Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Selbstbestimmung im Dialog. Patientenautonomie – Vorsorge – Verantwortung

Lesedauer: 5 Minuten

19. März 2008

Eröffnungsrede von Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

Berlin, 27. September 2007

Wir (die Heinrich-Böll-Stiftung) befassen uns heute bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr mit dem Thema Patientenverfügungen. Im ersten Anlauf veranstalteten wir gemeinsam mit der Humanistischen Union die Tagung „Die Freiheit zu sterben. Selbstbestimmung durch Sterbehilfe und Patientenverfügungen“. Am Vorabend der Bundestagsdebatte über Status und Reichweite von Patientenverfügungen stellten wir die divergierenden Auffassungen zu dieser emotional aufgeladenen Materie zur Diskussion.
Aus dieser Tagung ist ein Buch gleichen Titels entstanden, das ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchte.

Im Obertitel „Die Freiheit zu sterben“ klingt der Anspruch auf Autonomie und Würde des Einzelnen bis in den Tod an. Die politische Kontroverse dreht sich darum, welche Grenzen der Gesetzgeber einer Vorausverfügung zur  Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen setzen darf oder setzen muss. Wer sich auf den Primat der  Selbstbestimmung beruft, die in der Moderne den Kern individueller Lebensführung ausmacht, bejaht damit auch, dass ein Patient nicht alle Möglichkeiten der Medizin ausschöpfen will und vorzieht zu sterben.

Ich möchte zwei Botschaften jener Tagung vom Februar dieses Jahres hervorheben. Die erste lautete: Wir brauchen eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung, die sicher stellt, dass zwischen Ärzten, Angehörigen und Bevollmächtigten vereinbarte Entscheidungen zugunsten eines entscheidungs¬unfähigen Patienten nicht später zivil- oder strafrechtlich belangt werden, wenn sie

  • aufgrund seines eindeutig vorab verfügten Willens oder
  • aufgrund seines in einer besonderen Situation konkretisierten Willens
  • oder aufgrund seines gewissenhaft ermittelten mutmaßlichen Willens
    erfolgten.

Die zweite Botschaft lautete: Wir brauchen eine liberale gesetzliche Ausgestaltung der Patientenverfügung, die eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen Patienten, Ärzten und Pflegepersonal, Bevollmächtigten und Angehörigen ermöglicht. Denn der „freie Wille“ als  selbstbewusste, wohl informierte und reflektierte Entscheidung eines Menschen bildet sich nicht im luftleeren Raum, sondern im Austausch mit Anderen. Wir verstehen den freien Willen, um eine Formulierung von Dr. de Ridder aus der heutigen Pressekonferenz zu zitieren, als etwas Dynamisches, das sich in Gespräch und Auseinandersetzung formt.

Den Willen von Kranken und Sterbenden über Art und Ausmaß ihrer Behandlung zu respektieren, bedeutet nicht, sie allein zu lassen mit ihren Ängsten und Fragen – ganz im Gegenteil: gerade in existentiellen Grenzsituationen braucht es ein Höchstmaß an verständnisvoller und fachkundiger Begleitung.

Vor dem Hintergrund der Euthanasiepraxis des Nationalsozialismus wird die Verpflichtung zum Lebensschutz vielfach gegen die Selbstbestimmung am Lebensende ausgespielt. Dabei vermischt das Euthanasie-Argument zwei durchaus verschiedene Sachverhalte: die staatlich verordnete Vernichtung sogenannten „unwerten Lebens“ im Nationalsozialismus mit der Vorstellung vom „guten Tod“, die heute Teil der Vorstellung vom „guten Leben“ ist. In der möglichst restriktiven Regelung von Patientenverfügungen schwingt ein erhebliches Misstrauen gegenüber der Beziehung zwischen Patient, Angehörigen, Ärzten und Pflegepersonal mit. Man will möglichst hohe rechtliche Hürden vor eine Unterlassung medizinischer Behandlung setzen, weil man nicht an die vertrauensvolle  Beratung zwischen Kranken, Angehörigen und Ärzten glaubt, in denen ein Mensch seine Not mit anderen besprechen kann, so dass sein Selbstbestimmungsrecht sich als sozial eingebettete Selbstbestimmung äußert.

