auch gegenüber Familienministerin Kristina Schröder am 7. März in Tunis ankündigten. Mkada ep Zghidi beklagte die Aggressivität mancher Salafisten, also der strengen Islamisten, die eine moderne liberale Gesellschaftsauffassung ablehnen. Doch sie schilderte auch die Szenen bei den Freitagsgebeten, als junge Salafisten mit ihren radikalen Thesen nur auf Kopfschütteln bei den Gläubigen stießen. Man wolle doch lieber, dass wieder ein lebenserfahrener, weiser Imam die Predigt halte, hätten sie gefordert.
Ahmed Badawi, Nahost-Experte beim Zentrum Moderner Orient in Berlin, hielt die bedeutende Rolle der Muslimbrüder in Ägypten für nahezu unumgänglich. Die Jugendlichen und Studenten, die die Besetzung des Tahrirplatzes bis zum Sturz von Präsident Mubarak aufrecht erhielten, seien damit überfordert gewesen, eine neues politisches System in Ägypten zu organisieren. Die Muslimbrüder verfügten hingegen über Jahrzehnte der Erfahrung in sozialer und politischer Organisation.
Ägypten: Kampf um die neue Ordnung
Die alte Elite, also der Oberste Militärrat, werde bald abtreten, meinte Joachim Paul, der zuletzt Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah war. Seinen Mitgliedern gehe es nur noch darum, Straffreiheit durchzusetzen und ihre privaten Vermögen behalten zu dürfen. Derzeit stehe in Ägypten daher das Ringen um die Neuverteilung der Macht auf der Tagesordnung. Der Zeitplan bis zur ersten Runde der Präsidentenwahl am 23. und 24. Mai lässt dafür nur wenig Zeit. Gleichzeitig sind weiterhin selbst die Grundzüge der neuen politischen Struktur umstritten, etwa, wer genau die neue Verfassung ausarbeiten solle.
Badawi beobachtet nun ein Ringen der verschiedenen Militär-, Polizei- und Geheimdienstabteilungen um ihren zukünftigen Anteil an der Macht. Immer wieder haben sie sich gegenseitig Befugnisse streitig gemacht. Auch das Innenministerium mischt dabei mit. Von dort, heißt es, wurden immer wieder Schlägertrupps gegen Demonstranten losgeschickt. Diese Provokateure hätten sich mittlerweile verselbstständigt und verrichteten ihr Werk für jeden, der ihnen genug bezahlt, beklagte Badawi. Das seien immer noch häufig Kräfte aus dem Innenministerium. Sie setzten auf eine Strategie des Chaos, damit sich die Ägypter nach der starken Hand Mubaraks zurücksehnen.
Ein sunnitischer Aufbruch?
In den kommenden Monaten müsse man auf zwei Dinge achten, sagte Badawi: Wie sich das Verhältnis der Muslimbrüder zu den Streitkräften entwickelt, und wie stark die zivile demokratische Kontrolle über den Sicherheitsapparat sein wird. Er erwartet ein Zweckbündnis zwischen den Muslimbrüdern und dem Militär. Müsse der Westen sich deshalb Sorgen machen? Einige Anzeichen sprechen dagegen, sagte Badawi: Das immer wieder zu beobachtende Streben der Muslimbrüder nach breitem gesellschaftlichem Konsens, ihre Wirtschaftsfreundlichkeit, ihre Bereitschaft, mit dem Westen ins Gespräch und ins Geschäft zu kommen. Joachim Paul wies dagegen auf die nur bruchstückhaft entwickelte Programmatik der Muslimbrüder hin, es gebe bisher kaum Angaben, wie sie Sozial- oder Außenpolitik gestalten wollten. Auf das Minenfeld des Strafrechts haben sie sich bisher noch nicht gewagt.
Uneinigkeit herrschte über die regionale Dimension des sunnitischen Aufbruchs von Bahrain bis Marokko. Während Badawi dies für eine wesentliche Entwicklung hielt, bezweifelte Paul, dass dahinter eine bewusste Strategie stehe. Die ägyptischen Muslimbrüder hätten keine regionale Perspektive, ihnen gehe es um die Machtverteilung in Ägypten, um die Zurückdrängung des Militärs und der Sicherheitsdienste. Ein anderer Aspekt ist die finanzielle Unterstützung der konservativsten islamischen Strömungen in der arabischen Welt durch Saudi-Arabien, die nach Ansicht von Mkada ep Zghidi besorgniserregend sei. Auch andere Feministinnen beklagen sich über solche Einflussnahme von außen, wie ein Beitrag aus dem Publikum deutlich machte.