Die Vision
Das Flackern des Bildschirmes ist immer wie eine kleine Erleuchtung. Pling. Steigt die rote Linie ein wenig an. Pling. Sinkt sie wieder ab. Pling. Pling. Pling. Tag und Nacht. Im Minutentakt. Was da auf und ab geht, ist der Stromverbrauch in Deutschland, der hier maßstabsgetreu über den Bildschirm läuft: Seit dem frühen Morgen geht es mit dem Energiekonsum meist bergauf: Für Kaffeemaschinen, Straßenbahn, Computer im Büro und Maschinen in den Werkhallen. Erst abends sinkt die Stromkurve langsam ihrem nächtlichen Minimum entgegen. 24 Stunden, 365 Tage. Nur dass der Strom bei diesem Versuch am Fraunhofer-Institut für Windenergie & Energiesystemtechnik (IWES) in Kassel nicht mit Atom, Kohle- und Gaskraftwerken erzeugt wird - sondern einzig und allein mit Solaranlagen, Windkraftwerken, Biogasturbinen und einem Wasserkraftwerk im Thüringer Schiefergebirge.
"Wir wollen zeigen, dass es keine Grenze gibt und Deutschland sich zu 100 % mit erneuerbaren Energien versorgen kann", sagt Bereichsleiter Kurt Rohrig. Bisher mussten die Alternativ-Ernergien sich stets den Vorwurf gefallen lassen, dass die launische Sonne, der wankelmütige Wind und die wenig variable Wasserkraft ein modernes Industrieland nicht mit Strom versorgen können. Bis Rohrig das Gegenteil bewiesen hat. Verteilt über ganz Deutschland steuert der Forscher Windparks in Niedersachsen, bei Berlin und Aachen steuern; 18 Solaranlagen in Sachsen, in Bayern und Baden-Württemberg sind ihm unterworfen und verschiedene Biogaskraftwerke hören auf sein Kommando. Als Stromspeicher kann Rohrig außerdem ein Wasserkraftwerk lenken – zumindest virtuell. Über ein Jahr lang hat Rohrigs Team gezeigt dass Wind und Co. den sich dauernd ändernden Strombedarf der Deutschen in jeder Minute decken können. Und was hier im Maßstab 1:10.000 funktioniert, würde auch im Maßstab 1 zu 1 für 82 Millionen Bundesbürger klappen - wenn denn die Erneuerbaren kräftig ausgebaut würden. Technisch gesehen – so das Fazit des Forschers – spricht nichts gegen eine Stromversorgung ganz ohne Kohle, Atom und Kohlendioxid. Für sein regeneratives Kombi-Kraftwerk hat Rohrig den „Klimaschutzpreis 2009“ der Deutschen Umwelthilfe erhalten. Eines der größten offenen Probleme auf dem Weg zum 100 % Ziel ist für ihn heute nicht mehr der mögliche Strommangel: Viel schwieriger sei es, mit dem überschüssigem Windstrom umzugehen, der gerade in Winternächten oft entsteht. Rohrig fordert darum neben mehr Stromspeichern auch, dass die Stromnetze in Deutschland und Europa ausgebaut werden. Denn dann fände sich immer ein Plätzchen für das Zuviel an Energie.
Der Status-Quo
Joachim Nitsch, der Doge der deutschen Energieforschung, hat es zuletzt so gesagt: „Eine hundertprozentige regenerative Energieversorgung ist keine Vision – sondern „nur“ eine Frage der Zeit“. Schließlich böten Sonne, Wind und Co. etwa 400 Mal mehr Energie an, als weltweit heute genutzt wird.
Jahrzehntelang hat Nitsch, inzwischen 69 Jahre, vom „Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt“ (DLR) aus, die Entwicklung der Erneuerbaren Energie in Deutschland beschrieben und voran getrieben. Seine jährliche „Leitstudie“ ist laut „Financial Times“ das „wichtigste Papier zu erneuerbaren Energien in Deutschland“ und die Grundlage, auf der in diesem Land Energiepolitik diskutiert wird. Der Wissenschaftler hat darin auch 2009 wieder den kommenden Energieverbrauch der Deutschen berechnet und gezeigt, welcher Anteil davon aus alternativen Quellen gedeckt werden wird. So prognostiziert er, wie unsere Welt im Jahre 2050 aussehen wird.
In seinem Hauptszenario, das sich als mäßig-ambitionierter Weiter-So-Entwurf beschreiben lässt, kommt Nitsch für das Jahr 2050 dabei auf Anteile der Erneuerbaren, die für Laien ganz erstaunlich wirken. Seinen Strom etwa werde das Land in genau 40 Jahren schon zu 90 % aus erneuerbaren Energien beziehen. Kohle- und Atomkraftwerke werde es dann nicht mehr geben, stattdessen befriedigen vor allem die Windenergie auf See und an Land, Solarstrom und effiziente Gaskraftwerke die Nachfrage. Der Umbau der Stromversorgung sei im „Wesentlichen abgesichert“, wenn:
- der Atomausstieg wie beschlossen umgesetzt wird,
- das EEG als Rahmen für Investitionen gesichert und weiterentwickelt wird,
- der Emissionshandel 2013 eingeführt und ab 2018 vorangetrieben wird
- die heute noch laufenden Kohlekraftwerke nach und nach abgeschaltet
- und die Stromnetze für Erneuerbaren fit gemacht werden.
Während Deutschland beim Strom also schon auf einem ordentlichen Weg scheint, sieht es mit dem Anteil der Erneuerbaren bei der Wärme- und Heizenergie lange nicht so gut aus: Auf lediglich 50 % sagt Nitsch ihren Anteil 2050 voraus. Um das zu erreichen, sei mehr Engagement beim Ausbau der CO2-armen Kraft-Wärme-Kopplung nötig. Geradezu düster ist die Vorhersage zu Autos, LKW, Flugzeugen: Nicht mal ein Drittes ihres Treibstoffs werde 2050 „regenerativ“ erzeugt werden.
In allen drei Bereichen zusammen – Strom, Heizen, Verkehr - schaffen es die Erneuerbaren 2050 auf einen Anteil von 54 %, ohne dass es zu großen Änderungen im Deutschen Wirtschaftsleben kommen werde. Weil Nitsch erhebliche Energieeinsparungen und den Umstieg von CO2-intensiven Kohlekraftwerken auf CO2-ärmere Gaskraftwerke unterstellt, gehen die deutschen CO2-Emissionen zwischen 1990 und 2050 sogar um 80 % zurück. Genau das ist heute das politische Ziel der Bundesregierung.
Die Herausforderung
Für weiter gehende Ziele wie eine praktisch CO2-freie Wirtschaft reichen die aktuellen Polit-Strategien der Bundesregierung nicht. Aber: „Unter ehrgeizigen Annahmen ist eine 100prozentige Stromversorgung mit Erneuerbaren bis 2050 möglich“, betont Nitsch immerhin. Auch er sagt, dass dazu aber die lokalen Stromnetze, die Energie-Speicher und der Stromfernleitungen deutlich stärker ausgebaut werden, als heute geplant.
Deutlich geringer als beim Strom werden die Anteil der Erneuerbaren auch in absehbarer Zukunft bei Wärme und Verkehr sein. „Die Infrastrukturhemmnisse sind größer“, sagt Nitsch. Um die Energie hier zu sparen und besser zu nutzen, müssen Häuser schneller gedämmt und neue Verkehrssysteme gefördert werden. Zumal das „ökonomisch günstiger sei “als ein schneller Ausbau der Erneuerbaren. Nitsch weiter: Aus meiner Sicht können wir bis 2050 einen Anteil an Alternativ-Energie von insgesamt 65% erreichen. Den 100%-Anteil für die Gesamtversorgung sollten wir 2070 oder 2080 anstreben.“
Link-Liste
Es gibt eine Vielzahl von Studien, die einen raschen Ausbau der Erneuerbaren Energien nicht nur im Strombereich vorhersagen.
- Konzept Energie 2.0 der Grünen Bundestagsfraktion (43 % EE Strom bis 2020)
http://www.gruene-bundestag.de/cms/archiv/dok/195/195695.konzept_fuer_mehr_klimaschutz.html - Ein brandneues Szenario vom April 2010 das zeigt, wie Europa die Weichen stellen müssen um bis 2050 eine Energieversorgung (fast) ohne Kohle, Öl und Atom zu erreichen: http://www.rethinking2050.eu/
- Die so genannte Leitstudie 2008 des Bundesumweltministeriums findet man unter http://www.bmu.de/erneuerbare_energien/downloads/doc/42383.php
- Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) ist ein renommiertes Beratergremium der Bundesregierung. Im April 2009 hat der SRU einen Maßnahmenkatalog zur „Weichenstellungen für eine nachhaltige Stromversorgung“ veröffentlicht: http://www.umweltrat.de/cln_135/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/AktuellePressemitteilungen/2009/2009_04_pressemitteilung.html
- Der Bundesverband Erneuerbare Energie zeigt, wie man bis 2020 auf einen Anteil der Regenerativenergien von 47 % kommt.http://www.bee-ev.de/3:329/Meldungen/2009/BEE-legt-energiepolitisches-Gesamtkonzept-vor.html
- Die „European Climate Foundation“ hat eine Studie gestiftet, die sich ebenfalls mit den Möglichkeiten der Alterniv-Energieversorgung in Europa befasst: http://www.europeanclimate.org/
- Weiter unten ausführlich, hier aber der Vollständigkeit halber schon mal der Link zur Studie „Modell Deutschland“ von WWF, Ökoinstitut und Prognos: http://www.wwf.de/themen/klima-energie/modell-deutschland-klimaschutz-2050
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Der Autor Marcus Franken, geboren 1968 in Essen, Studium Umwelttechnik in Berlin, ist Freier Journalist mit Schwerpunkt Energie, Umwelt, Wissenschaft. Er ist Chefredakteur von zeo2 und Osteuropa-Korrespondent von "neue energie"
Dossier
Europäische Energiepolitik
Der Abschied von Kohle, Öl, Gas und Atomkraft ist machbar. Der Übergang ins Zeitalter der Erneuerbaren Energien muss politisch vorangetrieben werden. Es geht um Investitionsanreize und Zukunftsmärkte, um Energiesicherheit und Machtfragen, um technische Innovationen und gesellschaftliches Umdenken.Schriften zu Europa - Band 3: ERENE
Eine Europäische Gemeinschaft für Erneuerbare EnergienEine Machbarkeitsstudie von Michaele Schreyer und Lutz Mez
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung
Berlin, Mai 2008, 96 Seiten
ISBN 978-3-927760-83-7
- Zusammenfassung der Studie (PDF, deutsch)
- Zusammenfassung der Studie (PDF, englisch)
- Zusammenfassung der Studie (PDF, englisch und französisch)
- Zusammenfassung der Studie (PDF, polnisch)
- Zusammenfassung der Studie (PDF, tschechisch)
Bestelladresse:
Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8, 10117 Berlin,
Fon 030-28534-0, Fax 030-28534-109, E-Mail: info@boell.de
- Siehe auch: Michaele Schreyer: ERENE - IRENA. Widerspruch? Dopplung? Ergänzung?
- Zur Homepage der Europäischen Gemeinschaft für Erneuerbare Energien (ERENE)