Für dieses Misstrauen gibt es sicherlich mannigfache Gründe in der Alltagswirklichkeit, nicht zuletzt aufgrund des permanenten Drucks zur  Kostensenkung, der sich Pflegeheime und Krankenhäuser ausgesetzt sehen – nur sollte man die heutige Misere im Gesundheitswesen nicht zur Grundlage einer rechtlichen Normierung machen. Wer die Grenzen für Patientenverfügungen zu eng zieht, provoziert gerade das Gegenteil des Gewollten: nämlich den Ruf nach Patientenautonomie als Abwehrrecht gegen den Selbstlauf des medizinisch-technischen Apparats bis hin zur Forderung nach aktiver Sterbehilfe.

Mit der heutigen Tagung  wollen wir aus den Erfahrungen der Praxis heraus beleuchten, wie und in welchen Kontexten Patientenverfügungen zu einer guten und würdevollen Behandlung beitragen können. Dazu gehört die Vertrauensbildung zwischen Ärzten, Patienten und Angehörigen als Schlüsselkategorie für ein humanes Gesundheitswesens. Vertrauen entsteht aber nur, wenn der Wille der Patienten als Richtschnur für ärztliches Handeln respektiert wird.

In Situationen, in denen der Patient nicht mehr urteilsfähig ist, werden Entscheidungen von Ärzten und Angehörigen bzw. Bevollmächtigten für den Patienten getroffen. Besonders Angehörige erfahren dabei Entscheidungssituationen als höchst belastend, in denen ein Abwägen von Nutzen und Schaden einer potentiell lebenserhaltenden Maßnahme gefordert ist. Für sie, die oft bis zuletzt nicht loslassen können, kann die Patientenverfügung eine große Entlastung bei der Entscheidungsfindung bedeuten.

Anders bei den Ärzten, zu deren Profession das ständige Abwägen von Nutzen und Schaden medizinischer Handlungen gehört. Sie müssen ihre Empfehlungen und Handlungen in Einklang bringen mit ihrer Berufsethik, rechtlichen Anforderungen und mit dem voraus verfügten oder situativ geäußerten Willen des Patienten. Nicht aus jedem Eingreifenkönnen folgt auch das Eingreifenmüssen. Um noch einmal Dr. de Ridder zu zitieren: Aus der absoluten Verpflichtung des Arztes auf die Menschenwürde folgt eben nicht die Verpflichtung auf das Ausschöpfen aller medizinisch-technischen Möglichkeiten bis zum bitteren Ende. In Betracht kommen ebenso der Abbruch oder das Unterlassen einer kurativen Maßnahme sowie das Einleiten palliativer Maßnahmen mit dem geänderten Therapieziel eines Sterbenlassens in Würde.

Lahrer Kodex
Heute Vormittag wurde hier auf der Galerie der Heinrich-Böll-Stiftung der ärztliche Kodex „Patientenwille und menschliche Medizin im Dialog“ der Presse vorgestellt. Der Einladung, dieser Initiative des Herzzentrums Lahr als „Pate“ beizutreten und den Kodex zu unterstützen, ist die Heinrich-Böll-Stiftung sehr gerne nachgekommen. Wir sehen darin den Ausdruck eines gewandelten professionellen Selbstverständnisses der Ärzteschaft. Nicht zufällig greift der Kodex das Stichwort des Dialogs auf – jener persönlichsten Form der Kommunikation, die allein dem Grenzbereich von Leben und Tod angemessen ist. Wir sehen darin einen wichtigen Schritt in Richtung einer „sprechenden Medizin“, die den Patienten als mündiges  Subjekt ernst nimmt. Insofern schließt der „Lahrer Kodex“ an unser Engagement für eine Reform des Medizinstudiums im Allgemeinen und des Berliner Reformstudiengangs Medizin im Besonderen an.

Unser Dank gilt den ReferentInnen der Tagung und insbesondere den Vertretern des Herzzentrums Lahr für ihre Initiative und die gute Zusammenarbeit.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

Dieser Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz.